Friendly Fire in Kiew?

Seite 2: Beweisarme Anklage

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Beweise habe die GPU für ihre Anklage bisher kaum vorgelegt, kritisiert der ukrainisch-kanadische Politikwissenschaftler Ivan Katchanovski, der die Todesschüsse in einer eigenen Studie untersucht hat.2

Die Anklage basiere lediglich auf wenigen Videos und auf ballistisch-forensischen Berichten, die sich mit Schüssen auf 21 Maidankämpfer befassen. Das Filmmaterial von schießenden Berkut-Polizisten, das Ankläger vor Gericht zeigten, sei aber gar nicht in der Zeitphase aufgenommen worden, als zahlreiche Maidankämpfer von Heckenschützen umgebracht wurden, sagt Katchanovski nun gegenüber Telepolis. Im Gegenteil: Aus einigen dieser Videos seien sogar Sequenzen mit bewaffneten Maidankräften herausgeschnitten worden.

Die GPU habe zudem bis heute für die allermeisten der Getöteten am 20. Februar weder Todeszeitpunkt noch Position rekonstruiert. Die wenigen Nachweise hierzu seien nur sehr ungenau durchgeführt worden, die ermittelten Positionen der Opfer zum Todeszeitpunkt wichen erheblich von den tatsächlichen, in Aufnahmen zu sehenden Positionen ab. Die ballistischen Flugbahnen seien mehr geschätzt, als exakt berechnet worden. Messinstrumente seien dafür bspw. gar nicht benutzt worden, kritisiert Katchanovski, der an der Universität von Ottawa lehrt. Die tatsächliche Herkunft der tödlichen Kugeln kann so kaum festgestellt werden.3 Obwohl dutzende Menschen bei den jeweiligen Todesschüssen anwesend waren, spielen Zeugenaussagen fast gar keine Rolle in dem Prozess.

Viele Opfer seien aus steilen Winkeln, also von deutlich höher gelegenen Positionen aus, erschossen worden, stellten die bisher veröffentlichten rechtsmedizinischen Gutachten fest. Diese Winkel passen jedoch nicht zu den Positionen der angeklagten Berkut-Polizisten. Die Polizeibarrikade auf der Institutska befand sich fast horizontal zu den vorrückenden Maidankämpfern. Die Schusswinkel und Trefferrichtung passten jedoch sehr wohl zu Schützenpositionen aus hohen Gebäuden wie etwa dem Hotel Ukraina oder dem Oktoberpalast - beide in Maidanhand, erklärt Katchanovski.

Munition passt nicht zu Anklage

Einen schweren Ermittlungsfehler gab die Staatsanwaltschaft nun immerhin erstmals zu: Sie ließ nur einen kleineren Teil der sichergestellten Kugeln vom 20. Februar untersuchen. "Damit wurde also fast vollständig auf eine der wichtigsten Beweisarten bei solchen Ermittlungen verzichtet", kritisierte Katchanovski. Lediglich ein Drittel der mehr als 100 Geschosse, die Ärzte aus Verwundeten oder Getöteten herausoperierten oder die Ermittler in Bäumen, Wänden und auf dem Boden fanden, wurden ballistisch oder forensisch untersucht.

Am 12. November wurde im Prozess zudem bekannt, dass die herausoperierten Kugeln weder zu den Geschossen passen, die Berkutpolizisten am 20. Februar abfeuerten, noch zu den Kugeln der Innenministeriumstruppen. Zwar passe das Kaliber (7,62 x 39mm) zu Kalaschnikow-Sturmgewehren und Jagdgewehren (die auf der Kalaschnikow basieren), doch waren neben Berkut auch Maidankampftrupps mit genau solchen Waffen unterwegs, erläutert Katchanovski. Fotos und Aussagen von Maidanschützen bestätigen das.

Laut der bisher bekannten forensischen Gutachten wurden mindestens 16 Maidankämpfer mit diesen sogenannten M-43-Patronen getötet, drei weitere durch Schrotkugeln für die Jagd. Das Gericht stellte fest, dass mindestens neun Opfer mit ein und derselben Waffe erschossen wurden.

Generalstaatsanwalt ignoriert eigene Erkenntnisse

Die GPU leugne immer noch sämtliche Belege für tödliche Schüsse aus Maidan-kontrollierten Gebäuden - obwohl Beweise und Indizien hierfür erdrückend sind und von Beginn an vorlagen, wie etwa Filmmaterial des ukrainischen Senders ICTV oder der BBC sowie Zeugenaussagen von hinten beschossener Maidankämpfer.4 "Die Generalstaatsanwaltschaft ignoriert damit sogar ihre eigenen Untersuchungsergebnisse", kritisiert der Universitätslehrer aus Ottawa.

Das schrittweise in der Verhandlung veröffentlichte Ermittlungsmaterial widerspreche zum großen Teil der Anklageschrift. "Es bestätigt aber die Erkenntnisse meiner Studie über das Maidan-Massaker", so Katchanovski (Scharfschützenmorde in Kiew). "Besonders dass die Mehrheit dieser 49 Protestierenden vom Hotel Ukraina und anderen vom Maidan kontrollierten Gebäuden aus getötet wurde."

Dabei hatte die GPU im vergangenen Jahr sogar selbst ein Internationales Beratergremium (IAP) des Europarats informiert, dass sie zahlreiche Hinweise auf Schützen in vom Maidan kontrollierten Gebäuden habe. Mindestens drei der 49 getöteten Maidanaktivisten seien aus Sicht der Generalstaatsanwaltschaft vom Hotel Ukraina bzw. vom Konservatorium aus erschossen worden, heißt es im Bericht des IAP (Seite 42, Absatz 255). Zudem gebe es Informationen darüber, dass noch zehn weitere Opfer von Hausdächern aus erschossen wurden. Nun wolle die GPU davon nichts mehr wissen, so Katchanovski.