Nahost-Konflikt und der Westen: "… dann müssten wir Israel wie Russland sanktionieren"

"Sicherheitsmauer" Israels im Westjordanland. Bild: Tupungato, Shutterstock.com

Der Jurist Kai Ambos zu den Verfahren gegen Israel vor dem IGH. Über die Macht des Völkerrechtes. Und über Glaubwürdigkeit. (Teil 2 und Schluss)

Dietmar Ringel (li.) ist Journalist, Reporter und Moderator. Kai Ambos (re.) ist Hochschullehrer und Richter.

Im ersten Teil dieses Telepolis-Podcasts diskutieren Dietmar Ringel und Professor Kai Ambos die Frage, ob die Situation in den palästinensischen Gebieten als Apartheid bezeichnet werden kann. Ambos betont, dass der Begriff Apartheid politisch und populistisch verformt wird und strikt auf den Rechtsbegriff der Apartheid-Konvention von 1973 bezogen werden sollte.

Er analysiert die Situation der Palästinenser anhand von drei Merkmalen der Apartheid: unmenschliche Handlungen, ein institutionalisiertes Unterdrückungssystem einer rassischen Gruppe über eine andere und das Handeln eines Staates zum Erhalt dieses Systems.

Ambos kommt zu dem Schluss, dass die ersten beiden Merkmale zutreffen, jedoch das subjektive Element schwer nachzuweisen ist. Er betont, dass es wichtig ist, die Unterscheidung zwischen berechtigter Kritik an Israels Politik und Antisemitismus zu treffen.

Im zweiten Teil dieses Podcast-Interviews von Telepolis nun geht es um den völkerrechtlichen Rahmen und die laufenden Verfahren gegen Israel sowie seine staatlichen Unterstützer vor dem Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen.

Jetzt sind Sie ja nicht der Einzige, der sich mit der Frage von Apartheid durch Israel beschäftigt. Sie haben schon ein paar Bezüge zu anderen hergestellt, die Definitionen vorlegen oder Überlegungen anstellen. Aber das ist auch Thema am Internationalen Gerichtshof. Da geht es auch um Gutachten. Vielleicht können Sie uns kurz mal erklären, was passiert da gerade, wer hat die Anträge gestellt und wie ist der Stand der Dinge?

Kai Ambos: Wir haben derzeit drei Verfahren mit Bezug zu Israel. Das eine ist, wenn sie so wollen, das Hauptverfahren, was die meiste Öffentlichkeit erregt hat, das ist das Verfahren Südafrika gegen Israel.

Südafrika wirft Israel einen Genozid vor, wegen des Gaza-Krieges. Das ist ein sogenanntes streitiges Verfahren und da gab es in zwei Fällen schon Anordnungen, die sogenannten Preliminary Measures des Gerichtshofes – und zwar fast einheitlich, da hat nur eine Richterin dagegen gestimmt. Es sind 15 Richter am Gerichtshof, also 14 zu 1.

Und dann gibt es eben noch Ad-Hoc-Richter, die die Staaten benennen. Der israelische Richter, ein sehr angesehener Richter, (Aharon) Barak, hat auch dagegen gestimmt.

Aber das waren sehr klare, überwiegende Anordnungen und gerade jetzt in der letzten vom 28. März hat der Gerichtshof noch einmal deutlich gemacht, dass Israel seinen humanitären Verpflichtungen nachkommen und humanitäre Hilfe ermöglichen muss.

Und das ist eigentlich gänzlich unumstritten, weil Israel Besatzungsmacht ist in Gaza und damit auch für die lokale zivile Bevölkerung in Gaza mitverantwortlich ist.

Und an dieses Verfahren angeschlossen, das ist das zweite streitige Verfahren, hat Nicaragua Deutschland verklagt, wegen der Unterstützung Israels und unter anderem auch wegen der Suspendierung der Zahlung an die UNRWA, also die UN-Organisation für palästinensische Flüchtlinge.

Damit leiste Deutschland Beihilfe zu einem Genozid und zum anderen komme Deutschland seinen Verpflichtungen aus dem Genfer Recht zur Achtung des humanitären Völkerrechts nicht nach.

Und das dritte Verfahren ist dieses Gutachtenverfahren und das ist interessant: Dieses Gutachten ist schon das zweite Gutachten zu Israel. Wir hatten vor 20 Jahren das berühmte Gutachten zur israelischen Mauer oder zum Sicherheitszaun.

Dazu ist der Antrag von der Generalversammlung der Vereinten Nationen gekommen. Und das ist natürlich die Welt, also die gut 190 Staaten, die mit ganz großer Mehrheit diesen Antrag, diese Frage gestellt haben an den internationalen Gerichtshof.

Dabei geht es allgemein um die Praxis und Politik in den besetzten Gebieten und dabei kommt natürlich auch der Apartheid-Vorwurf zum Tragen.

Jetzt steht natürlich die Frage nach den Konsequenzen im Raum. Also wenn UNO-Gremien entscheiden, Israel ist schuldig, Israel verletzt Völkerrecht, Israel wendet Apartheid-Methoden an, welche Konsequenzen hätte das?

Kai Ambos: Genau, das ist die entscheidende Frage und deswegen gibt es Unruhe im politischen Berlin, wie vorher auch schon in den USA, in Washington bei der ersten Entscheidung in dem Südafrika-Israel-Verfahren, weil die USA und Deutschland ja die Hauptunterstützer Israels sind und vor allem die militärische Unterstützung im Wesentlichen aus den USA kommt, aber auch – wenn natürlich viel weniger relevant –aus Deutschland.

Und wenn man jetzt sagt, dass Nicaragua in einer Weise Recht bekäme, dann wären das wiederum nur vorläufige Maßnahmen, wir sind dann wieder in dem vorläufigen Rechtsschutz.

In der Hauptsache wird es ein, zwei Jahre dauern, bis eine Entscheidung fällt. Dann ist hoffentlich der Gaza-Krieg vorbei.

Nicaragua beantragt natürlich sehr viel, wie Südafrika auch. Nicaragua beantragt zum Beispiel, dass Deutschland jegliche Unterstützung Israels einstellen muss. Wie auch immer man jetzt zu der völkerrechtlichen Frage steht, ich glaube nicht, dass der Gerichtshof so weit geht. Ich glaube also nicht, dass der Gerichtshof einem Staat verbietet, Militärhilfe zu leisten.

Das andere Problem ist, dass das Nicaragua-Deutschland-Verfahren von dem Verfahren Südafrika-Israel abhängt, bei dem wir noch keine Entscheidung in der Hauptsache haben, sondern nur vorläufige Anordnungen. Wenn der Genozid-Vorwurf gegen Deutschland erhoben wird, dann hat das ja nur Sinn, wenn man gegen Israel diesen Genozid-Vorwurf bestätigt.

Die Haupttat ist gewissermaßen: Israel begeht einen Genozid in Gaza, so der Vorwurf. Nur wenn man das bestätigt –was bisher nicht der Fall ist –, kann man sagen, andere Staaten unterstützen diesen Genozid.



Da gibt es eine Doktrin im Völkerrecht, Israel wäre dann eine unentbehrliche dritte Partei und ohne Israel kann man das nicht entscheiden.

Es kann also auch sein, dass der Gerichtshof das Nicaragua-Deutschland-Verfahren das prozessual für unzulässig erklärt.

Das klingt jetzt natürlich sehr hypothetisch, weil man nicht weiß, wie die einzelnen Schritte erfolgen werden, welche Entscheidung man da trifft. Aber es stellt sich auch grundsätzlich die Frage, was können die Vereinten Nationen, was kann Völkerrecht überhaupt bewirken? Wir erleben es ja gerade: Der UN-Sicherheitsrat hat eine Resolution angenommen – die USA haben das ermöglicht, indem sie sich der Stimme enthalten haben –, wonach eine sofortige Waffenruhe im Gazastreifen gefordert wird. Aber Israel sagt, da machen wir nicht mit.

Kai Ambos: Das Problem, das sie ansprechen, ist ja ein altes Problem: das Durchsetzungsdefizit vom Völkerrecht, aber auch das Durchsetzungsdefizit vom Recht allgemein, sage ich dann immer als Gegenargument.

Wenn Sie eine Zwangsvollstreckung in Deutschland haben oder wenn Sie etwa Vermieter sind und wollen den Mietern kündigen, das sehen Sie auch, das ist ziemlich schwierig. Recht durchzusetzen, ist immer schwierig und das ist hier eigentlich die Kernfrage und wenn man jetzt den Fall Gaza-Israel nimmt, dann sind es die Staaten, die die Verantwortung hätten, eine Nichterfüllung solcher Verpflichtungen durchzusetzen.

Das ist nicht das erste Mal. Wir haben seit Jahrzehnten Entscheidungen gegen Israel von höchsten Gremien, auch vom Internationalen Gerichtshof.

Auch zur Mauer zum Beispiel hat der Gerichtshof gesagt, die Mauer verläuft im Westjordan. Die müsste man also zurückbauen. Da ist auch nichts passiert.

Das müssen Staaten durchsetzen. Und der erste Staat, der in diesem Fall natürlich überhaupt in der Lage wäre, etwas durchzusetzen, sind die USA. Die Antwort darauf ist natürlich nicht so schwer, wie sie immer erscheint. Denn die USA könnten natürlich, was Biden auch angedroht hat, einfach keine Waffen mehr liefern.

Wenn die USA tatsächlich mit der Waffenlieferung aufhört, dann wäre das ja eine Sanktion. Letztlich ist die Antwort von Staaten die Sanktionierung. Die Sanktionierung, wie wir sie gegen Russland ja machen, wegen des Ukraine-Kriegs, das ist die Antwort auf Verletzung von Völkerrecht. Staaten sanktionieren den Verletzerstaat.

Deswegen wird auch immer wieder dieses Thema der Doppel-Moral der Doppelstandards, gerade bezüglich Gaza aufgebracht, weil man sagt: Da haben wir einen Staat, der, so leid uns das als Deutsche tut, immer wieder verurteilt worden ist, und zwar nicht nur von politischen Gremien, auch von gerichtlichen Gremien, dem internationalen Gerichtshof, der aber trotzdem weitermacht und sich davon nicht beeindruckt zeigt.

Dann liegt es an den Staaten, Sanktionen zu verhängen. Also wenn wir sagen, wenn wir überzeugt sind, Israel verletzt Völkerrecht, müssen wir Israel auch sanktionieren, wie wir auch Russland sanktionieren.

Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch, Professor Amboss.

Kai Ambos: Sehr gerne, Herr Ringel.

Das war der Straf- und Völkerrechtler Professor Kai Amboss von der Universität Göttingen. Er war Gast im allerersten Telepolis-Podcast. Sein Buch "Apartheid in Palästina?" ist im Westend-Verlag, Frankfurter/Main, erschienen, kostet 25 Euro.

Mein Name ist Dietmar Ringel. Danke fürs Zuschauen und Zuhören. Bis zum nächsten Mal.