Blutleere Pläne oder intelligente Regulierung?

Der Bundestag debattiert über (vertane) Chancen in der Infogesellschaft

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Eigentlich sind sich fast alle Parteien einig: Die neuen Informations- und Kommunikationsdienste führen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zu drastischen Veränderungen und sind der Schlüssel für den Wohlstand in der Zukunft. Doch nutzt die rot-grüne Regierung die Chancen der Informationsgesellschaft? Stimmen die Rahmenbedingungen, bieten sie genügend Freiraum für Innovation und Kreativität? Ist das im September 1999 vorgelegte Aktionsprogramm der Bundesregierung (Weder heiß noch kalt) wirklich der langersehnte Fahrplan ins Informationszeitalter? Mit diesen Fragen beschäftigte sich der Bundestag gestern trotz der alles überschattenden Parteispendenaffäre in einer zwar wenig besuchten, aber dafür um so hitziger geführten Debatte.

Fakt ist, dass sich Deutschland trotz der vielfach gerühmten Telekommunikationsinfrastruktur mit hunderttausenden Kilometern Glasfaserkabel im Bereich der Nutzung des Internet den jüngsten Zahlen des Information Society Project Office zu Folge in Europa nur im unteren Drittel bewegt. In den skandinavischen Ländern und den Niederlanden ist die Internetverbreitung deutlich höher, ähnlich wie in den USA. Und trotz des Startup-Fiebers in den Silicon Cities der Republik, ist gerade für viele mittelständische Unternehmen das Internet noch ein Medium mit sieben Siegeln. Den schwarzen Peter für die Misere schieben sich nun die großen Parteiblöcke gegenseitig in die Schuhe.

Auf Martin Mayer, den forschungspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, wirken die Pläne der Bundesregierung schlicht "blutleer". In seiner Rede im Reichstag ließ der CSU-Politiker kein gutes Haar am Aktionsprogramm: Mit dem Ziel, Deutschland dank des Fünf-Jahres-Plans in eine "europaweite Spitzenposition in der Informationsgesellschaft" zu befördern, erhebe die rot-grüne-Koalition nur einen Anspruch auf die Zweite Liga. "Wir müssen weltweit eine Spitzenstellung einnehmen", ist sich der Bayer sicher. Hinter der Zielmarke, den Anteil der Surfer an der Gesamtbevölkerung auf 40 Prozent bis zum Jahr 2005 zu steigern und somit erst in fünf Jahren den heutigen Stand in den USA oder Finnland erreichen zu wollen, wittert Mayer gar den Anspruch der Bundesregierung "auf das Schlusslicht Deutschland".

Als Grund für die sich in Grenzen haltende Lust der Bundesbürger an der Vernetzung hat Mayer den nach wie vor im Ortsbereich tickenden Telefongebührenzähler ausgemacht. Die ISPO-Umfrage kommt zwar zu dem Ergebnis, dass über 50 Prozent der noch nicht surfenden Bevölkerung einfach keinen Nutzen im Internet für ihr tägliches Leben sehen. Trotzdem könnte eine "deutlich unter hundert Mark" liegende Monatspauschale für den permanenten Zugang zur Online-Welt, die Mayer zugleich mit dem Druck auf den Altmonopolisten Telekom fordert, vielleicht doch den ein oder anderen Netzverweigerer schwach werden lassen und zumindest bei Hardcore-Surfern freundliches Klicken auslösen.

In einer Zeit, in der immer mehr in die Selbständigkeit wechseln, seien Gefechte um die "Scheinselbständigkeit" zudem absolut kontraproduktiv, so Mayer weiter. Bei der Behebung des Mangels an qualifizierten Arbeitsplätzen in der Informationswirtschaft dürfe zudem nicht gekleckert, sondern es müsse geklotzt werden. Insgesamt fehle der Schwung in den Leitprojekten des Aktionsprogramms und die Zuständigkeitsverteilung sei "unglücklich". Die Initiativen rund um die Informationsgesellschaft müssten stärker gebündelt und das Internet endlich zur Chefsache werden.

Wunderwaffe Innovationspartnerschaft

Bundeswirtschaftsminister Werner Müller ist dagegen mit sich und der Regierungsarbeit voll zufrieden. Beim Verbraucher- und Jugendschutz gelte es zwar, "neue Akzente" zu setzen und dadurch die Akzeptanz der neuen Dienste bei den Nutzern zu erhöhen. Auch beim Datenschutz müsse es mehr Transparenz für die Anbieter geben. Eine "intelligente Regulierungspolitik", die Müller im Planwerk der Regierungskoalition zur Infogesellschaft anscheinend angelegt sieht, könne aber die "größtmöglichen Entfaltungsräume" freischaufeln: Im Aktionsprogramm sieht der Parteilose zumindest "die Grundlage, auf der andere Initiativen aufbauen können". Die Vernetzungsiniti@tive D21 (Die Wirtschaft wird es machen) etwa solle mit dem Programm zusätzliche Impulse erhalten. Interessanterweise sieht die Wirtschaft die Sache umgedreht und sich selbst als den Zünder.

Das gute Gefühl, dass die Informations- und Wissengesellschaft nun endlich kommen werde und dank "neuer Innovationspartnerschaften zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft" alles auf dem richtigen Wege sei, zieht Müller vor allem aus der "erfolgreichen Bewältigung des Jahr-2000-Problems". Gemessen an den "katastrophischen Prognosen" sei Deutschland dank der "stillen und effizienten Vorbereitungen" sicher ins Millennium gestartet. Neue Impulse für den Bereich Risikoanalysen rund um die Informationstechnik wird man von der rot-grünen Koalition demzufolge in naher Zukunft nicht erwarten dürfen.

Jörg Tauss, Beauftragter der SPD-Fraktion für Neue Medien, erinnerte Mayer daran, dass gerade das alte Regierungsbündnis das Internet "völlig falsch eingeschätzt" habe. In einer Zeit, als der Information Superhighway bei der Clinton/Gore-Administration längst Chefsache gewesen sei, habe die CDU/CSU das Internet noch als reine "Schmuddelecke" empfunden. Dass die alte Regierung auf "Rohrpostniveau" stagnierte, habe zwar den Bargeldverkehr erleichtert, so Tauss mit einem Seitenhieb auf die CDU-Spendenaffäre, die Informationsgesellschaft allerdings nicht unbedingt vorangebracht. Debatten wie über die Einführung von Flatrates könnten zudem künftig im ressortübergreifenden Unterausschuss Neue Medien des Parlaments effektiver als je zuvor geführt werden, über dessen Einrichtung nun Klarheit bestehe. Neben der Verbesserung der Zugangsmöglichkeiten zum Internet will sich Tauss außerdem verstärkt für die rasche Verabschiedung des noch immer ausstehenden Informationsfreiheitsgesetzes einsetzen, das einen Beitrag zur Transparenz der Politik leisten könne.

Regulierungs- und Kontrollwirrwarr

Deutlich mehr Transparenz fordert Hans-Joachim Otto dagegen zunächst im Regulierungsdickicht rund um die Medien-, Tele- und Rundfunkdienste, zu dessen Entschlackung das noch von der alten Bundesregierung verabschiedete Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz (IuKDG) nicht unbedingt beigetragen hat. In ihrem ersten, vom 18. Juni 1999 stammenden Evaluierungsbericht zum "Multimediagesetz" findet die rot-grüne Koalition allerdings nur marginale Punkte "optimierbar", was die Unionsregierung als Kompliment betrachtet.

Die FDP sieht die Zeit nun allerdings reif für eine grundsätzliche Reform der Medienordnung. Otto, der medienpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, sprach von einem "Regulierungs- und Kontrollwirrwarr in Deutschland", in den für ein Internetunternehmen bis zu 28 Regulierungsinstanzen zuständig seien. Die "skurrile" Idee, jeden PC mit einer - eventuell noch um 12 Prozent erhöhten - Rundfunkgebühr zu belegen, werde den "dramatischen Rückstand" bei der Nutzung des Internet außerdem sicherlich nicht abbauen. "Der Fehler liegt im System", glaubt Otto, weshalb die FDP die Verwirklichung einer "offenen Medienordnung" in Deutschland fordert.

Chancen, nichts als Chancen?

Angela Marquardt von der PDS warnte dagegen vor schnellen Entschlüssen und beklagte, dass das "Tempo allein von der Wirtschaft bestimmt" werde. Die Tatsache, dass das Aktionsprogramm nur Optimismus verbreite, hält sie für eine "bewusste Täuschung" der Öffentlichkeit: "Es muss aufhören, dass die Informations- und Kommunikationstechnik als wunderbringend verkauft wird." Stattdessen sei der kritische Umgang mit dem neuen Mediensystem zu fördern.

Die neue Diskussion um Zensur, die vor allem eine vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegebene Studie zum leidigen Filtern für den Jugendschutz ausgelöst hat, hält Marquardt dagegen für überflüssig. Denn wer wolle sich anmaßen zu bestimmen, was gesehen werden kann und was nicht? Dem Filtern hafte immer ein "willkürlicher Charakter" an und es führe allein zu "einer umfassenden Zensur im Netz."

Merkwürdig abwesend in der Bundestagsdebatte war das Thema Abhören (Link: Special Enfopol) der Internetkommunikation. Während im amerikanischen Kongress Abgeordnete wie Bob Barr längst das Spionagenetzwerk Echelon auf die Tagesordnung gesetzt haben, und Aufklärung fordern, blieben in Europa und Deutschland geplante Lauschangriffe gestern weitgehend außen vor. Das Stichwort Enfopol fiel zumindest gar nicht, und die Ausarbeitung der Telekommunikations-Überwachungsverordnung (TKÜV) wusste Tauss nur dem ehemaligen Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt in die Schuhe zu schieben, der von den Machenschaften in seinem Hause vor zwei Jahren allerdings selbst überrascht wurde.

Wie die neue Regierung mit den Forderungen der Strafverfolger nach generellen Abhörmaßnahmen umgehen will, interessierte anscheinend kaum einen der Abgeordneten. Dabei hätte das Thema gut zur Debatte über die "Chancen" der Infogesellschaft gepasst.