Der Internationale Strafgerichtshof entscheidet über Untersuchung in Afghanistan

Chefanklägerin Fatou Bensouda fordert die Einleitung einer Untersuchung über die Situation in Afghanistan. Screenshot vom ICC-Video

Die Chefanklägerin will auch gegen Amerikaner wegen Foltervorwürfen ermitteln

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Am Internationalen Strafgerichtshof (ICC) wird womöglich eine Untersuchung über Kriegsverbrechen in Afghanistan eröffnet. Nach der Mitteilung der ICC-Präsidentschaft soll nun eine Vorverfahrenskammer die Entscheidung treffen, ob eine Untersuchung eröffnet werden soll. Fatou Bensouda, seit 2015 Chefanklägerin des ICC aus Gambia, hat den Antrag gestellt. Sie sei zur Überzeugung gekommen, schreibt sie, dass in Afghanistan Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rahmen des bewaffneten Konflikts begangen worden sind.

Man könne aber nur Vorfälle untersuchen, die seit 2003 stattgefunden haben, da erst dann das Rom-Abkommen für Afghanistan in Kraft getreten ist, das es im Februar 2003 ratifiziert hat. Aufhorchen lässt, dass Bensouda Kriegsverbrechen von allen Parteien "unabhängig und objektiv" untersuchen will, also nicht nur von den Taliban und dem IS, sondern dann wohl auch von den Nato-Staaten, die mit Militär was auch immer am Hindukusch verteidigt haben. Explizit genannt werden die USA.

Untersucht werden sollen, wenn es zu einer Ermittlung kommen sollte, die" schwersten Verbrechen, die in Verbindung mit der Situation begangen" worden sind. Man werde alles dafür tun, um sicherzustellen, dass bei der Ausübung des Mandats sensibel mit dem Leiden der Opfer in Afghanistan umgegangen wird. Man werde aber weiterhin alle nationalen Verfahren berücksichtigen und einbeziehen. Bensouda hofft auf die Kooperation der afghanischen Regierung, der anderen Staaten und der internationalen Gemeinschaft, um die Verantwortlichen für Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen und den Opfern Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Der ICC steht schon lange unter dem Druck, Ermittlungen in Afghanistan aufzunehmen, was nun erst nach massiver Kritik vor allem afrikanischer Länder an der Einseitigkeit und einem ersten Austritt einem Beschluss näher gerückt ist.

Chefanklägerin wirft US-Soldaten und CIA-Mitarbeitern Folter vor

2007 waren bereits vorläufige Ermittlungen eingeleitet worden. Es gab zahlreiche Berichte über das Ergebnis der einleitenden Ermittlungen. Den letzten Bericht hatte Fatou Bensouda im November 2016 vorgelegt (Kommentar: Schein der Gerechtigkeit). Dort heißt es zu Afghanistan, man habe nach den Ermittlungen eine vernünftige Grundlage zu glauben, dass folgende Verbrechen in Afghanistan im Rahmen des Konflikts begangen wurden:

  1. Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen seitens der Taliban und dem verbunenen Haqqani-Netzwerk;
  2. Kriegsverbrechen der Folter und damit verbundener Misshandlungen durch afghanische Sicherheitskräfte, vor allem durch den Geheimdienst und die Afghanische Nationalpolizei;
  3. Kriegsverbrechen der Folter und damit verbundener Misshandlungen durch in Afghanistan eingesetzte US-Soldaten und in Geheimgefängnissen, die von der CIA betrieben wurden, primär im Zeitraum 2003-2004, was in einigen Fällen aber angeblich bis 2014 geschehen ist.

In Bezug auf die Geheimgefängnisse könnten auch Ermittlungen in Polen, Litauen und Rumänien eingeleitet worden. Auch hier betrieb die CIA Geheimgefängnisse, in denen auch angebliche al-Qaida-Mitglieder festgehalten, verhört und womöglich gefoltert wurden, die aus Afghanistan verschleppt wurden. Es seien zwar auch zahlreiche Zivilisten Opfer von Kampfhandlungen der internationalen Truppen geworden, aber es gebe hier keine Beweise, dass diese absichtlich angegriffen worden seien. Der afghanischen Regierung wird vorgeworfen, nur äußerst selten eine Strafverfolgung von mutmaßlichen Tätern eingeleitet zu haben. Überdies hat das afghanische Parlament ein 2009 in Kraft getretenes Gesetz verabschiedet, der allen an Kämpfen teilnehmenden Parteien Amnestie gewährt. Auch den USA wird vorgeworfen, zwar einige Ermittlungen über Folter und Misshandlungen von Gefangenen in Afghanistan durchgeführt, aber trotz der Schwere der Vorwürfe ohne Anklageerhebung eingestellt zu haben.

USA könnten nach einem Gesetz sogar militärisch gegen den ICC vorgehen

Die USA sind dem Rom-Abkommen nicht nur nicht beigetreten, sondern haben versucht, es zu kippen oder Staaten vom Beitritt abzuhalten (US-Regierung droht der EU wegen des Internationalen Strafgerichtshofs).

George W. Bush hat die Unterschrift von Bill Clinton zurückgenommen und zusätzlich den American Service-Members' Protection Act 2002 in Kraft gesetzt, nach dem die USA letztlich auch mit militärischen Mitteln Amerikaner, die vom ICC festgehalten werden, befreien können (US-Bürger und Alliierte sollen auch mit Gewalt vor dem Zugriff des Internationalen Gerichtshofs geschützt werden).

Mit Afghanistan haben die USA im September 2002 - wie inzwischen mit vielen anderen Ländern - das Abkommen nach dem extra in Abwehr vom ICC geschaffenen Artikel 98 geschlossen, mit dem die afghanische Regierung zugestimmt hat, keine Amerikaner dem ICC zu überstellen oder einer dritten Partei dies ohne Genehmigung der US-Regierung zu erlauben. Umgekehrt werden auch die USA keinen Afghanen dem ICC überstellen. Überdies war ein Status of Forces Agreement (SOFA) vereinbart worden, nach dem alle Angehörigen der USA Immunität vor krimineller Strafverfolgung durch afghanische Sicherheitsbehörden genießen, sie sind auch nicht zivil belangbar, ausgenommen für Handlungen, die außerhalb ihrer Pflichten stattfinden.

Auch in Abkommen mit der Nato hat Afghanistan eingeräumt, dass die Nato-Staaten das "exklusive Recht" der Rechtsprechung über Mitglieder ihrer Streitkräfte und des zivilen Personals besitzen, wenn diese kriminelle oder zivile Straftaten in Afghanistan begangen haben. Ausgenommen davon sind Nato-Contractors. Der ICC kann nur dann gegenüber Mitgliedsländern tätig werden, wenn diese nicht in der Lage oder unwillens sind, Täter zu verfolgen und ordentliche Gerichtsverfahren durchzuführen. Das wird der ICC bei den Nato-Staaten nicht nachweisen können, so dass man davon ausgehen kann, dass zwar ermittelt wird, aber dass etwaige Verbrechen, die von US-, aber auch von Nato-Personal begangen wurden, nicht zu Konsequenzen führen werden.

Hintergrund der Initiative der Chefanklägerin dürfte sein, dass Gambia zusammen mit Burundi, Kenia, Simbabwe, Uganda und Südafrika dem ICC vorwirft, einseitig zu sein. Der Vorwurf ist berechtigt, denn verfolgt werden nur Vorfälle in Afrika oder wie in Ex-Jugoslawien, wo westliche Staaten außen vor bleiben. Burundi ist deswegen Ende Oktober aus dem ICC ausgetreten.

Dem ICC wird "Verfolgung und Demütigung von Menschen mit dunkler Hautfarbe, insbesondere von Afrikanern", vorgeworfen, während die "Kriegsverbrechen" westlicher Politiker nicht verfolgt würden. So habe sich das Gericht geweigert, Tony Blair wegen des Irak-Kriegs anzuklagen. 30 westliche Staaten hätten Kriegsverbrechen begangen, keines sei verfolgt worden (Der ICC zerfällt). Jetzt also könnte in Afghanistan ein Exempel stattfinden, allerdings vermutlich ohne Folgen für beschuldigte Amerikaner.