Hebräischer Humanismus

Seite 3: Sonderfall oder Universalismus? Falsche Alternativen für eine Moral nach Auschwitz

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Welche „Lehren aus Auschwitz“ sind zu ziehen? Muss man nicht den Massenmord an den Juden Europas in seiner Unvergleichlichkeit stehen lassen und auf dieser Grundlage den 1948 gegründeten jüdischen Staat Israel als Heimstätte wider den Judenhass betrachten. Oder soll eine „Moral nach Auschwitz“ das Nichtaussprechbare und nicht Vermittelbare der Shoa in eine universelle Achtung der Menschrechte übersetzen? Diese alternative Gegenüberstellung ist nach meinem Dafürhalten konstruiert und falsch.

Am Beispiel der Reaktionen auf das Manifest der 25 ließe sich gut aufzeigen, welche Funktion die Konstruktion „einmalig/besonders oder universell“ haben kann.6 Die Autoren des Manifestes taten nur kund, dass sie BESTIMMTE Formen des besonderen deutschen Verhältnisses zu Israel ablehnen (nämlich die Rüstungslieferungen, eine irgendwie geartete Ausnahme für Israel bezogen auf Moral/Völkerrecht und den Verzicht auf deutliche Kritik). Im Übrigen bekannten sie sich ausdrücklich zur Freundschaft mit Israel. Unterstellt wurde ihnen aber sogleich, sie wollten (als Universalisten) ein besonderes Verhältnis zwischen Israel und Deutschland ÜBERHAUPT in Frage stellen.

Auch jüdische Israelkritiker wie Alfred Grosser oder Rolf Verleger lösen die Shoa nicht in etwas Abstrakt-Allgemeines auf. Es geht ihnen um Verantwortung – in Erinnerung an die Toten. Sie beziehen sich dabei auf ihre eigene Familie. Sie halten sich von unangemessenen „Holocaust-Vergleichen“ fern (die ja nach Belieben leider auch in „pro-israelischen Kreisen“ immer wieder vollzogen werden). Sie erheben ihre Stimme gegen den speziellen Judenhass von Nazis in Vergangenheit und Gegenwart. Sie fühlen sich Israel verbunden und wissen darum, wie die Gründungsgeschichte dieses Staates mit dem Mord an sechs Millionen Juden zusammenhängt. … Sie tun also das eine, ohne das andere zu lassen. Sie halten an jenem Leidensgedächtnis der Shoa fest, das nicht in Beliebigkeit und Austauschbarkeit verdunsten darf. Gleichzeitig ist Auschwitz für sie aber auch ein Aufruf, die eigene Stimme zu erheben, wo immer ein Menschenantlitz verachtet und geschunden wird.

Im Gegensatz dazu findet man bei Henryk Broder äußerst saloppe Formulierungen zum Gedächtnis der Shoa und überdies die – angesichts aktueller Ereignisse höchst fragwürdige – Behauptung, der offen rassistische Judenhass nach Naziart liege in den letzten Zügen.7 Im sauerländischen Schmallenberg z.B. sprühten die autonomen „Nationalen Sozialisten“ im Mai 2008 eine Parole, die nicht weit von Broders eigener Botschaft bezüglich der muslimischen Mitbürger entfernt ist: „Heute seid ihr tolerant, morgen fremd im eigenen Land.“ Die letzte Schändung des Judenfriedhofs am Ort liegt – wohl kaum rein zufällig – auch nicht lange zurück. Mit Broder: „… ein Fall für die Polizei und das örtliche Amtsgericht, nicht mehr. … Diese Art des Antisemitismus ist hässlich, aber politisch irrelevant, ein Nachruf auf sich selbst.“

Die Relativierung des überkommenen Judenhasses soll es an dieser Stelle ganz offenkundig möglich machen, erprobte Antisemitismusforscher und Antifaschisten – besonders aus dem linken Spektrum – wegen ihrer Israelkritik als „Antisemiten“ denunzieren zu können. Henryk M. Broder weiß, wie er sich die Dinge vorab passend konstruieren muss: „… der moderne Antisemit verehrt Juden, die seit 60 Jahren tot sind, nimmt es aber lebenden Juden übel, wenn sie sich zur Wehr setzen. Er ruft "Wehret den Anfängen!", wenn eine handvoll Hobbynazis in Cottbus aufmarschiert, rechtfertigt aber die Politik des iranischen Präsidenten und den Fortgang der Geschäfte mit dem Iran.“

Jüdische Israelkritiker wissen sehr wohl, dass sie hierzulande gerade als Juden helfen, ein Tabu zu durchbrechen (wodurch sie ja viel Zorn auf sich ziehen). Es gibt dabei auch Bedenken. Entsteht nicht der Eindruck, nur Juden dürften Israel kritisieren bzw. Juden hätten irgendwie mehr Recht zu dieser Kritik? Zugrunde gelegt wird doch eine für die gesamte Menschen- und Völkerwelt geltenden Moral. Deshalb sagt Iris Borchardt-Hefets, Mit-Erstunterzeichnerin von „Schalom 5767“, zugespitzt: Israelkritiker müssen „keinen Stammeszugehörigkeitstest absolvieren. Jeder darf Universalist sein.“ (S. 113)

Genau dieser „Universalismus“ soll aber, wie wir gesehen haben, angeblich etwas nicht Ehrenwertes sein. Er wird als Indiz für ein „unjüdisches Jüdischsein“ etc. gewertet. Gewiss, die „Goldene Regel“ des Rabbi Hillel taucht – zum Großteil dank des Judentums – in allen Kulturkreisen der Erde auf. Sie ist von Kant in sehr abstrakter Form formuliert worden. Dem anderen nicht anzutun, was einem selbst zuwider ist, ohne diese kinderleicht verstehbare und universale Weisung kann es keine Moral geben. Mit seinem Buch „Israels Irrweg“ erinnert Rolf Verleger daran: Zum Proprium des Judentums gehört sein ethischer Universalismus. Dieser kann also gar keinen Gegensatz bilden zu einem jüdischen „Spezifikum“ (vorausgesetzt, es geht um die tradierte und nicht um eine davon völlig abgekoppelte, postmodern konstruierte jüdische Identität).

Die Anwendung des jüdischen und zugleich universalen Ethos in der Israelkritik ist ein ausgesprochener Freundesdienst für Israel. Denn wo Israel im Umgang mit den Palästinensern das jüdische (und zugleich universale) Ethos missachtet, verletzt es auch seine eigene Integrität, werden die Feinde Israels mit „Futter“ für ihren Hass versorgt und die Terroristen von morgen gezüchtet.8