Ex-Vizepräsident und ERC-Spitzenkandidat Junqueras darf nicht im Parlament erscheinen
Fürchtet sich der spanische Staat mehr vor einer breiten Massenbewegung als vor 20 Jahren vor der bewaffneten ETA?
Ziemlich absurd kann die "unabhängige" spanische Justiz handeln. Der Richter am Obersten Gerichtshof in Spanien, Pablo Llarena, hatte schon Haftverschonung für den katalanischen Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Linken (ERC) Präsidentschaft verweigert, die er zuvor dem gesamten Parlamentspräsidium gewährt hatte und in deren Genuss auch sechs Ministerkollegen kommen. Sie wurden freigelassen, sind aber mit denselben Anschuldigungen konfrontiert wie Junqueras. Nach einer neuen Entscheidung des Richters am Freitag darf Oriol Junqueras auch nicht in einen Knast nach Katalonien verlegt werden, damit der ERC-Spitzenkandidat am kommenden Mittwoch an der konstituierenden Sitzung des Parlaments nach den von Spanien verordneten Zwangswahlen teilnehmen kann.
Llarena begründet das mit möglichen "schweren Auseinandersetzungen", die im Rahmen des Transports bei Protesten auftreten könnten, schließlich seien die Zeitpunkte der Parlamentssitzungen bekannt und es könne zu Demonstrationen kommen. Es ist wie mit den "grotesken" Anschuldigungen wegen "Rebellion" und "Aufruhr", wie es führende Verfassungsrechtler sehen. Es muss auch für diesen Beschluss von Seiten Unabhängigkeitsbewegung herbeifabuliert werden. Denn die gab es in mehr als sieben Jahren auch bei riesigen Mobilisierungen nie. Sie gab es aber von staatlichen Sicherheitskräften, die sogar in einer gut geplanten militärähnlichen Operation gegen friedliche Teilnehmer eines Referendums mit größter Brutalität vorgegangen sind.
Man hat vor Demonstranten, die bisher stets friedlich blieben, offenbar mehr Angst als vor einer äußerst aktiven bewaffneten Untergrundorganisation. Denn sogar der spanische Sondergerichtshof machte einst den Weg für einen baskischen Untersuchungshäftling frei, damit das mutmaßliche ETA-Mitglied im Februar 1987 an einer Parlamentssitzung im baskischen Gasteiz (Vitoria) teilnehmen konnte. Der Nationale Gerichtshof hatte die Entscheidung darüber an ein Lokalgericht abgegeben, wo nach Gesetzen und nicht nach politischer Vorgabe entschieden wurde. Und so konnte Juan Karlos Ioldi einen Tag vor der konstituierenden Parlamentssitzung in naheliegenden Knast Nanclares de la Oca verlegt werden, obwohl die ETA in der Zeit äußerst aktiv war - 1986 werden ihr 43 Todesopfer zugeschrieben - und in ihrer Geschichte auch immer mal wieder Gefangene befreit hat. Der damals 24-jährige Ioldi hatte 1986 für die linksnationalistischen Partei Herri Batasuna (HB) kandidiert und war, wie Junqueras nun für die ERC, der HB-Kandidat für den Posten des baskischen Präsidenten. Das macht die Absurdität der Entscheidung gegen Junqueras in aller Deutlichkeit klar. Und auch Demonstrationen, auch gewaltsame, gab es in der Zeit im Baskenland ebenfalls immer mal wieder, anders als in Katalonien heute. Die ETA stellte ihren bewaffneten Kampf jedenfalls erst 2011 ein und ist seit knapp einem Jahr vollständig entwaffnet.
Damals hatte sich die spanische Justiz, trotz dauernder ETA-Anschläge, noch dafür entschieden, die politischen Rechte eines Untersuchungsgefangenen zu wahren. Heute geschieht das nicht einmal mehr bei Politikern, die eine Bewegung anführen, die nachweislich gewaltfrei ist und die stets zur strikten Gewaltfreiheit aufgerufen haben. So kann man sich fragen, ob die Demokratiedefizite heute noch deutlich größer als damals sind oder ob sich der spanische Staat vor einer breiten Massenbewegung deutlich mehr fürchtet als vor einer aktiven bewaffneten Organisation. Klar ist jedenfalls, dass Ioldi nicht zum "Lehendakari" gewählt wurde. Er wurde ein Jahr später zu 25 Jahren Haft wegen ETA-Mitgliedschaft, Lagerung von Kriegswaffen und Zerstörung mit Folge von schweren Verletzungen verurteilt. Dem gewaltfreien Junqueras drohen heute 30 Jahre wegen angeblicher Rebellion.
Im spanischen "Absurdistan", wie einige Beobachter von den "Gauklerstücken der spanischen Justiz" sprechen, kann man aber sogar noch einen darauf setzen. Denn der Richter hat zwar noch nicht darüber entschieden, ob er den ebenfalls inhaftierten Jordis und dem früheren Innenminister Joaquin Forn Haftverschonung gewährt oder nicht. Sie wurden von ihm am Freitag erneut befragt, aber es wurde bereits entschieden, dass auch der gewählte Jordi Sànchez und Forn nicht an der konstituierenden Sitzung teilnehmen dürfen. So kann man auch der eigenen Entscheidung vorgreifen. Es ist nun eigentlich schon klar, dass auch sie keine Haftverschonung erhalten werden.
Und es geht noch absurder. Llarena weist das Parlament an, nach einer Möglichkeit zu suchen, dass die drei gewählten Parlamentarier ihre Stimme delegieren können. Da hat jemand offensichtlich schon jetzt Angst davor, dass vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof abgewatscht zu werden, wenn man in zu offensichtlicher Art und Weise versuchen würde, durch die Inhaftierungen das Wahlergebnis zu verfälschen.
Madrid will verhindern, dass der bisherige Präsident Puigdemont wieder zum Präsident gewählt werden kann
Allerdings hört man aus Spanien den ganzen Tag aus allen Rohren, es sei nicht möglich, dass der aus dem Amt gejagte Präsident Carles Puigdemont die erneute Amtseinführung delegiert, weil er sich in Belgien befindet. Die regierende rechtsradikale Volkspartei (PP) hat schon Verfassungsklage angekündigt. Sie will "mit allen Mitteln" verhindern, dass Puigdemont gewählt wird, während er im belgischen Exil weilt.
Dabei will ihn Spanien weiterhin verhaften, obwohl das Land die Europäischen Haftbefehle gegen Puigdemont und vier Mitstreiter zurückziehen musste, da die spanischen Anschuldigungen vor der unabhängigen belgischen Justiz keine Aussichten auf Erfolg gehabt hätten. In Spanien bestehen sie aber weiter. Die fünf würden also sofort verhaftet. Und der zuständige Richter hat ja nun mehr als deutlich klargestellt, dass er wegen herbeifabulierten schweren Zusammenstößen auch sie dann nicht an den Parlamentssitzungen teilnehmen lassen würde. Es soll ganz offensichtlich mit allen Mitteln verhindert werden, dass der bisherige Vizepräsident Junqueras oder der bisherige Präsident Puigdemont zum Präsident gewählt werden können. Angesichts des Falles Ioldi und der Tatsache, dass der Richter komplett der absurden Argumentation des Ministeriums für Staatsanwaltschaft folgt, darf man wohl kaum noch von einer unabhängigen Justiz sprechen.
Es ist allerdings nicht einmal geklärt, ob die Absetzung des Präsidenten, die Auflösung seiner Regierung und des Parlaments überhaupt rechtmäßig waren. Genug Zweifel an einer verfassungswidrigen Anwendung des verwendeten Verfassungsparagraphen 155 hat anscheinend auch das spanische Verfassungsgericht, das gerade die Klage dagegen angenommen
Man kann natürlich auch spekulieren, dass das Urteil angesichts des politisierten Gerichts längst feststeht, in dem die Kandidaten der rechten PP die Mehrheit stellen. Wurde die Klage nur angenommen, um den Gang vor den Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg zu verzögern? Denn zuvor muss der Rechtsweg im Land abgeschlossen sein, der mit der Annahme der Klage nun eben noch nicht abgeschlossen ist. Nun können viele Jahre ins Land gehen, bis die höchsten Richter endgültig entscheiden. So lange kann sich Straßburg nicht mit dem Fall befassen. Dass sie in wenigen Tagen oder Wochen entscheiden, wie gegen das Referendums- oder Übergangsgesetz, die in nur wenigen Stunden außer Kraft gesetzt wurden, braucht man wahrlich nicht zu erwarten.
Kampf gegen katalanische Medien
Derweil kann man auch unliebsamen katalanischen Medien weiter auf die Pelle rücken. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der ohnehin schon an die Leine gelegt wurde und weder über die große Demonstration der Katalanen in Brüssel und damit über die größte Veranstaltung im Wahlkampf berichten durfte, soll nun über illegale rückwirkende Anwendungen von Gesetzen finanziell ausgeblutet werden.
Der Freitag spricht vom "fiskalischen Waterboarding" in Katalonien. Man wolle versuchen, "den zivilen Widerstand der Independentistas mittels ökonomischer Schulden- und Angstpolitik brechen bzw. sie nachhaltig gefügig machen kann, wenn man ihnen die Luft zum Atmen wohldosiert zudrückt". Die "unbestrittene Norm in allen demokratischen Ländern, dass eine Steuererhöhung keine rückwirkende Geltung haben darf, sonst würde jede wirtschaftliche und kaufmännische Planung mit Sicherheit unmöglich gemacht", wird im Fall der Katalanen gebrochen. So habe Finanzminister Cristóbal Montoro die Kriterien für die Anwendung der Mehrwertsteuer auf Kulturleistungen geändert - auch rückwirkend für die letzten drei Jahre. "Einer der Hauptgründe für diesen Husarenstreich ist es gewesen, den katalanischen Fernsehsender TV3 ins Mark zu treffen. Aufgrund des neuen Gesetzes hat das spanische Finanzministerium an TV3 eine Forderung über 168 Millionen Euro, wovon 30 Millionen gleich zu entrichten sind."
Das stellt natürlich die Existenz des Senders infrage, den man in Madrid für besonders lästig hält. Man versucht in Katalonien offensichtlich diesen Weg, da man im Baskenland mit den illegalen Schließungen von Medien - wie auch höchste Gerichte die vorläufigen Schließungen aburteilten - nicht sonderlich weit kam. Stets war am Folgetag eine neue Zeitung am Kiosk, und auch das Foltern von Journalisten, wofür Spanien in Straßburg verurteilt wurde, hat das nicht verhindert.
So kommt auch der Freitag zu dem Ergebnis: "TV3, dessen Qualität in den europäischen Fachkreisen hochgelobt wird, ist seit eh und je ein Dorn im Auge der spanischen Machthaber, weil der anders als die wichtigsten spanischen TV-Sender seine Unabhängigkeit bewahrt hat und sich nicht als bloßer und williger Verkünder von alldem was die spanische Regierung verbreiten will - sei es richtig oder falsch - benutzen lässt." Getroffen wird durch das Vorgehen aber die Kultur insgesamt. Auch Festivals, Theater und Museen haben darunter zu leiden.
Neu ist die rückwirkende Anwendung von Gesetzen in Spanien wahrlich nicht. So hat man mit dem Verbot der baskischen Partei Batasuna (Einheit) 2003 sogar rückwirkend die schon oben erwähnte Herri Batasuna und Euskal Herritarrok verboten, die man vor der extra auf die Parteien zugeschnittene Reform des Parteiengesetzes nicht hatte verbieten können. Auf die Nase gefallen ist die spanische Rechte auch mit ihrer rückwirkenden Kürzung von Vergütungen für die Einspeisung von Solarstrom. Das Land hat die Vergütungen gleich mehrfach zusammengestrichen, was von einem internationalen Gericht als "übertrieben" eingestuft wurde. In einem ersten Verfahren wurde Spanien schon zu Schadensersatz verurteilt. Dutzende Entscheidungen stehen noch aus, die das Land etliche Milliarden kosten dürften.