Von Wahrheit und Lüge

Die US-Regierung ist verstrickt in einer schwierigen Argumentation und Beweisführung - Ausflüge in Sophismen und Denunzierungen des "alten Europas" sind an der Tagesordnung

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Die US-Regierung ist in einen interessanten Diskurs eingetreten, seitdem sie Saddam Hussein beschuldigt hat, das Vorhandensein von Massenvernichtungswaffen oder Programmen, diese zu entwickeln, zu verbergen. Lug und Trug seien bei dem Bösen aus dem orientalischen Land stets zu erwarten und mit Wahrheit nicht zu rechnen. Manche Skeptiker beispielsweise aus dem "alten Europa" (Rumsfeld) wollen hingegen nicht gleich in den Krieg ziehen, weil die bislang fehlenden Beweise für sie noch kein Indiz für den Schwindel des Irak-Regimes sind. Die Lage wird komplex, womöglich wächst Europa mit der kritischen Distanz zu den USA. Erst einmal aber geht es in der Politik bei der Entscheidung über Krieg und Frieden auch um Wahrheit und Lüge, wenn die US-Regierung nicht noch im letzten Augenblick einen überprüfbaren Beweis für eine schwerwiegende Verletzung der Resolution - für einen "rauchenden Colt" - vorlegt. Mit Überraschungen muss gerechnet werden, nicht umsonst hat das Weiße Haus neben Geheimdiensten jetzt auch eine eigene Werbeagentur oder Propagandaabteilung.

Das alte Europa

Interessant wird natürlich auch werden, ob und wie sich die "Achse des alten Europas", vereint mit Russland und China, herausreden wird, wenn die Entscheidung im Sicherheitsrat ansteht oder die militärische Intervention beginnt. Sollte Bush ohne eine UN-Resolution oder ohne Zustimmung des Sicherheitsrats losschlagen, so wäre gleichzeitig auch das Ansehen der UN schwer geschädigt. Würden die Mitglieder des Sicherheitsrates aber bei mangelnder Beweislage einem militärischen Schlag zustimmen, wäre auch nur wieder einmal klar, dass nicht internationale Abkommen oder internationales Recht zählt, sondern nur Macht. Eine Stimmenthaltung ist keine Lösung. Eine fatale Situation also, die eigentlich fast nur schlecht ausgehen kann.

Auch wenn die Worte von keinen der vielen Parteien, die im Augenblick an den argumentativen Stricken ziehen, um die Situation in ihrem Sinn zu interpretieren, später noch eine große Bedeutung besitzen dürften, auch wenn sie sich als falsch herausstellen, so spielen sie doch bei der Suche nach Rückhalt im Ausland und Inland über die Vermittlung der Medien eine wichtige Rolle. Schließlich will keiner als "Schurke" sich zu erkennen geben, auch nicht wahrhafte Schurken und Despoten wie Hussein, selbst wenn niemand ihren Äußerungen glaubt.

Auch im Weißen Haus nimmt man das Gespinst der Diskurse zur Herstellung von Sacherverhalten ernst. Gerade erst hat das neu eingerichtete "Office of Global Communications", das unter dem Zeichen der Wahrheit, aber mit besserer Verpackung als bislang die Bush-Politik der Weltöffentlichkeit näher bringen soll, einen Bericht über den "Lügenapparat" des Irak-Regimes vorgelegt. Schon vor dem neuen Propagandabüro hatte das Weiße Haus im September 2002 den Bericht "A Decade of Deception and Defiance" vorgelegt, in dem es um die Verletzungen der UN-Resolutionen ging. Auch ansonsten wird man nicht müde, stets auf die Taktik des Regimes hinzuweisen, das ein raffiniertes Spiel des Hinauszögerns, Versteckens, Vertuschens, Lügens und Täuschens inszeniere. Das aber soll im Umkehrschluss wohl bedeuten, dass just diese Praktiken, die dem Gegner vorgeworfen werden, selbst nicht eingesetzt werden.

"Die Bedrohung, die durch die Verbindung zwischen Terrornetzwerken und Staaten entsteht, die Massenvernichtungswaffen besitzen, konfrontiert uns mit der Gefahr einer Katastrophe, die um Größenordnungen größer sein kann als die vom 11. Septmber. Iraks Waffen des Massenterrors und die Terrornetzwerke, die mit dem irakischen Regime verbunden sind, sind keine unabhängigen Bedrohungen, sie sind Teil derselben Bedrohung. Die Entwaffnung Iraks und der Krieg gegen den Terror sind nicht nur verbunden. Die Entwaffnung Iraks von seinen chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen und die Abrüstung seines Programms zur Entwicklung von Atomwaffen ist ein entscheidender Teil zum Sieg im Krieg gegen den Terror." - Vizeverteidigungsminister Wolfowitz am 23.1.2003

Gulf War 2 (aka World War 2.5). In dem interaktiven Comic passiert allerhand Störendes: "This is a projection of the most likely outcome of a new war in the Gulf. I used sophisticated temporal algorithms and historical semiotic analysis to achieve an accuracy rating of 99.999%. It's the mother of all Flash games."

Die US-Regierung, die sich auf die Entlarvung des Lügenregimes stützt, sieht sich dennoch gezwungen, auch selbst auf Lügen, Gerüchte, Verdrehungen, Halbwahrheiten und Vorspiegelungen zurückzugreifen. Dass der Irak die USA unmittelbar bedroht, ist Humbug. Wenn es lediglich darum ginge, tatsächlich eine Entwaffnung durchzuführen oder zu überprüfen, dass diese geschehen ist, dann würde sich das Problem stellen, dass dies konsequent durchgeführt wird. Schließlich könnten auch oder gerade bei einem Sturz Husseins etwaig vorhandene Massenvernichtungswaffen in die Hände von treuen Regimeanhängern, die in der Untergrund gehen, von Terroristen oder auch nur von Geschäftemachern gelangen. Selbst wenn es Bush und seinen Falken ganz aufrichtig um den Sturz einer Diktatur und die Schaffung einer wirklich unabhängigen Demokratie ginge, darf dies nur eine sekundierende Rolle spielen. Das wäre - mit allen noblen Absichten - weder von den Resolutionen noch vom Völkerrecht gedeckt und brächte - wie bereits durch Nordkoreas Vorpreschen geschehen - einen Rattenschwanz an Fragen auf, warum gerade jetzt das Regime im Irak gestürzt werden muss oder wer die Rolle des "guten" Weltpolizisten spielen darf.

Philosophie ist gefragt: Rumsfeld und der Gottesbeweis

Aus allen diesen Gründen muss die US-Regierung, falls kein für alle überzeugender Beweis auftaucht, mit der Wahrheit vorsichtig umgehen, um es gelinde zu sagen. Das liegt übrigens auch der neuen Sicherheitsstrategie zugrunde, die explizit Präventivschläge als Mittel sanktioniert. Die Deutung drohender künftiger Gefahren dürfte stets unauflösbar in ein Geflecht von Vermutungen, Wahrscheinlichkeiten, Vorurteilen, Interessen etc. eingebettet sein, weswegen auch in einem Rechtsstaat weitgehend das Prinzip gilt, dass nicht Absichten, sondern begangene Straftaten geahndet werden, die man einem Menschen in einem fairen Prozess nachweisen kann.

Was ist ein Beweis?

Es geht im Kern um den Nachweis, ob der Irak eine schwerwiegende Verletzung der Resolution begangen hat. Eigentlich, so sollte man denken, ist alles kein Problem. Der Irak hat die Resolution 1441 des Sicherheitsrats akzeptiert, das verlangte Dossier vorgelegt und den Waffeninspektoren einen ungehinderten Zugang zu allen Orten gewährt. Mehrmals wurde von Mitgliedern des irakischen Regimes versichert, dass es keine Massenvernichtungswaffen mehr gibt. Die Richtigkeit und Vollständigkeit des Dossiers sowie die Einlösung der Verpflichtung zu überprüfen, Massenvernichtungswaffen und Langstreckenraketen abzurüsten, ist Aufgabe der unabhängigen Inspektoren. Sollten sie einen Beweis dafür finden, dass das Irak-Regime die Verpflichtungen nicht eingehalten hat, so liegt eine Verletzung vor. Der Sicherheitsrat muss dann entscheiden, welche Maßnahmen dann als Reaktion ergriffen werden. Von einem "Regimewechsel" ist in der Resolution allerdings gar keine Rede, vielmehr wird ausdrücklich versichert, dass die Souveränität und Integrität des Irak gewahrt würden.

Auch nachdem sich Präsident Bush im letzten Jahr davon überzeugen ließ, die UN überhaupt einzuschalten, sollte diese seiner Politik lediglich die gewünschte Legitimation bieten und für den Rückhalt im Kongress, der eigenen Bevölkerung und der Alliierten sorgen. Folgt die UN den Interessen der USA nicht, wie Bush drohte, so habe sich ihre Bedeutung erledigt. Für die USA selbst, das hatte Bush von vorneherein klar gemacht und auch im US-Kongress durchgesetzt, spielt die UN keine Rolle, schließlich hat er sich die Möglichkeit stets frei gehalten, auch ohne Legitimation durch den Sicherheitsrat militärisch zu intervenieren. Gleichwohl ist damit neben der Machtfrage und der ursprünglichen Legitimation, dass der Irak wegen seines Besitzes von Massenvernichtungswaffen und seiner Unterstützung des Terrorismus eine Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA darstellt, die das Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch nimmt, sofort das Problem aufgetreten, wie man sich verhalten soll, wenn die Waffeninspekteuren keinen Beweis für eine schwerwiegende, einen Militärschlag rechtfertigende Verletzung der Resolution entdecken.

Schon von Beginn an wurden strategisch ausgesäte Zweifel am Willen der Inspekteure geäußert, ergänzt durch die Behauptung, dass sich in einem solch großen Land Massenvernichtungswaffen samt Produktionsanlagen oder Labors verstecken ließen, ohne dass die Inspekteure eine Chance hätten, sie zu finden. Man sprach von mobilen Labors und anderen Tricks. Gerade wird einmal wieder versucht, eine Verbindung zwischen al-Qaida mit dem Irak-Regime zu konstruieren. So soll der Jordanier Abu Mussab al Zarqawi, der den Mordanschlag in Amman auf einen US-Diplomaten im Oktober geplant haben soll, nicht nur mit den in Großbritannien wegen Rizin-Besitzes Festgenommenen Kontakt gehabt haben, sondern nach der Flucht aus Afghanistan über den Iran in den Nordirak gereist sein. Dort operiert die al-Qaida zugeordnete Gruppe Ansar al-Islam, die gegen die Kurden kämpft, aber wohl kaum mit dem Hussein-Regime verbündet ist, das diese Region sowieso nicht mehr kontrollieren kann. Aber manchmal reicht eben auch die Behauptung, dass möglicherweise ein al-Qaida-Mitglied im Irak war, für die Unterstellung aus, dass damit auch die irakische Regierung Verbindungen mit al-Qaida hat.

Nicht viel anders sieht es bislang mit den Beweisen dafür aus, dass der Irak noch Massenvernichtungswaffen besitzt. Die bislang vorgelegten Hinweise reichen dafür nicht aus, Geheimdienstinformationen, die vorliegen sollen, sind aber solange geheim, bis sie den Inspekteuren übermittelt werden, die sie dann schnell überprüfen könnten. Die US-Regierung hat nicht nur Vermutungen geäußert, dass der Irak nicht wirklich abgerüstet hat, sondern dies stets als Tatsache behauptet. Daher müssen die Waffeninspektionen nach amerikanischer Lesart auch nicht fortgesetzt werden und ist es nicht verwunderlich, dass (noch) nichts gefunden wird. Saddam "treibt ein Versteckspiel in einem riesigen Land", so Bush eben in einer Rede, er ist ein "gefährlicher Mann mit gefährlichen Waffen", er hat "12.000 Seiten Lug und Trug dem UN-Sicherheitsrat" vorgelegt, er ist an "Täuschungen, Verzögerungen und Verbergen" gewöhnt.

Warum wir wissen, dass der Irak lügt

Außenminister Powell betont ebenfalls, dass "die Inspektionen nicht funktionieren werden ... Wie lange sollen die Inspektionen noch gehen? Einen, zwei, drei Monate? Was macht das für einen Unterschied, wen sie nur versuchen, Zeit zu schinden, um den Zweck der Inspektion vergeblich erscheinen zu lassen?" Auch Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice stimmt ins Konzert mit ein, nachdem man unisono allseits verkündet hat: "Time is running out." In einem Gastkommentar in der New York Times, der später auch auf der Website des Weißen Hauses veröffentlich und mit einem erläuternden Text Wie sieht eine Abrüstung aus? ergänzt wurde, macht sie sich anheischig zu erläutern: Warum wir wissen, dass der Irak lügt.

Dass das irakische Regime viel getrickst und geschwindelt hat, ist bekannt. Offenbar wurden für das Dossier auch einfach alte Dokumente noch einmal kopiert, aber nicht geklärt, wo manche der einst vorhandenen Waffen sich befinden oder wie sie zerstört wurden. Allerdings wird dann auch von manchen Dingen geredet, deren Wahrheitsgrad nahe an dem eines Gerüchts liegt. So sollen Flüchtlinge von vielen Verstecken für biologische Waffen in Seen oder Flüssen, Privathäusern, Moscheen oder Krankenhäusern berichtet haben. In dem Zusammenhang wird dann auch auf Dokumente über das Atomwaffenprogramm aus den 80er Jahren verwiesen, die man im Haus eines Wissenschaftlers gefunden hat, deren Aussagekraft aber nicht weiter erläutert wird. Und wenn es sich um glaubhafte Berichte über Waffenverstecke handelt, warum wurden diese Informationen dann nicht den Inspektoren weiter gereicht?

Vizeverteidigungsminister Wolfowitz sekundiert bei der Wiederholung der entwickelten Argumentationslinie, die darauf hinausläuft, dass Waffeninspektionen eigentlich keine Bedeutung haben können:

"It is not the job of inspectors to disarm Iraq; it is Iraq's responsibility to disarm itself. What inspectors can do is confirm that a country has willingly disarmed and provided verifiable evidence that it has done so. If a government is unwilling to disarm itself, it would be unreasonable to expect inspectors to do it for them. They cannot be charged with a "search and destroy" mission to uncover so-called "smoking guns"-especially not if the host government is intent on hiding them and impeding the inspectors' every move. Inspectors cannot verify the destruction of weapons materials if there are no credible records of their disposition."

Rice liegt freilich schon im Widersprich mit Hans Blix, dem Leiter der Waffeninspektionen, wenn sie sagt, ohne einen konkreten Vorfall zu nennen, dass der Irak den Inspekteuren keinen ungehinderten Zutritt gewähre. Blix betonte am Mittwoch zwar auch, dass der Irak nicht aktiv bei der Verifizierung mithelfe, aber erwähnt explizit, dass die Inspekteure bislang noch nicht behindert worden seien.

"Besonders beunruhigend" seien die 12 leeren Sprengköpfe, sagt Rice weiter, die unlängst entdeckt wurden, aber nicht im Dossier erwähnt worden seien. Noch haben die Inspektoren nicht mitgeteilt, ob diese Sprengköpfe tatsächlich einmal chemische Waffen enthalten haben. Rice argumentiert etwas vorsichtiger als ihr Chef Bush und verweist darauf, ohne sich um weitere Details zu kümmern, dass solche Sprengköpfe mit Sarin oder gar mit VX gefüllt worden seien. Bush fackelt hier nicht lange herum, sondern spricht gleich von "chemischen Sprengköpfen":

"Wir dürfen uns nicht durch die Mittel der Vergangenheit täuschen lassen. Schließlich haben wir gerade nicht deklarierte chemische Sprengköpfe im Irak entdeckt. Das ist unglaublich beunruhigend ... das ist der Beweis, dass ein Mann sich nicht entwaffnet."

Warum die US-Regierung weiß, dass Saddam lügt, läuft nach den Ausführungen von Rice, die vermutlich zu einer Argumentationslinie der Regierung werden dürften, darauf hinaus, dass Länder, die "freiwillig" abrüsten wollen, sich anders verhalten. Sie verweist auf Südafrika, Kasachstan und die Ukraine, die dabei einen hohen Grad an Kooperation gezeigt hätten. So habe Kasachstan Nuklearsprengköpfe nach Russland gebracht und auf eine Tonne hoch angereichertes Uran hingewiesen. Letztlich "lügt" der Irak, weil er nicht so aktiv mit den Inspektoren zusammen arbeitet. Abgesehen von den 12 leeren Sprengköpfen gibt Rice aber keinen aktuellen Beweis für eine Lüge, sondern nur Lücken im Dossier, die natürlich von der Nichtkooperation des Irak Zeugnis ablegen:

"Viele Fragen bleiben über Iraks nukleares, chemisches und biologisches Waffenprogram und -arsenal - und es ist die Verpflichtung Iraks, Antworten zu geben. Das macht er auf spektakuläre Weise nicht. Sowohl durch seine Aktionen als durch seine Nichthandeln beweist der Irak, das er eine Nation ist, die sich nicht zur Abrüstung verpflichtet, sondern dass er eine Nation ist, die etwas zu verbergen hat. Der Irak behandelt die Inspektionen noch immer als Spiel. Er sollte wissen, dass die Zeit ausgeht."

Wenn mithin die US-Regierung nicht noch einen Beweis hervorzaubert, um die Situation zu wenden, und wenn Blix am Montag keine ausreichenden Hinweise gibt, aus denen sich eine schwerwiegende Verletzung der Resolution ableiten lässt, bliebe Bush für seine State-of-the-Union-Rede am nächsten Tag, in der er wohl seine Entscheidung kund tun wird, nur die Beweisführung, dass gerade fehlende Beweise und überdies die mangelnde Kooperation das Vorhandensein von Massenvernichtungswaffen belegen. Ob das der Wahrheitsliebe verpflichtet wäre, müssen dann alle anderen entscheiden. Und Ari Fleischer machte schon einmal deutlich - oder droht damit? -, dass Bush möglicherweise auch keine Rücksicht auf die Haltung der amerikanischen Bürger nehmen könnte:

"If, in the president's judgement, force had to be used to protect the American people, and that had virtually no support by the American people, or it had unanimous support by the American people, the president would not be guided by what the polls said. He would be guided by what he, in his role as commander-in-chief, believes is necessary to protect the country."