Wird die Sicherheit des Westens jetzt am Dnjepr verteidigt?

Seite 4: Die Herausforderungen der Bundeswehr

Seit Ende der 1960er Jahre haben alle Bundesregierungen gegenüber der Sowjetunion bzw. Russland eine Politik der Entspannung, Rüstungskontrolle und Zusammenarbeit betrieben und damit einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas geleistet.

Da sich die Bundesrepublik nach der Auflösung des Warschauer Pakts und der Sowjetunion ab 1991 "von Freunden umzingelt" sah (ehemaliger Verteidigungsminister Volker Rühe), wurde die Bundeswehr von 500.000 auf knapp 182.000 Mann abgebaut und von Landesund Bündnisverteidigung auf Kriseninterventionsfähigkeit umgestellt.

2011 wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Auch nach Russlands Annexion der Krim und seiner Intervention in der Ostukraine 2014 blieb Deutschland um stabile Arbeitsbeziehungen mit Russland bemüht. Ein nur etwas mehr als ein Jahr vor Russlands Angriffskrieg unter der Überschrift "Auf Russland zugehen" veröffentlichter Artikel des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Johann Wadephul illustriert, wie parteiübergreifend dieses Streben angelegt war.13

In Deutschland war die Bereitschaft zur Umsetzung des Nato-Zwei-Prozent-Aufrüstungsziels nur schwach ausgeprägt. Zwei Jahre vor dem Zieljahr 2024 lag der BIP-Anteil unter 1,5 Prozent und in der mittelfristigen Finanzplanung war kein nennenswerter Aufwuchs vorgesehen.

Der in Berlin bis zuletzt nicht für möglich gehaltene Angriff Russlands vom 24. Februar 2022 wurde zum Paulus-Moment. Drei Tage darauf vollzog Deutschland einen fundamentalen Kurswechsel: "Zeitenwende".

Kern der unter breiter Zustimmung im Deutschen Bundestag von Bundeskanzler Scholz vorgetragenen Schlussfolgerungen aus der von Russland zu verantwortenden "Zeitenwende" war die Feststellung, dass Sicherheit in Europa nicht mehr mit, sondern vor Russland herzustellen sei. Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit sollte daher wieder Hauptaufgabe der Bundeswehr werden.

Zu diesem Zweck soll sie mittels eines schuldenfinanzierten "Sondervermögens" von 100 Milliarden Euro und der Zusage, "von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung zu investieren", zügig wieder instandgesetzt werden.

Während sich die SPD mit dem abrupten Kurswechsel anfangs noch etwas schwer tat, wurde dieser von den von Haus aus pazifistischen Positionen zuneigenden Grünen nachdrücklich begrüßt, wohl auch unter dem Einfluss von Joschka Fischer, der sich von einer "von Russland ausgehenden dauerhaften Sicherheitsbedrohung für Europa" überzeugt zeigte und daher monierte, dass man sich "in Deutschland immer noch Illusionen über das Ausmaß von Rüstung, das künftig notwendig ist, macht".14

Viele hielten es auch für opportun, sich für eine im Nachhinein als blauäugig wahrgenommene Russland-Politik zu entschuldigen. Gleichzeitig schossen Behauptungen einer von Russland ausgehenden Bedrohung ins Kraut, zu deren Abwehr nicht einmal die Überlegenheit der Nato und deren Aufrüstung hinreichend schien.

Ein ehemaliger Generalinspekteur warf die Suggestivfrage auf, ob sich "Deutschland seinen Verzicht auf Nuklearwaffen dauerhaft leisten" könne.15

Der zur Profilierung der "Zeitenwende" ins Rennen geschickte neue Verteidigungsminister Pistorius dekretierte die Stationierung einer Kampfbrigade in Litauen und rüstete sprachlich massiv auf: Ein "Mentalitätswandel in der Gesellschaft" sei überfällig, da "wir uns wieder an den Gedanken gewöhnen müssen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte und das heißt: Wir müssen kriegstüchtig werden, wir müssen wehrhaft sein und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen".16

Bei der Vorstellung neuer "Verteidigungspolitischer Richtlinien" forderte die Führung des Verteidigungsministeriums in Ausübung "deutscher Führungsverantwortung" die Schaffung einer "kriegstüchtigen Bundeswehr" als "Rückgrat der Abschreckung und kollektiven Verteidigung in Europa".17

Die Frage steht im Raum, wie überhaupt zu erklären ist, dass die Bundeswehr mit einem Verteidigungshaushalt, der nach den USA, China, Russland, Indien, Großbritannien und Frankreich auf Platz sieben rangiert, "mehr oder weniger blank dasteht"?18

Viele – auch vom Bundesrechnungshof immer wieder monierte – Fälle eklatant unwirtschaftlichen Mitteleinsatzes vermitteln den Eindruck, dass das Hauptproblem nicht in einem Mangel finanzieller Mittel ("kaputt gespart"), sondern effektiver Mittelverwendung besteht.

Inzwischen wird dies offenbar auch in der Bundeswehr so gesehen, wenn der neue Generalinspekteur fordert, dass "Strukturen entschlackt und Prozesse beschleunigt werden müssen und die Zeitenwende nicht nur eine Frage des Haushalts" sei.19

Wenn schon die Stärkung der Einsatzfähigkeit der deutschen Streitkräfte das Ziel ist, läge vor dem leichten Ruf nach mehr Geld die Bearbeitung weiterer wichtiger Problemfelder nahe – von einer maßvollen Relativierung parlamentarisch mandatierten Streitkräfteeinsatzes über den Abbau von Einsatzrestriktionen ("Caveats") bis zum wohl einmalig weitreichenden Befehlsverweigerungsrecht.

Immerhin scheint im Jahr 2023, in dem der Verteidigungshaushalt 50 Milliarden Euro erreicht hat und unter Anrechnung aus dem Sondervermögen eingesetzter Mittel das Zwei-Prozent-Ziel erreicht werden soll, die Talsohle durchschritten, wenn Verteidigungsminister Pistorius feststellt20:

Wir sind heute schon, auch wenn das manche nicht glauben wollen, eine der stärksten Streitkräfte innerhalb der Nato in Europa.

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