Zeitenwende: Gesellschaft im dreifachen Umbruch

Kalender, Lupe

Epochenbruch, Gesellschaftswandel und Weltordnungswechsel prägen unsere Zeit. Ein dreifacher Umbruch erschüttert die Welt. Was bedeutet das für uns? (Teil 1)

Die Frage nach der Situation der Zeit und der Gesellschaft haben sich Menschen – zumindest seit Herausbildung der Moderne – immer wieder gestellt. Und gesellschaftliche Zustände zu bearbeiten, zu beschreiben, zu diskutieren ist seit langem Anliegen verschiedener Zünfte – von Literaten, Journalisten, Künstlern und nicht zuletzt von Soziologen und Philosophen.

Die Frage nach Zeit und Gesellschaft stellt sich heute drängender denn je. Denn diese unsere Zeit ist charakterisiert durch einen Umbruch der Epoche, der Gesellschaft, der Weltordnung. Und angesichts sich zuspitzender Konflikte, Krisen und Kriege nehmen Verunsicherung und Ängste in der Bevölkerung zu.

Der individuelle und gesellschaftliche Bedarf an Zeitdiagnosen ist enorm gewachsen. Aber eine öffentliche gesellschaftliche, unvoreingenommene und aufklärende Debatte findet gegenwärtig zu selten und meist nur vereinzelt statt.

Von der Theorie zur Realität: Ansätze moderner Zeitdiagnosen

Bei Zeitdiagnosen geht es um den Versuch, wie Hegel es formulierte, "Die Zeichen der Zeit" zu verstehen und auf den Punkt zu bringen. Angesichts eines komplexen und widerspruchsvollen Geschehens sicher eine nicht leichte, aber doch drängende Herausforderung.

Ausgangspunkt für Zeitdiagnosen sollte nicht zuerst die Theorie, sondern die Realität im nationalen und globalen Rahmen sein. Denn Zeitdiagnosen versuchen den Zustand der Gesellschaft, den kritischen Punkt und möglichen historischen Bruch zu erfassen. Zeitdiagnosen liegen auch unterschiedliche Perspektiven zugrunde – sozialökonomische (Wandel von Ökonomie und Politik), sozialstrukturelle (Wandel der Klassen- und Sozialstruktur), soziokulturelle (Wandel der Werte und Einstellungen) oder wie in unserem Fall sozial-ökologische, d. h. Wandel der Produktions- und Lebensweise.

Bei Letzterem geht es um die zentrale Herausforderung unserer Zeit, um den bis heute entscheidenden Transformations- und Gesellschaftskonflikt, der alle Bereiche unserer Arbeit und unseres Lebens durchdringt, geht es um die gesellschaftliche Auseinandersetzung, die über die Entwicklung und Zukunft unserer Gesellschaft entscheidet.

Was jedoch auch immer sichtbarer wird, ist, dass im Zusammenhang mit dem sozialökologischen Konflikt der Migrationskonflikt und der globale Konfrontationskonflikt eine zunehmende Bedeutung erlangen. Auch das wird die Prioritäten von Zeitdiagnosen verändern.

Will man eine aktuelle Zeitdiagnose erstellen, sollte die lange und anregende Tradition soziologischer Zeitdiagnosen nicht fehlen. Hier freilich muss ein knapper Rückblick genügen.

Von Marx bis Weber: Wegbereiter moderner Gesellschaftsanalysen

Das gilt für die Marxsche "Kapital-Analyse", Tocquevilles Verständnis von "Demokratie als moderne Lebensform" wie Max Webers Credo "Ambivalenzen der Moderne und autonome Lebensführung" (vgl. dazu H.-P. Müller 2021). Mit "Kapitalismus", "Demokratie" und "Selbstentfaltungswerte" wurden damit Markenzeichen der neuen Zeit, der Moderne gesetzt.

Auch das 20. Jahrhundert war geprägt durch die Erarbeitung und Diskussion unterschiedlicher soziologischer Zeitdiagnosen. So verfasste Jürgen Habermas im Jahr 1979 mit "Stichworte zur geistigen Situation der Zeit" gemeinsam mit renommierten Wissenschaftlern, Publizisten, Schriftstellern jener Zeit, "eine", wie er selbst definierte, "Zeitdiagnose aus linksintellektueller Sicht". Er diagnostizierte hierin das "Ende der sozialliberalen Reformperiode", eine stattfindende "Tendenzwende", "eine marktliberale Wende".

Es ist die Zeit eines historischen Übergangs, die wir heute als Ende des "Fordismus" und des Übergangs zum "Neoliberalismus" charakterisieren. Vor allem der Wandel der Leitideen und des Zeitgeistes werden in den beiden "Stichworte"-Bänden (rd. 800 Seiten) genau beschrieben. Der große Philosoph verstand sich eben immer auch – und das bis heute – als ein "öffentlicher Intellektueller", deren Zunft "die dumpfe Aktualität bewusst zu machen hat" (S.9).

Habermas‘ Zeitdiagnose von 1979 deutete etwas an, was dann Ulrich Beck in seiner 1986 erschienenen "Risikogesellschaft" zu einer weiterführenden soziologischen Zeitdiagnose entwickelte. Ist für ihn die Industriegesellschaft Kennzeichen der ersten Moderne, so hat sich diese ungewollt durch die latenten Nebenfolgen der Modernisierungsdynamik in eine Risikogesellschaft, ja Weltrisikogesellschaft verwandelt – ein Kennzeichen der zweiten Moderne.

Er verweist auf die ökologischen Gefährdungen, die Naturzerstörungen, die akute Reaktorunsicherheit (noch vor Tschernobyl), die zunehmenden Gesundheitsrisiken. Der gesellschaftliche Zustand sei charakterisiert durch "keine Sicherheit auf Zeit mehr". Und der frühere "Fahrstuhleffekt nach oben" wirke nicht mehr. Das Ganze erfordere eine "Neuerfindung des Politischen" in Gestalt einer aktiven, mündigen Bürgergesellschaft (Beck 1993). Beck wurde damit zu einem Vordenker des Projekts der "Nachhaltigkeit", der "Sozialökologischen Transformation".

Nun wissen wir im Rückblick, dass der im damaligen Diskurs (Club of Rome "Grenzen des Wachstums" 1972; Beck 1986, 1989; Brundtlands UN-Bericht zur "Nachhaltigkeit" 1987) und auch in der Gesellschaft thematisierte Übergang zu einer Nachhaltigkeits-Transformation sich nicht vollzog, sondern im Gegenteil eine marktliberale Gesellschaftsform, ein finanzmarktgetriebener Entwicklungspfad (Neoliberalismus) sich durchsetzte. Zunächst im Westen, dann global und nach 1989 auch im Osten.

Diese neoliberale Transformation mit ihren spezifischen Akkumulations- und Regulationsregime bestimmte bis in die jüngste Vergangenheit den historischen Entwicklungsweg national und global.

Die Suche nach einer neuen Zeit- und Gesellschaftsdiagnose

Ein solcher Suchprozess erfordert zunächst zu fragen, was an Erkenntnissen liegt vor? In den 2000er Jahren entstand in der Tat ein breites Feld ambitionierter gesellschaftsanalytischer, -kritischer sowie -theoretischer Arbeiten.

Es geht darin nicht vordergründig um Zeitdiagnosen im oben genannten Sinne. Aber ohne sie, ihre Kenntnis, lassen sich diese nur schwer erarbeiten. Ihr gemeinsamer Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt ist in dieser oder jener Form die neuartige Krisen- und Konfliktsituation mit ihren Folgen für die Gesellschaft. Hierbei werden jeweils unterschiedliche konstitutive Prinzipien der Gesellschaftsbeschreibung in den Mittelpunkt gestellt.

So das Prinzip der "Modernistischen Dynamisierung und Beschleunigung" (Hartmut Rosa 2005, 2016), der "Sozialen Ungleichheiten und Spaltungen" (Thomas Piketty 2014, 2022), der "Singularitäten" (Andreas Reckwitz 2017), der "Anpassung" (Phillip Stab 2022), der "Resilienz" (Jeremy Rifkin 2022), des "Abstiegs" (Oliver Nachtwey 2016), des "Gesellschaftlichen Nervenzusammenbruchs" (Stephan Lessenich 2022).

Meiner Suche nach einer neuen Zeit- und Gesellschaftsdiagnose liegt zunächst ein spezifisches Zeitmodell zugrunde, ein doppelter Zeitbegriff. Zum einen: Zeit als historische Umbruchszeit, als Übergang zu einer neuen sozialen Formation. Zum anderen: Zeit als Wechsel sozioökonomischer und soziopolitischer Entwicklungszyklen innerhalb einer Gesellschaftsformation. Ein solches Zeitmodell ermöglicht den Zugang sowohl zum Verständnis des Geschichtsprozesses als auch der heutigen Zeit.

Zeit historischen Umbruchs

Die heutige Zeit, die heutige Gesellschaft sind m. E. mit "Zeit historischen Umbruchs" und mit "Umbruch-Gesellschaft" am adäquatesten zu analysieren und zu deuten. Es geht in dieser neuen historischen Epoche des 21. Jahrhunderts nicht mehr nur um innersystemische Spannungen, Konflikte, sondern es geht um ein neues, zukunftsträchtiges wirtschaftliches, soziales, kulturelles Entwicklungsmodell. In diesem Sinne ist Umbruch der kritische Punkt zeitdiagnostischer Analysen, das allgemeine, übergreifende und alles bestimmende Merkmal zur Erfassung dieser heutigen Zeit, dieser heutigen Gesellschaft.

In dieser Sichtweise verschränken sich zwei miteinander verbundene Perspektiven: die entwicklungstheoretische Perspektive des Übergangs und Umbruchs und die praxistheoretische Perspektive des Möglichen und Unmöglichen. Mithin die Wechselwirkung von System- und Handlungszusammenhängen (vgl. auch Institut für Sozialforschung/Perspektiven [IfS] Frankfurt a. Main 2024).

Betrachtet man diese heutige Zeit und die Gegenwartsgesellschaften, so offenbart sich ein dreifacher Umbruchprozess: die historische Epoche, die nationalen Gesellschaften und die bestehende Weltordnung betreffend.

Das Spezifische dieser gegenwärtigen Zeit ist – wie noch zu zeigen sein wird – die Verschränktheit, ja das faktische Zusammenfallen von Epochen- bzw. Modernebruch, mit dem Wechsel spezifischer innersystemischer sozioökonomischer und soziopolitischer Entwicklungszyklen und mit einem grundlegenden Umbruch der bislang dominierenden unipolaren Weltordnung.

Der Kristallisationspunkt dieser Widerspruchs- und Umbruchskonstellation ist dabei der Umbruch der globalen Welt, der alle Bereiche der Gesellschaft und des Lebens erfasst. Es ist ein historischer, evolutionärer Epochenbruch, -wechsel, der auf einen grundlegenden Wandel im Verhältnis von Mensch-Natur-Produktion basiert. Unsere Gegenwart hat ihren Anfang in der fossilen Revolution, und deren Anfang ist nach über 500-jähriger Entwicklung nun an einen Wendepunkt gekommen.

Nach der Neolithischen Revolution (Übergang von der Jäger- und Sammlergesellschaft zur Agrargesellschaft) und der Industriellen Revolution (Übergang zur Industriegesellschaft) geht es jetzt um eine dritte große Transformation der Menschheitsgeschichte, um einen fundamentalen Wandel der bislang dominierenden Produktions- und Lebensweise. Dieser ist in der Literatur umfassend beschrieben (u. a. Schneidewind [Hg.] 2018; Reißig 2009, 2019) und soll hier allein mit "postfossiler", "nachhaltiger", "gemeinwohlorientierter" und "friedvoller" Entwicklung benannt werden. Es handelt sich hierbei um Erfordernisse einer globalen Transformation, wie sie die Weltgemeinschaft (193 Staaten, 2015) mit der UN-Agenda 2030 und ihren 17 Nachhaltigkeitszielen überzeugend beschrieben hat.

Es geht gerade auch für die Gesellschaften westlichen Typs um Herausforderungen, mit denen sie in dieser Art und Weise noch nie zu tun hatten; zumal dies zugleich mit einer "Produktivkraft-Revolution" (Digitalisierung, Kybernetik, KI) verbunden ist. Die Rede von einer "Zeit historischen Umbruchs" und einer "Umbruch-Gesellschaft" ist deshalb nicht die Fixierung subjektiver Zustände, sondern widerspiegelt die Eigenlogik epochaler und zeithistorischer Entwicklungsverläufe.