Das Vorbild Jugoslawien – von der Krajina zu Donezk und Lugansk

Von der Nato abgeschossene Mig-29 der Jugoslawischen Volksarmee (JNA). Bild: U.S. Army

Der Krieg um die Ukraine folgt dem Konflikt um das zerfallende Jugoslawien – doch diesmal könnte es anders kommen als in den Neunzigerjahren

Am 25. Juni 1991 erklärten sich die jugoslawischen Republiken Slowenien und Kroatien für unabhängig. Die internationale Staatengemeinde erkannte sie aber nicht an. Sie drängte vielmehr auf eine gesamtjugoslawische Lösung für den Konflikt auf dem Balkan. Befürchtet wurde ein Bürgerkrieg. Und so kam es denn auch. Bereits am 26. Juni 1991 griff die Armee Jugoslawiens (JNA) in Slowenien ein.

Von Belgrad aus starteten Mig-29-Jagdflugzeuge und beschossen den Flughafen von Ljubljana. Panzer tauchten an der österreichisch-jugoslawischen Grenze auf. Nach zehn Tagen Krieg konnte zwar dieser Konflikt durch einen international vermittelten Waffenstillstand beendet werden, doch auch um Kroatien wurde bald gekämpft, und dieser Krieg konnte nicht mehr gestoppt werden.

In den folgenden knapp zehn Jahren fraß sich die Kriegswalze von Norden nach Süden durch das Land, das bis dahin Jugoslawien war – ein international hochgeachtetes blockfreies sozialistisches Land. Am Ende des Krieges 1999 bombardierten Nato-Staaten – unter ihnen die Bundesrepublik Deutschland – Serbien und töteten dabei Tausende Zivilisten. Es war der erste militärische Einsatz des Bündnisses überhaupt.

Der Preis, den die Bevölkerung Jugoslawiens für den Krieg zu zahlen hatte, war hoch: Mehr als 120.000 Menschen wurden getötet. Allein das Gemetzel auf dem Territorium Bosnien-Herzegowina kostete das Leben von 97.000 Menschen. Hunderte Dörfer und ganze Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht – im Gedächtnis geblieben sind die rauchenden Trümmer von Vukovar und Sarajevo.

Millionen Menschen flüchteten vor dem Krieg, die meisten in vermeintlich noch sichere Regionen des Landes. Hunderttausende verließen ihre Heimat gen Westen. Sie gingen vor allem nach Österreich und Deutschland. Die EU stand vor ihrer ersten Flüchtlingskrise.

Heute existieren auf dem Boden des einstigen Jugoslawiens nicht weniger als sieben Staaten bzw. staatenähnliche Gebilde: Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Kosovo und Nordmazedonien.

Mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende des Krieges – der als Bürgerkrieg begann, sich dann aber zu einem internationalen Konflikt unter der kriegsentscheidenden Beteiligung der Nato entwickelte – gibt es zwischen diesen Staaten und auch in ihrem Innerem starke politische und kulturelle Spannungen, die auf ethnischen Gegensätzen beruhen.

Kroatien als "Staat der Kroaten"

Das sich für unabhängig erklärte Kroatien verabschiedete am 22. Dezember 1991 eine Verfassung, in der es sich als "Staat der Kroaten" bezeichnete. Die auf seinem Boden gleichfalls lebenden Serben und Angehörige anderer jugoslawischer Nationalitäten wurden damit entrechtet. Es ging dabei um nicht weniger als 650.000 Menschen.

Die von Serben, Montenegrinern und Mazedoniern benutzte kyrillische Schrift sowie die serbokroatische Sprache wurden aus der Öffentlichkeit verbannt. Offizielle Landessprache wurde das neu geschaffene Kroatisch.

Dieses Vorgehen entsprach der politischen und gesellschaftlichen Ausrichtung des neuen Staates. Bereits 1990, am Beginn der Schwächephase des jugoslawischen Bundesstaates, hatten dort ultranationalistische und rechtsextreme Kräfte die Macht an sich gerissen. Zu ihnen gesellten sich antikommunistische Exilkroaten aus Kanada, den USA, Österreich und Deutschland, die in der Zeit des sozialistischen Jugoslawiens dorthin ausgewichen waren.

Viele von ihnen beriefen sich auf die berüchtigte Schwarze Legion, die Ustascha, die zwischen 1941 und 1945 an der Seite der Wehrmacht und der SS im damals kurzzeitig unter deutschem Schutz existierenden faschistischen Kroatien für zahlreiche Verbrechen an Serben und kommunistischen Partisanen verantwortlich waren. Sammelbecken für all diese Kräfte wurde im neuen Staat die Kroatische Demokratische Union (HDZ). Bis auf zwei kurze Unterbrechungen ist sie seit 1990 die Regierungspartei des Landes.

Ungeachtet der offenen Diskriminierung eines großen Teils der in Kroatien lebenden Bevölkerung wurde das Land am 23. Dezember 1991 von der deutschen Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl und Außenminister Dietrich Genscher völkerrechtlich anerkannt.

Die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens waren zwar anfangs entsetzt über den Alleingang, doch wenige Wochen später folgten sie den Deutschen. Am 15. Januar 1992 erkannten sie und die übrigen Staaten der Europäischen Union Kroatien und Slowenien an. Unter deutscher Führung hatten damit die EU-Staaten Staatsgründungen gebilligt, die von der Existenz eines einzigen, ethnisch reinen Staatsvolkes ausgingen.

Damit war die Büchse der Pandora des Bürgerkriegs geöffnet, da nicht nur in Kroatien, sondern auch in Serbien, Mazedonien, vor allem aber in Bosnien-Herzegowina große nationale Minderheiten anderer Titularnationen der vormaligen Bundesrepublik Jugoslawien lebten, die es nicht hinnehmen wollten, künftig unter fremder Vorherrschaft zu stehen.

Die Grenzen der jugoslawischen Republiken waren bis dahin nie identisch mit den ethnischen Grenzen gewesen. Die Angehörigen der Staatsvölker Jugoslawiens – Serben, Kroaten, Slowenen, Mazedonier und weitere – waren vielmehr auf dem gesamten Territorium Jugoslawiens gleichberechtigt, unabhängig davon, wo sie jeweils lebten. Von den Kroaten waren etwa 20 Prozent in anderen Republiken beheimatet. Bei den Serben waren es sogar 30 Prozent, die außerhalb der Grenzen Serbiens lebten, und dies zum Teil seit Jahrhunderten.

In Reaktion auf die Staatsgründung Kroatiens als "Staat der Kroaten" erklärten die etwa 250.000 an der südlichen Grenze des Landes lebenden Serben, dass sie sich nicht den Verfassungsorganen des neuen Staates unterordnen werden. Sie proklamierten die "Serbische autonome Republik Krajina". Diese Provinz sollte nach ihrem Willen einen autonomen Status erhalten, vergleichbar dem des Kosovo in Serbien. Dieser Status wurde jedoch von den Kroaten nicht anerkannt.

Es kam zu blutigen Konflikten, UN-Blauhelme wurden als Streitschlichter stationiert, doch alle Verhandlungen blieben ergebnislos. Die kroatische Seite setzte auf eine gewaltsame Lösung des Konflikts, denn sie wusste ja, dass der "Westen", Deutschland und die EU, vor allem aber die gewaltige Militärmacht der USA hinter ihnen stand.

Am 3. August 1995 griffen kroatische Truppen in der Operation Oluja (Gewittersturm) die Krajina an und überrannten sie. Sie waren den serbischen Verteidigern weit überlegen, waren sie doch von den USA mit modernsten Präzisionswaffen ausgestattet und von US-amerikanischen Strategen bei der Ausarbeitung des Feldzugs beraten worden. Nur fünf Tage nach Beginn des Angriffs konnte der Sprecher des kroatischen Verteidigungsministeriums bekannt geben: "Die Krajina besteht nicht mehr."

Bereits während der Offensive begann die ethnische Säuberung. Die Berliner Zeitung meldete am 8. August 1995:

Zehntausende serbische Zivilisten flohen in kilometerlangen Strömen aus den umkämpften Gebieten der Krajina nach Nordbosnien in Banja-Luka. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR rechnet mit dem größten einzelnen Flüchtlingsstrom seit Beginn der Kriege im ehemaligen Jugoslawien.

Mit der Austreibung gingen zahlreiche Verbrechen an den Bewohnern einher, wie man sie bis dahin nach 1945 in Europa nicht mehr gesehen hatte. Jene, die nicht rechtzeitig hatten fliehen können, vor allem Alte und Kranke, wurden niedergemetzelt. Häuser wurden mitsamt den darin befindlichen Menschen in Brand gesteckt.

Der kroatische General Ante Gotovina wurde später durch den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) schwerer Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an serbischen Zivilisten in erster Instanz für schuldig befunden, im Berufungsprozess jedoch freigesprochen. Ebenso verschont wurde der Mitangeklagte Mladen Markač. Ganz anders verfuhr man hingegen mit den serbischen Kriegsverbrechern Radovan Karadžić und Ratko Mladić. Sie wurden zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt.