Bolivien: "Aufruf zum Bürgerkrieg"

Die reichen Tieflandprovinzen wollen das Referendum über die neue Verfassung Boliviens am 7. Dezember verhindern

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Nach der klaren Bestätigung am 10. August hat Evo Morales erwartungsgemäß nun den Zeitpunkt für das Referendum über die neue Verfassung Boliviens bestimmt. Per Dekret hat der Präsident die Volksabstimmung über die Annahme der Verfassung zur Neugründung (Opposition lehnt sich gegen Regierung in Bolivien auf) des Landes für den 7. Dezember festgelegt und es soll dabei auch über die Landreform entschieden werden. Die Regionen im Tiefland, die deren Reichtümer für sich beanspruchen, wollen das Referendum in ihren Departements verhindern und werden immer aggressiver. Gewalttätige Übergriffe auf Regierungsanhänger wurden registriert und die Opposition ruft zu Demonstrationen, Streiks und Straßensperren auf.

Mit 67,41% Unterstützung war die Zustimmung für Evo Morales sogar noch höher, als in den Hochrechnungen zunächst vorhergesagt worden war (Krise trotz Referendum in Bolivien nicht gelöst). Die endgültigen Ergebnisse hat das Nationale Wahlgericht (CNE) nun vorgelegt, das auch die Wahlbeteiligung von über 80% bestätigte. Deshalb bestehen an der deutlich gestärkten demokratischen Legitimität für Morales keine Zweifel mehr. Mit der Volksabstimmung über seine Amtsenthebung fühlte der Präsident seiner Bevölkerung den Puls. Angesichts der Auguren, die ständig eine fallende Unterstützung konstatierten, nahm er leicht die Hürde von 53,7%, die er sich selber gesetzt hatte. Er wollte Neuwahlen ansetzen, wenn seine Unterstützung gegenüber den Wahlen 2005 gesunken wäre (Neoliberalismus abgewählt).

Auf Basis dieses guten Ergebnisses, erließ Morales nun ein Dekret, um das Volk über die neue Verfassung entscheiden zu lassen. Am späten Donnerstag (Ortszeit) hatte der Kabinettschef Juan Ramón Quintana in der Hauptstadt La Paz das Gesetz Nr. 29691 verlesen: "Das vorliegende Präsidialdekret legt das Datum des nationalen Verfassungs- und Beratungsreferendums fest, das am 29. Februar 2008 beschlossen wurde." Morales erklärte danach: "Das ist ein historischer Tag, denn das Referendum garantiert die Annahme der neuen Verfassung".

Der Verfassungstext wurde von zwei Dritteln der Verfassungsgebenden Versammlung am 9. Dezember 2007 verabschiedet, die ihn ausgearbeitet hatte. Er soll nun fast ein Jahr später von der Bevölkerung in einem verbindlichen Referendum angenommen werden, was die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) begrüßt. Deren Generalsekretär Miguel Insulza lobte gestern die demokratische Gesinnung der Regierung Morales: Man könne viel über Bolivien schreiben und sagen, "doch über die demokratische Gesinnung des Volks von Bolivien und seiner Regierung kann niemals genug geschrieben werden". Die OAS hatte das Referendum über die Amtsenthebung von Morales und der Gouverneure der Departements überwacht und hat die Ergebnisse bestätigt.

Kampf um das gesellschaftliche Modell

Im Gegensatz zur OAS lehnt die rechte Opposition das Referendum ab, wie sie schon zuvor die Ausarbeitung der Verfassung zu sabotieren und danach die Verabschiedung auch gewaltsam zu verhindern versuchte (Konflikte in Bolivien gehen nach Verabschiedung der Verfassung weiter). Trotz des Boykotts durch die Opposition wurde das Referendum zur Annahme der Verfassung Ende Februar vom Senat beschlossen.

Zwar ruft Morales die Gouverneure der Tieflanddepartements beständig weiter zum Dialog auf, doch setzte er angesichts deren Blockade nun den Zeitpunkt des Referendums fest, um die festgefahrene Lage aufzubrechen. Die reichen Tieflanddepartements halten derweil an ihrem separatistischen Kurs fest. Sie sind nicht bereit dazu, erst im Rahmen der neuen Verfassung über ihre Autonomieforderungen zu verhandeln, die in den reichen Regionen Mehrheit findet. Dass Morales ihnen bisher entgegen kam, haben sie als Schwäche ausgelegt und radikalisieren ihren Diskurs und ihre Aktionen ständig.

Letztlich geht es ihnen darum, die umfassende Reform zur Neugründung des Landes zu verhindern. Damit sollen nicht nur die Rechte der indigenen Bevölkerungsmehrheit gestärkt werden, sondern die neue Verfassung soll auch den Abschied vom Neoliberalismus besiegeln. Die Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft soll gestärkt und die Nationalisierungen der Öl- und Gasreserven abgesichert werden. Die Einnahmen sollen endlich der breiten Bevölkerung des zweitärmsten Landes des Kontinents zu gute kommen.

Die Bolivianer sollen am 7. Dezember auch über die Landreform abstimmen. Diese sieht unter anderem vor, Landbesitz auf eine Größe von maximal 5000 oder 10.000 Hektar zu begrenzen. Ungenutzte Flächen sollen an landlose Bauern verteilt werden. Großgrundbesitzer im Tiefland, die riesige Flächen oft ungenutzt lassen, fürchten eine "Invasion" von indigenen Bewohnern aus dem Hochland. So verbergen sich auch rassistische Motive hinter der Ablehnung der Reform. Erstmals sollen auf regionaler Ebene auch die Stellvertreter der Präfekten sowie die einflussreichen Berater der Gebietsverwaltungen direkt gewählt werden. Die Vetternwirtschaft bei der Ernennung der Berater werde damit abgeschafft und mit der Direktwahl die Dezentralisierung vertieft.

"Dieser historische Kampf für die Neugründung von Bolivien" habe zur Beteiligung der Bevölkerung an der Ausarbeitung einer Verfassung geführt, erklärte Evo Morales. "Diese neue Verfassung wird nun dem Volk Boliviens zur Abstimmung vorgelegt", was Morales als eine tief greifende Vertiefung der Demokratie bezeichnete. Vor seinen Anhängern sprach er aber auch von der Herausforderung, wie mit der gesteigerten Beteiligung des Volkes zudem der plurinationale Charakter des Landes garantiert werden kann.

Separatismus zur Sicherung von Privilegien

Statt sich um das friedliche Zusammenleben und der Sicherung von demokratischen und sozialen Rechten für alle Bevölkerungsgruppen Gedanken zu machen, versuchen die reichen Tieflandregionen ihre Privilegien zu sichern. Die weiße Oberschicht will weiter über die Ressourcen in ihren Regionen bestimmen. Solange der Staat ihren Interessen diente, sprach niemand im "Halbmond", den die reichen Tieflandprovinzen bilden, von Autonomie oder Separation. Doch seit sich die demokratischen Mehrheiten geändert haben, setzen sie auf diese Option und scheuen dabei vor keinen Mitteln zurück.

Vorgeprescht war wie stets die Region Santa Cruz. Im dem Gebiet, das vom Präfekt Rubén Costas regiert wird, wurde im Mai das erste illegale Referendum abgehalten, mit dem ohne Kontrolle durch den Wahlrat, der OAS oder durch unabhängige Beobachter über die "Autonomie" der Region abgestimmt wurde. Tatsächlich werde dem Zentralstaat praktisch alle Kompetenzen streitig gemacht, weshalb es sich faktisch um einen Abspaltungsversuch handelt. Und eigentlich sollte damals über die Verfassung abgestimmt werden, doch das oberste Wahlgericht genehmigte aus organisatorischen und rechtlichen Vorraussetzungen die Abstimmung nicht, weil die Vorbereitungszeit zu kurz war. Während sich Morales an die Entscheidung hielt, wurde sie in Santa Cruz und später auch in den übrigen rohstoffreichen Departements Beni, Tarija und Pando missachtet. Dabei hatten sich diese Regionen schon als "autonom" erklärt, bevor überhaupt Abstimmungen durchgeführt worden waren (Bolivien stehen neue Konflikte bevor).

Angesichts des Vorgehens ist es erstaunlich, dass die Opposition Morales stets "Totalitarismus" vorwirft und von seinem "rassistischen Projekt" spricht. Rolando Aguilera, Sprecher des Präfekten von Santa Cruz, erklärte: "Wir sind gegen eine Regierung, die per Dekrete regiert und Politik macht." Der Chef der großen Oppositionspartei Podemos nannte Morales einen "Diktator" der mit seinem Referendum über die Verfassung einen "Bürgerkrieg" provozieren wird. "Die Aktion der Regierung war ein Putsch gegen die Demokratie, ein Aufruf zum Bürgerkrieg und dekretiert fast die Spaltung des Landes", dokumentiert Jorge Tuto Quiroga ein erstaunliches Demokratieverständnis.

Erste Konfrontationen haben bereits begonnen

Nach einem Treffen der Oppositionsführer kündigten diese an, die Durchführung des Referendums in den Regionen zu sabotieren, in denen sie regieren. "Wir sind zur Übereinkunft gelangt, dass wir die Durchführung des Referendums in den fünf Departements verhindern, wenn uns die Regierung ihr illegales Referendum aufzwingen will", sagte der Präfekt von Tarija, Mario Cossío. “Der Kampf wird offen und entschieden geführt und von fünf Departements getragen." In jeder Region werde mit der Mobilisierung begonnen: Streiks, Demonstrationen und Straßenblockaden gehörten zu den Aktionsformen.

So haben die ersten Konfrontationen schon begonnen und die Lage wird sich in den nächsten Tagen zuspitzen. Eine Demonstration, welche die Öffnung einer blockierten Strasse in Villamontes forderte, wurde angegriffen und es gab Verletzte. Ähnlich erging es Demonstranten in Santa Cruz, die sich für das Referendum aussprechen wollten Erneut griff in Santa Cruz die Jugendorganisation, die als Sturmtruppe des so genannten Bürgerkomitees agiert, Mitglieder von Morales Partei MAS an. Sie stürmten den Gemeinderat und versuchten, den MAS-Stadtrat Osvaldo Peredo zu lynchen, der schon diverse Attentate überlebt hat. "Ich wurde bedroht und mein Haus wurde mit Granaten beworfen, es wurde auf mich geschossen, man hat versucht mich zu entführen und nun wollten sie mich lynchen", beschrieb er der Vorgang, der durch schnelle Hilfe vereitelt wurde.

Es wird erwartet, dass die Opposition die Lage weiter zuspitzen wird, um ein Bild vom Chaos und der angeblichen Unregierbarkeit des Landes zu zeigen und somit die internationale Gemeinschaft davon zu überzeugen, dass die Aufteilung die beste Lösung ist. Morales muss dagegen die Staatsgewalt in den von der Opposition regierten Gebieten zurückgewinnen, die der Staat dort schon teilweise verloren hat. Er kann es sich nicht bieten lassen, dass die Opposition offen versucht ein Referendum zu verhindern, womit die Zentralregierung die Kompetenzen in den fünf Regionen weiter einbüßen würde.