Zerbricht Europa an der Krise?

Seite 3: Grenzen der Krisenpolitik

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Dabei sind die effektiven Mittel, die der europäischen Krisenpolitik zur Verfügung stehen, ohnehin arg limitiert. Eine Lösung der kapitalistischen Systemkrise ist der Politik nicht möglich, sie kann aber den Krisenverlauf verzögern.

Hierzu ist ein adäquates Verständnis des Charakters der derzeitigen Systemkrise notwendig, das jenseits populistischer Sündenbocksuche (faule Griechen, gierige Banker, Juden, Marsmenschen) die Gründe der Krise des Kapitalismus zur Abwechslung in den Widersprüchen des kapitalistischen System verortet. Der Kapitalismus ist deswegen "defizitär" und nur noch vermittels ausufernder Verschuldung als globales System aufrecht zu erhalten, weil er gewissermaßen an seinem eigenen "Erfolg", an seiner eigenen Produktivität zugrunde geht (Krisenmythos Griechenland). Die immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung führt seit der Mikroelektronischen Revolution der 80er und 90er Jahre dazu, dass immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden können. Neue Industriezweige in der Mikroelektronik und die Informationstechnik beschleunigen diese Tendenz. Diese neuen Technologien schaffen weitaus weniger neue Arbeitsplätze, als durch deren gesamtwirtschaftliche Anwendung wegrationalisiert wurden. Das System stößt an eine "innere Schranke" (Robert Kurz) seiner Entwicklungsfähigkeit.

Das an seiner Hyperproduktivität krankende System kann nur durch die zusätzliche kreditfinanzierte Nachfrage – durch Schulden – vor dem Kollaps bewahrt werden. Sobald die - private oder staatliche - schuldengenerierte Nachfrage wegbricht, setzt eine verhängnisvolle, sich selbst verstärkende Abwärtsspirale ein, in der Überproduktion zu Massenentlassungen führt, die wiederum die Nachfrage senken und weitere Entlassungswellen nach sich ziehen. Dies geschah nach dem Platzen der Immobilienblasen im Jahr 2008, bis die Staaten eingriffen und die Defizitfinanzierung des Kapitalismus mittels staatlicher Defizitbildung übernahmen. Fakt ist somit auch: Bevor die Staaten seit Krisenausbruch mit ihren kreditfinanzierten Konjunkturprogrammen das System am Laufen hielten, taten dies jahrzehntelang die wucherungsartig expandierenden Finanzmärkte - bis zum Platzen dieser "globalen Kreditblase", wie es Paul Krugman formulierte.

Die politische Klasse kann einzig versuchen, diese schuldenfinanzierte Massennachfrage möglichst lange aufrecht zu erhalten, um einen Wirtschaftseinbruch möglichst lange hinauszuzögern. Dem stotternden kapitalistischen Konjunkturmotor muss permanent neue kreditfinanzierte Nachfrage zugeführt werden, da er ansonsten erlöscht. Insofern kann tatsächlich durch Konjunkturprogramme oder den massenhaften Aufkauf von Staatsanleihen (also durch Gelddrucken) der volle Krisenausbruch eine Zeit lang verhindert werden. Implizit hat dies ja US-Finanzminister Geithner bei seiner Initiative in Worclaw auch eingestanden, während die Europäer – angeführt von Berlin – sich diesen Einsichten verweigern und vermittels drakonischer Sparprogramme die Krise vertiefen. Nochmals: Die Politik ist nur in der Lage, den kommenden wirtschaftlichen Zusammenbruch durch weitergehende Verschuldung möglichst lange zu verzögern.

In der EU wird dieser Streit zwischen den Befürwortern weiterer Verschuldung und den knallharten Haushaltssanierern durch die divergierenden Interessen der einzelnen Länder und die damit einhergehenden gegenläufigen Tendenzen zur Verstärkung oder Lockerung der europäischen Integration verstärkt. Deutschland will nach Möglichkeit die gesamte EU zur Sparpolitik zwingen, ohne weitere Verpflichtungen eingehen zu müssen - während die südeuropäische Initiativen zur Einführung von Eurobonds oder die Aufkäufe von Staatsanleihen durch die EZB den Prozess der Verschuldung verlängern würden. Mit den Forderungen nach immer weiteren Sparpaketen in Europa legt Berlin somit seine eigenen Absatzmärkte trocken. Die Folgen eines Auseinanderbrechens der Eurozone für die deutsche Exportwirtschaft schilderte etwa die Financial Times zutreffend:

Die Menschen in Deutschland sollten darüber aufgeklärt werden, dass die Folgen [eines Ausscheidens Deutschlands aus der EU, T.K.] einen ansteigenden Wechselkurs, einen massive Verringerung der Profitabilität der deutschen Exporte, einen enormen finanziellen Schock und einen scharfen Abfall des Bruttoinlandsprodukts mit sich brächten.

Dennoch können weder eine zunehmende europäische Integration – die tatsächlich zumindest zeitweilig eine Milderung des Krisenverlaufs mit sich brächte - noch eine von vielen Reaktionären erträume Rückkehr zum Nationalstaat die derzeitige Krise lösen, die auch eine Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft ist. Der Kollaps des europäischen Währungsraumes brächte nur sofort die zerstörerische Dynamik eines enormen Wirtschaftseinbruchs insbesondere über die exportorientierten Volkswirtschaften der Eurozone.