Friendly Fire in Kiew?
Seite 7: "Am besten dokumentierte Massentötung"
- Friendly Fire in Kiew?
- Beweisarme Anklage
- Rechtsradikale Täter von Beginn an ausgeschlossen
- "Maidan-Selbstverteidiger" bildeten bewaffnete Gruppen
- ZDF: Brisantes Bildmaterial erst im März gezeigt
- Schon morgens gab es erste Gerüchte über Sniper
- "Am besten dokumentierte Massentötung"
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Die Untersuchungen zu den vier am 20. Februar erschossenen und mehr als 30 Verwundeten Polizisten laufen getrennt von dem Verfahren zu den erschossenen Maidankämpfern und -helfern ab - obwohl mehrere Beweise, wie gleiche Kugeln und vergleichbare Schusswunden darauf hindeuten, dass Polizei und Demonstranten durch dieselben Schützen getötet wurden, unterstreicht Ivan Katchanovski. "Die Ermittler haben nicht mal versucht, die Kugeln zu vergleichen, um herauszufinden, ob beide Gruppen aus denselben Waffen getötet wurden."
Es sei unmöglich, dass erfahrene GPU-Ermittler so viele grundlegende Fehler immer in Richtung der Regierungsversion vom Massaker nur zufällig begehen, zweifelt Katchanovski. "Das Maidan-Massaker ist vielleicht die am besten dokumentierte Massentötung in der Geschichte." Es wäre durchaus schnell zu lösen gewesen, ist der gebürtige Westukrainer überzeugt. Das dies nicht geschehen sei, sei nur ein weiterer Indikator dafür, dass die Untersuchungen aus politischen Gründen bis heute verfälscht werden.
Opferanwälte: Generalstaatsanwaltschaft und Staatsspitze blockieren
Opferanwälte beschwerten sich in Interviews immer wieder, dass es weder unter dem ersten Generalstaatsanwalt nach dem Machtwechsel, Oleh Machnizkyj (Swoboda), noch unter dem zweiten, Vitalij Jarema (Vaterland-Partei), eine ernsthafte Untersuchung der Morde gab. Besonders unter dem Swoboda-Mann seien zahlreiche Beweise verschwunden oder vernichtet worden, so die Juristen. Fraglich dabei bleibt, ob es alte Seilschaften der Sicherheitskräfte sind, die hier etwas verschleiern wollen, wie viele Opferanwälte vermuten, oder ob die neuen Machthaber Spuren verwischen wollen.
Unter dem am 16. Februar auf Druck von Poroschenko zurückgetretenen Chef-Staatsanwalt Schokin seien die Ermittlungen vor allem durch die Staatsspitze und das Innenministerium behindert worden. Schokin sei nichts weiter als eine Marionette Poroschenkos, sagt etwa der ukrainische Journalist und Abgeordnete Sergej Leschtschenko:
Der Generalstaatsanwalt ist keine eigenständige Figur, sondern vollständig von Präsident Poroschenko abhängig. Ich würde ihn sogar als ein Spielzeug von Poroschenko bezeichnen. Kein einziges Verfahren kann beginnen, wenn der Präsident das nicht will.
Es gebe zahlreiche Fälle in denen die GPU nicht ermittele, obwohl ihr Unterlagen auf dem silbernen Tablett geliefert würden.
Janukowitsch: "Habe keinen Schießbefehl gegeben"
Die Staatsanwaltschaft habe bislang auch keine Beweise für ihren Vorwurf vorgelegt, dass der damalige Präsident Janukowitsch die Schüsse angeordnet habe, sagt Ivan Katchanovski. Viktor Janukowitsch selbst sprach in einem Interview mit der BBC im Juni 2015 davon, dass er nie einen Schießbefehl oder Ähnliches herausgegeben habe. "Ich war kategorisch dagegen", betonte der abgesetzte Präsident der Ukraine. "So etwas lag auch gar nicht in meiner Befugnis", ergänzt er auf Nachfrage. Er habe keine Informationen, dass überhaupt jemand einen Feuerbefehl gegeben habe, sagte er in dem Interview mit dem britischen Sender in seinem Moskauer Exil.8
Zweimal erklärte die GPU im vergangenen Jahr zudem, dass der russische Präsident Wladimir Putin nichts mit den Todesschüssen auf dem Maidan zu tun habe. "Wir haben keine russische Spur", sagte Generalstaatsanwalt Schokin. "Die Materialien, die wir jetzt haben, machen es unmöglich, einen solchen Schluss zu ziehen. Nicht, weil wir diesen Schluss nicht ziehen wollten, sondern weil es keine Grundlage dafür gibt." Der ukrainische Präsident Poroschenko und Walentyn Nalywajtschenko, Chef des ukrainischen Geheimdienstes SBU, hatten zuvor behauptet, Wladimir Putins persönlicher Berater, Wladislaw Surkow, sei als Befehlsgeber der Schützen in das Blutbad involviert gewesen.
Täter des 18. Februar ebenfalls unbekannt
Weiter unaufgeklärt bleiben auch die zahlreichen Todesfälle sowohl unter Maidananhängern als auch unter Sicherheitskräften in den Tagen vor dem 20. Februar. Schwere Straßenschlachten infolge eines Maidan-Marsches aufs Parlament forderten etwa am 18. Februar zweistellige Opferzahlen auf beiden Seiten. Bislang wurden keine Ermittlungsergebnisse der GPU hierzu veröffentlicht, erläutert Ivan Katchanovski. Es gebe nicht mal öffentlich bekannte Verdächtige.9
Klar ist heute, dass auch vor dem 20. Februar Maidankämpfer schon Schusswaffen einsetzten. Maxim Popow, ein Sanitäter des Roten Kreuzes, bestätigte laut einem Bericht der Welt, dass schon am 18. Februar scharf auf Polizisten geschossen wurde. Er selbst habe hinter einer Barrikade zwei mit Jagdwaffen erschossene Polizisten liegen sehen.
Ein Berkut-Mann in dem Artikel unterstreicht dies genauso wie Oberst Timur Zoj von der Spezialeinheit Tiger in einem Spiegel-Online-Artikel. Er verlor bereits am 18. Februar zwei seiner Leute durch Kugeln, die vom Maidan abgefeuert wurden. Ähnliches erlebte sein dort zitierter Berkut-Kollege Andrej.
"Ein Schuss hat meine Jacke an der rechten Schulter zerrissen. Neben mir traf eine Kugel einen Kameraden in den Bauch." Zwei Tage später, am Morgen des 20. Februar 2014, gerät Andrejs Berkut-Stoßtrupp massiv unter Feuer, fünf seiner Leute werden verletzt. Andrej hat 23 Jahre bei Berkut gedient, und er ist sich sicher, dass aus einer Kalaschnikow auf seine Männer geschossen wurde.
Arbeitsverweigerung einer staatlichen Institution?
Dass diese Täter aber auch die Mörder von Maidankämpfern durch die GPU noch zweifelsfrei ermittelt werden, wird mit jedem weiteren Tag unwahrscheinlicher. Zwar ist es üblich, dass solch komplexe Ermittlungen lange Zeit in Anspruch nehmen, doch scheint es im Fall der Maidan-Todesschüsse - wie gezeigt - vor allem an politischem Willen zur Aufklärung zu mangeln.
Es kursieren viele Theorien darüber, was am 20. Februar vor zwei Jahren in Kiew geschah. Von bezahlten Profi-Scharfschützen über kaltblütige Polizisten bis hin zur wilden Ballerei beider Seiten, von CIA über FSB bis zu rechtsextremen Gladio-II-Snipern sind Unmengen von Vermutungen im Umlauf.
Einzelne Wissenschaftler und Journalisten haben teils auf eigene Faust umfangreiche Aufklärungsarbeit geleistet. Doch für eine vollständige glaubwürdige Aufklärung des Verbrechens können nur großformatige, professionelle Ermittlungen sorgen. Dass die zuständige staatliche Institution in der Ukraine aus politischen Gründen sachliche Ermittlungsarbeit verweigert, scheint nach zwei Jahren jedoch mehr als offensichtlich.
Immerhin: BBC-Reporter Gabriel Gatehouse, der als einzelner Journalist viel zur Wahrheitsfindung in der ganzen Angelegenheit beigetragen hat, berichtete vor einem Jahr, dass er mit einem erfahrenen Ermittler der GPU gesprochen habe. Dieser sei überzeugt, dass wer auch immer vom Hotel Ukraina geschossen hat, beide Seiten ins Visier nahm. Es sei ein ausgearbeiteter Plot gewesen, um maximales Chaos zu stiften. Zumindest inoffiziell gibt es bei der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft also mehr als nur einen Wissensstand.