Festungsmauern gegen Einwanderer
Statt auf Steuerung und Integration setzt Europa auf die Befestigung von Grenzen
Die Vereinten Nationen haben den 20. Juni zum Weltflüchtlingstag erklärt. Eine Gelegenheit, einen Blick auf die Politik der Abschottung zu werfen, die Europa betreibt. Die Bundesrepublik braucht Migranten und tut doch zusammen mit ihren Nachbarstaaten alles dafür, sie abzuhalten, auszugrenzen und abzuschieben. Die längst gelebte multikulturelle Realität wird geleugnet und schwindende Zuwanderungszahlen werden wider jeder Vernunft als politische Erfolge gefeiert.
Zur Zeit ist die Welt zu Gast bei Freunden in Deutschland (Ideeller Überbau). Ein großes internationales Fußballfest soll die Weltmeisterschaft werden und überall werden begeistert schwarzrotgoldende Fahnen geschwungen (Zurück in die Steinzeit?).
Das Motto gilt natürlich nicht für Migranten und Flüchtlingen, sondern nur für Fußball-Touristen, am liebsten nur für diejenigen, die keine Probleme mit ihrer permanenten Überwachung durch den Staat haben (Die WM und die Bürgerrechte). Einwanderer sind dagegen nicht erwünscht, obwohl alle Analysen klar zeigen, dass die Bundesrepublik sie brauchen könnte. Eine gesteuerte Einwanderungspolitik könnte das viel diskutierte Problem der Überalterung der Gesellschaft lösen.
Stattdessen wird die Ausländerpolitik der Europäischen Union zunehmend unter sicherheitspolitischen Aspekten diskutiert. Migranten werden als störende Fremdkörper wahrgenommen, die sich in Parallelgesellschaften und Ghettos zurückziehen, oder sogar als potenzielle Terroristen. Der Versuch, die Grenzen zu überqueren, wird zum Angriff erklärt. Wer es trotzdem schafft, europäischen Boden zu erreichen, muss damit rechnen, dass er durch seine Existenz einen Verstoß gegen die Gesetze darstellt.
Die so genannten Illegalen stellen ein unsichtbares Heer von Billiglohnarbeitern, ohne die unter anderem im Pflegebereich, in der Landwirtschaft, in privaten Haushalten und auf dem Bau oft gar nichts mehr gehen würde. Nach Schätzungen leben in der Bundesrepublik zwischen 500.000 und 1,2 Millionen Menschen ohne Aufenthaltsstatus in totaler Rechtlosigkeit. Dazu kommen 200.000 langjährig Geduldete, wie sie in der Behördensprache genannt werden. Real bedeutet das, dass sie ständig von Abschiebung bedroht sind und alle paar Wochen oder Monate auf der Ausländerbehörde ihre Papiere verlängern lassen müssen. Inzwischen bekommen sie als Folge der Einführung des neuen Zuwanderungsgesetzes in vielen Fällen auch keine Arbeitsgenehmigung mehr, selbst wenn sie schon seit Jahren erwerbstätig waren und sie bekommen sowieso nur die Jobs, die nachweislich kein Deutscher oder EU-Ausländer will.
Mindestens 21 Millionen Menschen sind aktuell weltweit auf der Flucht (UNHCR: Weltweit weniger Flüchtlinge, mehr Binnenvertriebene). Gleichzeitig sind international mindestens 175 Millionen Migranten unterwegs (Null Toleranz).
Europa ist schon lange ein Einwanderungskontinent. In der Bundesrepublik hat jeder fünfte Einwohner einen Migrationshintergrund, wir der neueste Mikrozensus feststellt. Mehr als 15 Millionen Menschen in Deutschland sind Zuwanderer oder Kinder von Zuwanderern. Acht Millionen davon haben sich bereits einbürgern lassen. Nach Schätzungen der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung werden im Jahr 2010 fast 40 Prozent der Einwohner Deutschlands bis zu einem Alter von 40 Jahren von Migranten abstammen, die seit der Gastarbeiter-Anwerbung zugezogen sind. Deutschland ist faktisch ein Einwanderungsland – mit erstaunlich hohen Zahlen (Globale Mobilität).
Umso erstaunlicher ist es, dass jeder Rückgang der Zuwanderungszahlen von der Politik als Erfolg gefeiert wird, als könne Deutschland ganz patriotisch vor „Überfremdung“ geschützt werden. Selbst der Ehegatten- und Familiennachzug von Ausländern (bzw. ausländischen Partnern deutscher Staatsbürger) wird allen Beteiligten so schwer wie möglich gemacht. Bundesminister Dr. Schäuble erklärte am 16. Juni:
Der heute dem Kabinett vorgelegte Migrationsbericht 2005 belegt, dass die Zuwanderung nach Deutschland deutlich zurückgeht. So sind etwa für den Ehegatten- und Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen im Jahr 2005 nur noch 53.000 Visa ausgestellt worden – nach 76.000 im Jahr 2003 und 66.000 im Jahr 2004. Mit nur noch knapp 29.000 Erstantragstellern ging die Zahl der Asylbewerber um fast 19 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück. Außerdem sank die Zahl der Spätaussiedler auf 35.000.
Migrationsbericht 2005
Als Flüchtling noch legal nach Deutschland einzureisen, ist praktisch inzwischen fast unmöglich. Eigentlich sollte es auch machbar sein, an den Grenzen eines Staates um Asyl zu bitten, aber dieser simple Grundsatz gilt längst nicht mehr. Seit der Verschärfung des deutschen Asylrechts 1993 gilt die Drittstaatenregelung, d.h. wer durch eines der angrenzenden, als sicher geltenden Nachbarländer einreist, wird sofort wieder dorthin abgeschoben (Novellierungen des Asylverfahrensgesetzes). Das gilt sogar, wenn der Betreffende in einem verschlossenen Container über den Landweg eingereist ist (Kein Asyl bei Durchqueren eines sicheren Drittstaates in einem verschlossenen und verplombten Lkw).
Hoffnungen und Grenzen
Wer ohne gültiges Visum auf einem deutschen Flughafen ankommt und um Asyl bittet, muss damit rechnen, im Transitbereich sofort in Abschiebehaft genommen zu werden. Nach einem Schnellverfahren kann sein Verfahren als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt werden und der Flüchtling wird ungehend ausgeflogen, ohne dass ein Gericht die Entscheidung nochmals überprüft (Flughafenverfahren).
Wer unter diesen Umständen seinen Pass vernichtet, macht sich selbst zum Illegalen – und ist nach dem neuen Zuwanderungsgesetz verpflichtet, seine Identitätsverschleierung aufzugeben und aktiv an der Beschaffung der Papiere für eine Abschiebung mitzuwirken – ansonsten macht er sich strafbar. Da bleibt im Grunde nur die Alternative, sich Schleppern anzuvertrauen, die für eine Einreise mit entsprechenden Papieren sorgen oder den Pass einzuschweißen und schwimmend die Nordsee- oder Ostseeküste zu erreichen.
Verschärfungen der Migrationsmöglichkeiten führen, obwohl wie immer betont wird, das Gegenteil zu beabsichtigen, zu kriminellen Schlepper- und Menschenhändlerstrukturen. Darauf machte erst kürzlich wieder der Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan aufmerksam, als er an die Weltgemeinschaft appellierte, Migration zu lenken, statt sie nur stoppen zu wollen. Migranten leisten in den Staaten, in die sie zuwandern wertvolle Arbeit und sie schicken mehr Geld nach Hause, als die gesamte Entwicklungshilfe ausmacht, die Staaten weltweit umsetzen – insgesamt 232 Milliarden Dollar. Kofi Annan will ein ständiges Forum schaffen, in dem möglichst viele Regierungen vertreten sein sollten:
Die internationale Gemeinschaft sollte sich auf die Qualität und Sicherheit der Migration konzentrieren und darauf, wie man den Nutzen für die Entwicklung maximieren könnte.
Thema Migration kann im Rahmen der UNO besprochen werden, so Generalsekretär Annan
Wie bereits erwähnt, wäre es für Europa überaus sinnvoll, den viel diskutierten, anhaltenden Geburtenrückgang mit gesteuerter Zuwanderung auszugleichen (Also doch: Inder statt Kinder!). Das Ziel müsste also eigentlich sein, geeignete Kandidaten zur Einwanderung einzuladen und sie entsprechend willkommen zu heißen. Doch stattdessen bringt das neue deutsche Zuwanderungsgesetz keine Erleichterung, sondern weitere Restriktionen, und Europa macht an allen Grenzen gegen Migranten mobil. Die Festung Europa soll mit großen finanziellen und technischen Aufwand dicht gemacht werden (Drohnen für die EU-Grenzen).
Unmenschlichkeit
An den Stränden der Inseln südlich des italienischen Stiefels und auch an anderen Mittelmeerküsten werden fast täglich die Leichen ertrunkener Flüchtlinge angeschwemmt und alles, was der europäischen Politik dazu einfällt, ist ein weiterer Ausbau der Festungsmauern: Rasche Deportation der Flüchtlinge, die lebend das Ufer erreichen und die Einrichtung von Lagern in nordafrikanischen Staaten, die alle nicht gerade Musterbeispiele der Demokratie und der Respektierung von Menschenrechten sind (Zero Migration und Spanien richtet Lager in Marokko ein).
Zudem wird es auch für die Zuwanderer, die bereits hier sind, immer enger. Von Chancengleichheit oder sozialer Gerechtigkeit kann für sie keine Rede sein. Es ist im Grunde wenig erstaunlich, dass ihre systematische Ausgrenzung dazu führt, dass sie sich in so genannte „Parallelgesellschaften“ zurückziehen und Werte der „Leitkultur“ ablehnen, von der sie sich sowieso immer nur ausgeschlossen und nie akzeptiert fühlten.
In ihrem absolut empfehlenswerten, ebenso gut recherchierten wie berechtigt wütendem Buch "Gestürmte Festung Europa" stellt die Journalistin Corinna Milborn fest:
Dieser Mauerbau führt dazu, dass Europa seine eigenen Grundwerte verrät – nicht nur, weil an den Außengrenzen und an den inneren Bruchlinien der Gesellschaft Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind. Vor allem wird der Grundsatz verraten, auf dem die europäische Gesellschaft aufbaut: das Versprechen der Gleichheit und der sozialen Gerechtigkeit. Es hat sich eine Oberschicht von Alteingesessenen gebildet, die alle Vorteile dieser europäischen Grundwerte genießen und eine Unterschicht von Einwanderern und ihren Nachkommen, die faktisch davon ausgeschlossen sind und immer öfter unter ghettoähnlichen Bedingungen wohnen. Darunter liegt ein Subproletariat von zehn Millionen illegalen Migranten, deren billige Arbeit ganze Wirtschaftszweige erhält …. – die aber keinerlei Rechte genießen und jederzeit festgenommen und abgeschoben werden können. Diese Situation ist explosiv: Die europäische Gesellschaft stolpert blindlings in die Spaltung.
Corinna Milborn, Gestürmte Festung Europa, Graz: Styria, 2006, ISBN 3222132054, EUR 19,90, mit Fotos von Reiner Riedler
Corinna Milborn hat dort recherchiert, wo sich die Brüche der europäischen Werte bereits abgrundtief auftun: Rund um den Zaun von Ceuta, bei den Illegalen sowohl in Andalusien (die für billige Erdbeeren in unseren Supermärkten sorgen) als auch in Wien und Paris, in österreichischen Asyllagern, in den Pariser Banlieues, unter jungen Islamisten in London und bei den potenziellen Auswanderern in Burkina Faso.
Klar ist, dass die Migranten nicht aufhören werden, sich aufzumachen in Richtung des gelobten Landes Europa. Ebenso klar ist, dass vor allem in den europäischen Metropolen Einwanderer-Ghettos entstanden sind, die ein gefährlicher Nährboden für Extremisten sind, weil vor allem die zweite und dritte Generation der Zuwanderer begriffen hat, dass sie sowieso keine Chance auf Partizipation hat. Und Europa reagiert auf diese Situation ausgerechnet mit einer (para-)militärischen Aufrüstung an den Grenzen und Repression nach innen.
Selbst schlichtes menschliches Mitgefühl scheint abzusterben, wenn die Angst vor den Fremden die Herrschaft übernimmt. Breit ist die Geschichte der Flüchtlinge durch die Medien gegangen, die gegen die Zäune von Ceuta und Melilla anstürmten. Menschen, die nichts als ein menschenwürdigeres Leben suchten, wurden am Zaun erschossen. Alle nahmen beim Erklettern des Zauns in Kauf, schwer verletzt zu werden oder sogar zu sterben ("Anschlag auf die Grenze").
Danach räumte das marokkanische Militär das Lager auf ihrer Seite des Zauns, brachte die Flüchtlinge in Bussen in die Wüste an die (geschlossene) Grenze zu Algerien und setzte sie dort einfach aus. Der Organisation Ärzte ohne Grenzen, die dem Konvoi gefolgt war, gelang es einige hundert Menschen zu retten; wie viele in der Sahara verdursteten, ist nicht bekannt ("Man muss die Flüchtlinge mit allem Respekt als menschliche Wesen behandeln"). Die Flüchtlinge, die es geschafft hatten, den Zaun zu übersteigen, wurden danach trotzdem ohne Asylverfahren sofort in ihre Heimatländer abgeschoben. Kein Aufschrei der Empörung ging durch Europa. Stattdessen verhandelten die Regierungen verstärkt mit den nordafrikanischen Staaten über die gemeinsame Eindämmung der „Asylflut“.
„Europa nimmt für die Bekämpfung der Flüchtlinge den Bruch der eigenen Werte, der Menschenrechte und der Genfer Flüchtlingskonvention in Kauf“, schreibt Corinna Milborn und merkt danach gleich an, dass das den Ansturm nicht aufhalten wird. Diejenigen, die sich aus Staaten wie Burkina Faso auf den weiten Weg machen, wissen, dass der Weg nach Europa ihren Tod bedeuten kann, sie sind sich darüber bewusst, denn vor ihnen blieben schon viele andere auf der Strecke. Das hält sie nicht ab. Sie haben nichts zu verlieren.
Lager und Abschiebung
In Europa erwartet sie erstmal nichts Gutes. Auch in Deutschland werden Flüchtlinge in Lagern untergebracht, zunächst dürfen sie nicht arbeiten, sie dürfen unter Strafandrohung ihren Landkreis nicht verlassen (Das Lagersystem für Flüchtlinge). Ihre Anträge werden geprüft und fast immer abgelehnt. Dann beginnt die Zeit der Kettenduldungen, die sich über viele Jahre hinziehen kann. Längst fordern viele Organisationen inklusive der Kirchen, und auch die Bundesintegrationsbeauftragte Maria Böhmer von der CDU, ein Bleiberecht für Geduldete, die sich seit mehr als sechs Jahren in dieser belastenden Situation befinden (Kampagne Hiergeblieben). Die letzte Innenministerkonferenz hat einmal mehr die Entscheidung darüber vertagt, dafür aber die Bedingungen für die Einbürgerung verschärft (Einbürgerung erschwert).
Die Unmenschlichkeit und Härte des Abschiebesystems sind einer breiten Bevölkerung bekannt, nicht zuletzt durch sehr die sehr gute Fernseh-Dokumentation "Abschiebung im Morgengrauen" von Michael Richter, für die es den Grimme-Preis gab, oder die WDR-Reportage "Härte mit System - Wie Deutschland abschiebt".
Abschreckungsmaßnahmen, die niemanden davon abhalten den Weg nach Europa einzuschlagen, und die dennoch inhuman für die sind, die es geschafft haben. Wenn der Staat so mit deutschen Staatsbürgern umgehen würde, wären alle schockiert. Immer wieder wurde der Umgang des deutschen Staates in Hinblick auf Menschenrechtsfragen von Experten diskutiert, hinterfragt und die Missstände angeprangert (Internationale Menschenrechtsabkommen und die Anwendung in Deutschland).
Artikel 1 der Menschenrechtserklärung lautet: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ Nur scheinen manche etwas freier und gleicher zu sein. Solange sich das nicht ändert, werden die Menschen, die zur zweiten Klasse erklärt werden, sozialer Zündstoff bleiben. Corinna Milborn kommt zu dem Fazit: „Es gibt nur einen Ausweg aus der Sackgasse, in der Europas Integrations- und Einwanderungspolitik steckt: einen radikalen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft.“
Einwanderer sind de facto ein Teil der Gesellschaft und das positive Beispiel Kanadas zeigt, dass eine Politik, die auf wirkliche Integration aller Einwohner als Staatsbürger mit gleichen Rechten, Pflichten und Chancen abzielt, funktionieren kann. Dazu müssen aber auch Wege zur gesteuerten Zuwanderung eröffnet werden, damit nicht alle gezwungen sind, in die Sackgasse Asylrecht zu laufen.
Und dann müssen alle mitarbeiten, denn es ist nicht nur die Aufgabe der Migranten, sich zu integrieren. Die alteingesessene Gesellschaft muss genauso zur Integration bereit sein und sich dafür engagieren. Dann wird sich zeigen, dass die bereits sehr vielfältige deutsche Kultur, zwischen Gartenzwergen und Designermöbeln, Schuhplattlern und Punkmusik, wortkargen Norddeutschen und plauderfreudigen Rheinländern, durchaus mit noch mehr Vielfalt bereichert werden kann.