EM 2024: Das schöne neue Deutschland
EM 2024 war kollektive Therapie und Vision zugleich: Migranten feierten, Faschisten entfremdeten sich von Deutschland. Eine euphorische Nachlese.
Die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland ist zu Ende. Millionen Menschen in Deutschland und Europa feierten ihre Mannschaften mit Leidenschaft. Es waren schöne Wochen der kollektiven Ekstase in Zeiten der allgemeinen Verunsicherung und Angst. Ein Turnier, das natürlich auch politisch und kulturell aufgeladen war.
Eskapismus aus der falschen Welt
Wir werden auf allen Bildschirmen permanent mit schlechten Nachrichten und Updates einer untergehenden Zivilisation zugeschüttet. So war die Sehnsucht groß für eine Auszeit, in der wir für einigen Wochen die schönen Bilder von tollen Spielen sehen und die guten Nachrichten lesen, wie Menschen überall zusammenkommen und friedlich zusammen feiern.
"Wir haben seit 2006 gezeigt", so die Fußballlegende Lothar Matthäus, "dass wir zusammen feiern können, und nicht nur gegeneinander." 2006 war Deutschland nach langer Zeit wieder Gastgeber der Weltmeisterschaft in, die in ein "Sommermärchen" mündete, indem ein neues Bild von diesem Land um die Welt ging: gute Stimmung in den Stadien und Menschenmassen in den Fanmeilen, dazu neuen eine bunte und ethnisch bunte Mannschaft, die hervorragenden Fußball spielte und die Herzen der Menschen nicht nur in Deutschland gewann.
Das Phänomen "Public Viewings" war geboren, wo in allen Kneipen, Gärten und auch im privaten Runden Menschen zusammenkamen und fröhlich und farbenfroh miteinander feierten. Das alte Bild der grauen und auch hässlichen Deutschen war vergessen, das neue bunte Deutschland wurde zum Exportschlager.
Im Vergleich zu heute waren es damals sorglose Zeiten. Wie gut taten nun in diesem Sommer wieder diese Feste. Auf den Straßen, bei den großen Fanmeilen, aber auch im kleinen Public Viewings kamen Freunde, Familie und die Nachbarschaft zusammen, um gemeinsam die Spiele zu schauen, zusammen zu leiden und zu feiern.
In der "Gesellschaft der Singularitäten", wo insbesondere nach der Pandemie Vereinsamung und Angstzuständen zu verbreiteten Phänomenen geworden sind, war dieses Turnier eine willkommene Angelegenheit, wieder mit Freunden und Fremden Momente von Gemeinschaft zu erleben. Darin war dieses Turnier eine Art Eskapismus von den schlechten Nachrichten der Welt und eine kollektive Therapie für eine gespaltene und von Angstzuständen geprägte Gesellschaft.
Einigkeit, Recht und Vielfalt
Es ist viel dran an der These, dass die großen Fußballturniere heutzutage vielleicht das sind, was das Nationaltheater im 19. Jahrhundert war. Anhand der Performance der Mannschaften und den Fanmassen wird dabei symbolisch das ausgehandelt, was die kollektive Identität eines Landes ausmacht.
In den vergangenen Wochen wurde also auch die Frage besprochen, was ist eigentlich deutsch und wie steht es um Deutschland.
Kurz nach den Europawahlen und mitten in den spannenden Wahlen in Frankreich fand diese Europameisterschaft in einem politisch zerrissenen und vom Aufstieg der Rechtsradikalen gezeichnetem Europa statt.
Das alles geht an Fußball nicht vorbei. Sport und Fußball müssen deutlich Position beziehen gegen die Rechten, so der deutsche Erfolgstrainer des österreichischen Fußballbundes Ralf Rangnick. Der Weltstar Kylian Mbappé und andere Spieler der französischen Nationalmannschaft nutzten die Pressekonferenzen dieser EM, um immer wieder zur Wahl gegen die Rechten in Frankreich aufzurufen.
Der Deutsche Fußballbund DFB setzte in diesem Zusammenhang klare Zeichen: Verband und Spieler haben noch stärker als 2006 ein Bild von Deutschland als eine offene und plurale Gesellschaft gestärkt und diese Spiele als eine Möglichkeit gesehen, wo anhand vom Fußball die Werte für eine friedliche und aktive Zusammenhalt der Gesellschaft wieder in den Vordergrund rücken sollte.
Mannschaft eines weltoffen Deutschlands
Noch stärker als damals 2006 sollte das Bild eines modernen, offenen Deutschlands diese Spiele bestimmen. Das Team war eine sympathische Truppe aus allen Teilen des Landes mit allen Gesichtsfarben und ethnischen Wurzeln, wo zum ersten Mal mit İlkay Gündoğan ein Türkeistämmiger Kapitän Deutschlands war.
Auf Tiktok trendeten die EM-Hymnen mit schwarz-deutschen Mamis und Deutschland-Fahnen, während in den Fanmeilen eine bunte deutsche Jugend zusammen feierte. Schwarz-rot-gold wurde in diesen Tagen umgedeutet.
Während die völkischen Rechten der AfD offen sich von dieser Mannschaft distanzierten und diese als eine Söldnertruppe beschimpften, hat die migrantischen Gesellschaft sich das Deutschsein ein weiteres Stück angeeignet.
Migrantinnen und Migranten stolz auf Deutschland
Es wurde ein Stück normalisiert, dass Migrantinnen und Migranten stolz auf ihr Deutschland sind, während die Faschisten sich mehr von Deutschland entfremden. Fußball tat in einigen Wochen vielleicht mehr gegen Rassismus, als die etablierte Politik in einigen Jahrzehnten.
Natürlich köchelte auch gelegentlich das Toxische des Nationalismus in der schwarz-rot-goldenen Folklore hoch, und es gab auch rechtsextreme Vorfälle bei dieser EM, insbesondere bei den Fans aus Ungarn, Österreich und der Türkei. Und es war leider spürbar, wie die Liebe zu Deutschland in der arabischen und moslemischen Bevölkerung erkaltet ist, nach der einseitigen und von Rassismus geprägten Nahostpolitik des deutschen Establishments.
Doch letztlich war das Bild dieser Tage bestimmt von einer bunten Truppe, die einen starken Zusammenhalt vorlebte, und von den riesigen Fanfesten, wo alle zusammen friedlich aber ekstatisch feierten.
Deutsche: Gute Gastgeber mit schlechter Infrastruktur
Der Kapitän Gündoğan hielt die Anspreche vor dem Turnier und rief alle dazu auf, in diesen Wochen das weltoffene und gastfreundliche Deutschland zusammen vorzuleben.
Und so war es auch, besonders, wenn man sich die vielen Stimmen der Besucherinnen und Besucher aus anderen Ländern anschaut. Sie waren vor allem über zwei Sachen überrascht: Erstens erlebte man die Deutschen als gute Gastgeber, etwas, was man traditionell gar nicht mit den Deutschen verbindet. Auf den Straßenfesten wurden die Besuchergruppen herzlich empfangen, und das gemeinsame Feiern wurde überall großgeschrieben.
Die zweite Überraschung war die schlechte Infrastruktur hierzulande. Das Bild der vielen verdreckten Straßen und die überforderte Müllabfuhr, die marode Deutsche Bahn, die ja schon im Alltag versagt und natürlich nicht imstande war, die großen Gruppen vernünftig zu transportieren. Und das Internet. Naja, wir wissen es, aber für viele Menschen aus dem Ausland war es ein Schock zu erleben, wie Deutschland die Digitalisierung verschlafen hat.
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Trotz dieser Schockerfahrung über die Krise der Infrastruktur im früheren Vorzeigelandes der Moderne aber: Die Zeit in Deutschland erlebten die Gäste als eine schöne Erfahrung. Es gab nicht den pompösen Prunk der letzten Weltmeisterschaft im vom Petrodollar verkorksten Katar. Aber die Organisation, die freundlichen und hilfsbereiten Menschen, und eine faire Fußball- und Fankultur waren die Themen in den sozialen Medien, die die ausländischen Gäste beeindruckt hatten.
Fußball war früher ein Hort der aggressiven Männlichkeit, und es gab auch dieses Mal einzelner Schlägereien. Doch es ist erstaunlich, wie friedlich insgesamt die riesigen Fan-Ansammlungen von Zehntausenden teilweise stark alkoholisierten Menschen verliefen.
Dazu hat auch die Feminisierung des Fußballs ein gutes Stück beigetragen. Darin ist Deutschland ein Vorreiter, und wir sind auch mit diesem Turnier ein gutes Stück vorangekommen. Es ist ein unter anderem ein Genuss zu sehen, wie viele kompetente Kommentatorinnen inzwischen die Fußball-Berichterstattung prägen.
Positive Vision für Deutschland
Dabei war der deutsche Fußball in der Dekade zuvor in einer scharfen Krise und die Angst groß vor einem schlimmen Scheitern in diesem Turnier groß.
Erst in jüngster Vergangenheit übernahm ein junges Trainer-Team um Julian Nagelsmann und seither weht ein neuer Wind. Ein neuer Teamgeist wurde geweckt, und sie schafften sie es mit ihrem Mannschaftsgeist und schönem Spiel die Menschen zu begeistern.
Entscheidend war aber auch das Geschehen neben dem Platz. Diese Spieler waren so unterschiedliche und sympathische Figuren, die eine starke und liebevolle Gemeinschaft vorlebten, und wir waren im Netz live dabei.
Es war sehr rührend zu hören, dass die deutschen Spieler nach dem Ausscheiden beim Verlassen des Mannschaftsquartiers Tränen in den Augen hatten, wie Nagelsmann das selbst unter Tränen bei der Pressekonferenz berichtet. Sie beweinten nicht das Spiel, das sie verloren hatten, sondern die gemeinsame Erfahrung, die endete.
Es war dieser Zusammenhalt dieser bunten Truppe von unterschiedlichen Persönlichkeiten, die sie zum Erfolg trug und womit sie die Herzen der Menschen gewinnen konnten. Darin, so Nagelsmann, könne die Gesellschaft vom Fußball lernen.
In diesen Zeiten voller negativer Nachrichten und Energien sollten wir uns auch wieder auf die schönen Seiten des Lebens und des Landes besinnen. Auf unsere Fähigkeiten, zusammenzustehen, und zusammen das Leben zu feiern.
Fußball gilt als die schönste Nebensache der Welt. Vielleicht kann es auch mehr sein: eine positive Vision für ein krisenhaftes Deutschland.