Corona und die Verteidigung der Grundrechte
Woran man sich erinnern sollte - Teil 5
Vor langer Zeit, also vor ungefähr zehn Wochen, als Politik und Öffentlichkeit die Lockdowns, die Maskenpflicht oder die Tracking-Apps noch für Maßnahmen halten, die bestenfalls bei chinesischen Massenmenschen eine gewisse Berechtigung besäßen, insgesamt aber vom Kontroll- und Überwachungsregime eines konfuzianischen Kommunismus kündeten, stellen zwei freie westliche Journalisten stellvertretend für viele Kollegen allen Ernstes fest: "Auch bei Viren hat die Demokratie Vorteile", denn "Demokratien sind resistenter", weil "die Offenheit der demokratischen Gesellschaft mit Entscheidungsträgern, die auf freie Medien und Bürger reagieren, unschlagbar" sei.
Näheres dazu ist nachzulesen in Journalismus und Corona - Woran man sich erinnern sollte - Teil 1. Die Teile 2 (Marktwirtschaft und Corona), 3 (Vater Staat und Corona) und 4 (Corona und die Rückkehr zur Normalität) werden nachfolgend kurz zusammengefasst.
Die weitere Pandemieentwicklung versachlicht dann die politische Debatte samt ihrem meinungsbildenden Echo, und die Regierenden setzen viele marktwirtschaftliche "Sachzwänge" auf unbestimmte Zeit außer Kraft, fügen ihnen damit größere Schäden zu, indem sie der Volksgesundheit im Sinne der Verhinderung "italienischer Zustände" den eindeutigen Vorrang geben, weil deren Erhalt angesichts der prekären Situation die Bedingung des weiteren Gesellschafts- und Wirtschaftslebens ist.
Im Kampf gegen das Virus kommt die Politik nicht umhin, seiner Logik und den Experten dafür zu folgen, deshalb nähert sie sich in verschiedenen Industriestaaten ziemlich an (und nur die Bolsonaros glauben noch, es wegpusten zu können). Damit allerdings bremst die Staatsmacht ein von ihr und allen Wirtschaftssubjekten benötigtes Wachstum aus, das in der globalen Welt so ziemlich jede gesellschaftliche Regung zu einem Moment seines weiteren Gelingens gemacht und diesem untergeordnet hat.
Der Normalmensch dient ihm nicht nur als abhängig Beschäftigter, sondern auch als Konsument, mit seinen Freizeitvergnügungen oder als Urlauber. Das Wohnen, Grundbedingung für Leben, Arbeit und Erwerb, ist eine Geschäftssphäre und sorgt für Mieten, die sich viele dort nicht leisten können, wo sie arbeiten müssen. Selbst Teile der Infrastruktur und des Gesundheitswesen wurden so "dereguliert", dass sie als Geschäftssphären fungieren können. Weltweite "Wertschöpfungsketten" haben längst jeden Erdenwinkel nach Maßgabe seines Beitrags zu ihrer Prosperität eingeordnet. Ein globales Kreditgeschäft sorgt schließlich für das Gelingen dieser Subsumtionen und hat die "Realwirtschaft" zur Basis seines eigenen Bestands und Fortschritts gemacht.
Die staatliche Pandemie-Bekämpfung unterbricht also gezwungenermaßen einige und in der Folge, die dann "Abwärtsspirale" heißt, sehr viele dieser "Wertschöpfungsketten". Deren Zusammenhang existiert nur über das Geld, das darüber verdient und vermehrt wird. Jeder Wirtschaftsbürger muss nun sehen, wo er mit seiner Erwerbsquelle bleibt: Unternehmer retten sie per Entlassung und Kurzarbeit. Die davon Betroffenen müssen auf staatliche Zuschüsse setzen und sich gegebenenfalls die Miete stunden lassen. Immobilienbesitzer kündigen an, dass sie auf Dauer nur Wohnungen zur Verfügung stellen können, an denen sie auch verdienen. Die Banken achten verstärkt darauf, nur das zu kreditieren, was solide Zinsen abwirft. Soziale Differenzen zwischen Normal- und Besitzbürgern gibt es also trotz dieser "Prinzipiengleichheit" zur Genüge.
Angesichts der Krisenlage kommt "Vater Staat" in einer Weise ins Spiel, die manche an planwirtschaftliche Zeiten erinnert. Aus dem "ideellen" (Engels) wird ein rudimentärer "Gesamtkapitalist": Produktionsaufträge für Gesichtsmasken werden organisiert, Notfallbetten verdoppelt, Gesundheitspersonal wird aufgestockt, Einkünfte werden substituiert, staatliche Gelder mobilisiert, um die Wirtschaft, so gut es geht, am Laufen zu halten, vorhandenes Geschäft zu retten und künftiges vorzubereiten. Diese "Planwirtschaft" ist also eine notgedrungene und nur vorübergehend gedachte.
Die vielgescholtenen Staatsmänner und -frauen erleben jedenfalls mitten in der Pandemie eine Sternstunde. Ihre Umfragewerte schießen in die Höhe, schon deshalb, weil jedermann ganz praktisch von ihrem Krisenmanagement abhängig ist, das die "Rückkehr zur Normalität" verspricht. Sie soll die gewohnten Einkommen wieder hergeben - und kaum jemand scheint zu bemerken, dass der ersehnte Status quo ante, z.B. also Löhne, die bis zum Monatsende reichen - genau die Grundlage dafür abgibt, dass das Leben in der Corona-Krise für viele so prekär geworden ist.
Die handelnden Politiker repräsentieren so etwas wie die "Vernunft" oder die "Systemlogik" des bürgerlichen Staats in Bezug auf das von ihm definierte "Allgemeinwohl". Derselbe stellt sich über die gegensätzlichen Konkurrenzinteressen seiner Klassengesellschaft, weil dieses "Wohl aller" in ihnen gar nicht existiert. Auch in Zeiten von Corona würden diese Klassen höchstwahrscheinlich eher stur an ihrer jeweiligen Einkommensquelle festhalten - also weiterhin Gewinne produzieren oder Erwerbsarbeit verrichten -, als der Volksgesundheit durch die Unterbrechung von Sozialkontakten Rechnung zu tragen. Das muss die Staatsgewalt deshalb eigens anordnen - und sieht sich damit in der Pflicht, für die Folgen und Schäden dieses gesellschaftlichen Lockdowns aufzukommen.
Der Staat, der normalerweise von den diversen Zwangsabgaben seiner Bevölkerung lebt, wird der aktuellen Beschränkungen wegen vorübergehend und anteilig zu einer Art Ernährer, der mit nach oben offenen Finanzmitteln in die Lücken der "Wertschöpfungsketten" einspringt. Die Schädigung vieler Wirtschaftsinteressen, Steuereinnahmen inklusive, wird dennoch nicht vermieden, macht also bei Staatsleuten und Bürgern das Bedürfnis immer dringlicher, möglichst schnell wieder in den alten Normalzustand zurückzukehren. Allerdings, zumindest wenn es nach den politisch Zuständigen geht, nicht auf Kosten der Volksgesundheit. Aus diesen Widersprüchen resultiert das Hin und Her zwischen Bund und Ländern, Wissenschaftlern und Managern, wetteifernden Kanzlerkandidaten, meinungsbildenden Journalisten u.a. zur Frage des passenden Ausstiegs aus dem Corona-Lockdown.
Die schrittweise in Funktion gesetzte Marktwirtschaft soll endlich wieder die kapitalistischen Einkommensquellen von Lohn und Gewinn ergiebig und ihre Besitzer erneut zu Schmieden ihres Glücks machen. Das, so sei hier in notwendiger Kürze gesagt, ist die ganze Quintessenz der Grundrechte von Freiheit und Gleichheit, also der Berechtigung aller zur Teilnahme am pursuit of happiness‚ an dem viele notwendig scheitern.
Wo wir heute stehen
Dieses Hin und Her trifft nun auf gewisse Erfolge bei der Seuchenbekämpfung durch den Einsatz der Staatsmacht. Auf dieser Grundlage beginnt der Versuch der politischen Klasse, auch mithilfe der Virologen, der Pandemie analog zu anderen Volkskrankheiten Herr zu werden, mit denen eine kapitalistische Industrienation leben kann und muss. Anders ausgedrückt: Die pandemiebedingte Vorzugsstellung der Volksgesundheit soll wieder zugunsten der anderen wichtigen Staatsziele relativiert werden.
Der Shutdown wird gelockert, das Ausmaß davon bleibt aber umstritten - und aus beiden Gründen erhält im Volk eine Art Widerspenstigkeit Auftrieb, die sich in der Flatten-the-curve-Phase aus Einsicht oder Opportunismus zurückgehalten hat. Jetzt schließt sich sozusagen der Kreis zum Anfang der Pandemie, als - siehe ganz oben - in der Demokratie und ihrer "offenen Gesellschaft" "Vorteile" und Resilienz sogar in Virus-Fragen gesichtet wurden.
Schäuble und Palmer
W. Schäuble (Bundestagspräsident) oder B. Palmer (Oberbürgermeister) liefern dazu eine Begleitmusik. Ersterer will in einem Gespräch "nicht allein den Virologen die Entscheidungen überlassen, sondern auch die gewaltigen ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen abwägen". Und wenn er hört, "alles habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss [er] sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. […] Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. […] Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen."
Schäuble ficht hier zwar leicht gegen den Spiegel, denn niemand glaubt, die Grundrechte würden ihn vor dem Tod bewahren, nicht einmal vor einem frühen. Außerdem kann einem Toten die Würde gestohlen bleiben. Der Zusammenhang von Schutz des Lebens und Menschenwürde ist ohnehin ein gesuchter und soll ausdrücken, dass sich irdische Interessen immer auch vor und unter einem Wertehimmel zu verantworten haben.
Kein Wunder, dass die AfD positiv auf Schäuble einsteigt und definiert, wie sie die besagte Würde gewahrt sehen will: In der Abwehr von "Schäden, welche Staat und Gesellschaft durch die Corona-Maßnahmen nehmen", von "nachhaltigen Wohlstandsverlusten", vom "Absinken der Lebenserwartung" und von "Einschränkungen der Grundrechte", so Gauland - also vergleichbar der Abwehr von "Gefahren", die auch von zu vielen Migranten ausgehen.
Auch Palmer kennt die höheren Werte und legt, gewieft, wie er ist, im Frühstücks-TV noch einen Zahn zu: "Und wenn Sie die Todeszahlen anschauen durch Corona, dann ist es bei vielen so, dass eben Menschen über 80 insbesondere sterben. […] Und insoweit müssen wir abwägen, ich sag's Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären […]. Aber die weltweiten Zerstörungen der Weltwirtschaft sorgen nach Einschätzung der UNO dafür, dass der daraus entstehende Armutsschock dieses Jahr eine Million Kinder zusätzlich das Leben kostet."
"Wir" legen also die Leute über 80, deren Haltbarkeitsdatum binnen Jahresfrist vielleicht ausläuft, statt auf Intensiv lieber gleich auf Palliativ, um den Kindern in Afrika zu helfen? Sollen die in die freigehaltenen Notfallbetten? Palmers Heuchelei ist wenigstens darin geständig, dass er sich offenbar keine bessere Hungerhilfe vorstellen kann als die, welche auf der Rückkehr der Weltwirtschaft in den kapitalistischen Normalbetrieb beruht und von ihm abfällt. Ansonsten aber ist, auch nach grüner Auskunft, "nach Corona" in der Welt bekanntlich "nichts mehr wie vorher" …
"Wir sind das Volk!"
Die genannten Einlassungen tragen also ihren Teil zur genannten Widerspenstigkeit in Teilen des Volks bei, die sich in Stuttgart, Berlin und anderswo versammeln und zu Wort melden.
Unzufriedenheit mit und Ärger oder Enttäuschung über die staatlichen Corona-Maßnahmen einigen und spalten zugleich die buntscheckige "Querfront" aus Alleinerziehenden auf Kurzarbeit oder im Homeoffice und einkommensgeschädigten Hoteliers und Mietshausbesitzern; "Infrastruktursozialisten" und "Neoliberalen", die künftig mehr bzw. wieder weniger Staat in der Wirtschaft sehen wollen; Klimaleugnern und Klimaschützern, die das CO2-Ziel für einen Fluch bzw. einen Segen halten; Impfgegnern und Bargeldfreunden, die beide den Staat auf Abstand von ihrem Körper bzw. ihrem Geldbeutel halten wollen; Migrationskritikern und Flüchtlingshelfern, die sich um Schaden bzw. Nutzen einer vergangenen "Willkommenskultur" streiten (vgl. G. Schuster: Die Willkommenskultur hat fertig).
Was bleibt ihnen allen da anderes übrig, als sich vorübergehend auf die gemeinsamen Parolen "Wir sind das Volk!" und "Verteidigt die Grundrechte!" zu verständigen, womit sie, wie gesagt, ganz unterschiedliche Dinge meinen. Während die einen darunter den freien Zugang zu den alten Arbeitsplätzen und Löhnen verstehen, also fordern, das zu dürfen, was sie müssen, sehen die anderen in der Gewerbefreiheit oder schon in der Lizenz zum Bierausschank ein Gebot der Menschenwürde.
Ein Rechtsprofessor (A. Fisahn) stellt fest, die "Ermächtigung für eine Dienstpflicht für medizinisches Personal" stehe der im Grundgesetz festgeschriebenen "Unzulässigkeit des Arbeitszwanges" entgegen - unbekümmert der nicht unwesentlichen Frage, ob diese Dienste vielleicht nicht wegen Zwang, aber wenigstens aus einem einsehbaren Grund heraus geleistet werden sollten.
Andere nehmen sich den "Kontroll- und Überwachungsstaat" per se vor, wie er für sie in den zwei Novellen zum Infektionsschutzgesetz Ende März und Mitte Mai aufscheint, die den Gesundheitsminister ermächtigen, befristet Ausnahmen von geltendem Recht einschließlich bestimmter Grundrechte zu verfügen. Ob die Exekutive, dafür stehen die Beispiele Frankreich oder China, unter dem Stichwort vom "Durchregieren" einige Regelungen des Notstands tendenziell in die Zeiten der Normalität hinein verlängern möchte, weil sie die Handhabung der Gewaltenteilung oder sonstiger Friktionen bei der Bestimmung der Staatsräson erleichtern, kann man sich fragen.
Der Ruf nach guter Herrschaft
Ob das die Kritik der versammelten Grundrechts-Verteidiger ist, steht allerdings auch in Frage. Deren eher linke Abteilung hält die Staatsmacht für einen gemeinen Feind, der sie und die einfachen Leute, die sie zu vertreten meinen, unterdrücken und ausbeuten will, ohne dass ein näheres Weiß-Warum dafür angegeben werden müsste, als dass es eben der Staat der Monopole oder der Reichen sei. Ihm gegenüber gelte es, die Grundrechte zu verteidigen, die solche Linken, theoretisch ebenso nur oberflächlich geprüft, mit den Bedingungen ihrer fortschrittlichen Sache verwechseln.
Die mehr rechtsaußen Angesiedelten begehen die intellektuelle Waghalsigkeit, die pandemischen Regierungsmaßnahmen als Beweis unlauterer oder verborgener Absichten zu dechiffrieren, also beispielsweise die Kanzlerin oder gar den redlichen Virologen der Charité als Beschädiger der Volksinteressen, wenn nicht als Marionetten von Bill Gates & Co zu entlarven. Wissenschaft ist ihrerseits dadurch definiert, dass sie ihnen recht gibt, das Virus halten sie entweder für eine Erfindung oder seine Bekämpfung für eine totale Übertreibung, ihre Fake News dagegen für die Realität (vgl. Pandemie der Infantiliät). Von den Grundrechten erwarten auch sie sich das Voranbringen ihrer populistischen Sache.
Wenn es einen gemeinsamen Nenner dieser gegensätzlichen Verteidiger des Grundgesetzes gibt, die beide auf "Versagen des Staats vor seiner Verantwortung" plädieren - ausgerechnet gegen den Staat, der die FDGO doch formuliert hat und hütet -, dann diesen: Die Regierung belastet(e) mit ihren Maßnahmen nicht nur die verschiedenen Einkommensquellen, sondern beleidigt(e) auch das bürgerliche Individuum, das sein Zurechtkommen mit den Erfordernissen und Schranken der Konkurrenz seiner persönlichen und autonomen Erfolgseignung zurechnet, die Staat und Gesellschaft fördern sollen, aber doch nicht behindern dürfen.
Der Glücksschmied muss doch Zugang zum nötigen Amboss haben und darf sich den nicht von einem Nukleinsäure-Partikel verstellen lassen. Eine marxistische Zeitschrift folgert daraus dies: "Besonders empfindlich treffen die staatlich verhängten Beschränkungen das soziale Leben des Volkes, wo es gar nicht um Gelderwerb und Karriere geht, sondern um den Lebensgenuss, für den die Menschen sich den Notwendigkeiten des marktwirtschaftlichen Erwerbslebens fügen und für den das alles sich lohnen soll. In dieses kleine Reich der Freiheit lassen die Besitzer eines freien Willens sich überhaupt nicht gerne hineinregieren", was "zur ideellen Aufkündigung des gewohnten staatsbürgerlichen Gehorsams führt".
Diese Kündigung wird von materiellen Nöten zwar angetrieben, von der Zurückführung derselben auf "Staatsversagen" zugleich aber verfremdet und unkenntlich gemacht. Die Folge davon ist, dass diese Art von Opposition über den Ruf nach einer besseren Herrschaft über die Fährnisse einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft samt ihrer Grundrechte kaum hinauskommt.