Alle gegen Brockhaus

Seite 6: Wikipedia funktioniert - Schlussfolgerungen

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Der Zufallstest zeigt, dass Wikipedia selbst im Durchschnitt in einigen Bereichen bereits deutlich besser abschneidet als das kommerzielle Gegenstück Encarta, das durchaus repräsentativ für eine Vielzahl von Enzyklopädien stehen kann. Beide haben Lücken - Encarta behandelt bestimmte Themen wie Sex und Software nur sehr beschränkt, während Wikipedia nach dem Open-Source-Prinzip funktioniert: Wo sich niemand verantwortlich fühlt, fehlen wichtige Texte noch. Manche Nation oder politische Figur wird deshalb sträflich vernachlässigt, was sich aber sicher mit weiterem Wachstum ändern wird. Und wenn es um kontroverse Themen geht, hat Wikipedia fast immer die Nase vorn: Der neutrale Standpunkt (NPOV) wird in der Regel gewahrt, und bestimmte Themen aus sensitiven Bereichen werden von anderen Werken größtenteils oder vollständig ignoriert.

Wikipedia funktioniert. Wie gut sie funktioniert, lässt sich schwer quantifizieren, da z.B. der durchschnittliche Fehleranteil pro Artikel unbekannt ist. Es hängt auch davon ab, ob man Formfehler für schwerwiegend hält, denn davon gibt es zahlreiche. Inhaltlich kann sich Wikipedia mit millionenschweren Projekten wie Encarta messen, was nach gerade etwas mehr als 2 Jahren eine schwer zu fassende Leistung ist.

Mit unglaublicher Geschwindigkeit arbeitet, rotiert, tanzt das Wikipedia-Netz der Gehirne, ein Phänomen, das bisher nicht annähernd genug wissenschaftliche und journalistische Aufmerksamkeit erfahren hat. Nicht Professoren und nicht Firmen haben die Wikipedia-Infrastruktur gebaut - es war eine kleine Handvoll motivierter Freiwilliger. Wie GNU und Linux, wie das World Wide Web, wie Weblogs entstanden Wikis und schließlich Wikipedia nicht, weil sie von oben geplant wurden. Sie wurden von unten gebaut, und wenn Universitäten involviert waren, dann meist in der Form, dass sie ihren Studenten genügend Zeit für sinnvolle Tätigkeiten neben dem Studium ließen.

Wikipedia ist sexy, deshalb berichtet jedes Magazin gerne mal darüber auf seiner Internet-Seite. Doch was dieses Projekt bereits geleistet hat, entzieht sich dem Vorstellungsvermögen der meisten Begutachter. Neben dem täglich wachsenden Nutzen der freien Enzyklopädie verrät sie uns viel über das Menschsein an sich. Von den vielen tausend Änderungen die jeden Tag an Wikis gemacht werden, ist nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz "bösartig", und selbst von diesen kann man viele als einmalige Experimente abtun. Wo ist die Profitgier, die Geltungssucht, die Starrköpfigkeit, die wir uns gegenseitig so gern zuschreiben? Sicher: All diese Eigenschaften findet man auch bei Wikipedianern - doch es waren technische, nicht soziale Probleme, die das Projekt bisher in seinem Wachstum beschränkt haben.

Während das Internet von vielen noch gemieden wird, weil sie es nicht verstehen oder fürchten, entstehen dort Dinge, die vor 10 Jahren als ferne Science Fiction abgetan worden wären. Das Netz hält uns den Spiegel vor und zeigt uns unsere Zukunft und unser Potenzial. Jetzt, hier und heute werden die Regeln definiert, die Fundamente gelegt für Entwicklungen, die unsere Kultur für immer verändern werden. Wer dies nicht begreift, läuft Gefahr, die falschen Weichen zu stellen.

Welche Möglichkeiten hätte Wikipedia, wenn das Urheberrecht nicht jedes moderne Werk de facto für die Ewigkeit schützen würde? Welche Gefahr droht dem Projekt dagegen, wenn Zensoren und Bürokraten den internationalen Datenverkehr kontrollieren? Es liegt in der Verantwortung jedes einzelnen, diese Chancen und Risiken zu erkennen - und das Richtige zu tun.

Erik Möller ist einer der Autoren der englischen Wikipedia und Mitentwickler der Wikipedia-Software "Phase III".