Hebräischer Humanismus

Rolf Verleger, ein Freund und Kritiker Israels, stellt die Tora ins Zentrum seiner Überlegungen. In diesem Fall bleibt uns die Klage über einen "jüdischen Antisemitismus" hoffentlich erspart

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Für 700.000 Palästinenser bedeutete die Gründung des Staates Israel Flucht oder Vertreibung und Enteignung. Wenn die Araber sich daran erinnern, sprechen sie von „Nakba“, der Katastrophe. 60 Jahre nach der Katastrophe wollen sich pubertierende Politzöglinge im Netz über die Leiden der Palästinenser amüsieren. Allahu Nakba! fällt einem Jünger von „Political Incorrectness“ und Gutachsentum zu den Ereignissen von 1948 ein. Der Stil der Vorbilder lässt sich, was Zynismus und Hetze betrifft, also durchaus noch steigern.

Plakat aus der bundesdeutschen Friedensbewegung, das die Tradition der „doppelten Solidarität“ illustriert

Komplexität und Widersprüche in der deutschen Israeldebatte sorgen derweil für immer mehr Verwirrung. Vorgebliche „Freunde Israels“ wie Henryk M. Broder marschieren aktuell in Richtung der Walser-Rede von 1998 und halten das Ende des herkömmlichen „Antisemitismus“ für ausgemacht. In nationalkonservativen Kreisen, die sich durch den Kronzeugen Broder und seine Jüngerschaft seit längerem ermutigt sehen, wird man sich freuen. Das hatte man ja schon immer gewusst, dass die eigentlichen Feinde nicht die alten Nazis, sondern die Kommunisten und die Muslime sind. Es gibt einen Grund, warum H. M. Broder sich aktuell nicht im Klartext von „Political Incorrectness“ abgrenzt. Das ist ja seine eigene Hurra-Botschaft: „Deutsche, löst euch von falschen Hemmungen. Wehrt euch gegen die Fremden!“

Dass es bei angeblich „pro-israelischen“ Kreisen, die sich in Sachen Fremdenfeindlichkeit und exzessiver Albernheit betätigen, zu immer mehr Schnittmengen mit dem Rechtsaußen-Spektrum in unserer Gesellschaft kommt, sollte nicht verwundern. Es kann aber noch trauriger kommen. Am Ende geben sich vorgebliche oder echte „neue Nazis“ im Rahmen eines sozialdarwinistischen Weltbildes als „pro-jüdisch“ aus und bezeugen ihren „Respekt“ vor Israels Überlebenskampf (Israelsolidarität von Rechts?). Dass zeitgleich auch ehemalige Internationalisten – ausgerechnet im Zeitalter einer global vernetzten Welt – als „Linke“ die „nationale Frage“ wiederentdecken wollen, macht das Gefüge der politischen Neukreationen noch unübersichtlicher (und unerfreulicher).

Inmitten solcher Wirrungen der Postmoderne ist es nicht selbstverständlich, wenn sich ein Autor zu einer suchenden Identität bekennt, die man mit herkömmlichen Anschauungen in Verbindung bringen und verstehen kann. Dies ist der Fall bei Prof. Rolf Verleger, der sich in seinem Buch „Israels Irrweg – Eine jüdische Sicht“1 (Köln 2008) ganz unzeitgemäß als ein durch Elternliebe und tradiertes Judentum beschenkter Mensch zu erkennen gibt. Der Lübecker Psychologe hatte sich 2006 als Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland von offiziellen Stellungnahmen zugunsten der israelischen Kriegsführungspolitik distanziert und die Berliner Erklärung Schalom 5767 initiiert.

„Was bedeutet es, Jude zu sein?“

Verleger entwickelt seinen Buchtext entlang von Fragen, die zum Teil verblüffend einfach erscheinen, darunter die Eingangsfrage: „Was bedeutet es, Jude zu sein?“ Er sucht die Antwort nicht abstrakt-allgemein, sondern sehr persönlich: 1951 geboren in Ravensburg und aufgewachsen in der „Parallelgesellschaft“ einer frommen jüdischen Familie, verbindet er die von Kindesbeinen an erlebte, praktizierte und erlernte Religion – die Schabbat-Abende und das „schönste Fest“ Pessach – mit „Wärme und Vertrautheit“ bzw. „einem Gefühl von Heimat“:

*

Das Judentum ist meine geistige Heimat … ich weiß, dass dies mein Zuhause ist. Natürlich hängt dieses Gefühl sehr mit meinem Gefühl für meinen Vater zusammen, für den es nach der Ermordung seiner Frau und seiner Kinder nichts Wichtigeres auf der Welt gab, als wieder Kinder zu haben: Ich war ein gewolltes Kind. Etwas Schöneres kann man über seine Herkunft nicht sagen.

Eine solche Hinführung zur Frömmigkeit ist für Kinder der Nachmordgeneration wohl alles andere als typisch. Erich Fromm würde den erzählten Kontext der religiösen Sozialisation als „biophil“ – lebensbejahend – charakterisieren. Das heute aussterbende „Modell“ verdient (unabhängig von diesem besonderen Fall) Beachtung, denn es bietet Voraussetzungen für einen Weg jenseits von Fundamentalismus und Beliebigkeit oder – positiv – für die Verbindung von Verwurzelung und Aufklärung.

Verleger beschreibt sein Verhältnis zur jüdischen Tradition nämlich nicht als ungebrochen oder widerspruchslos. Entscheidend ist, dass für ihn jüdische Identität bzw. Beheimatung untrennbar mit der religiös-ethischen Tradition des Judentums zusammenhängt. Im Elternhaus hat er – in Worten einer Gebetsbucheinleitung – gelernt, dass das Judentum durch seine Taten nach außen ausstrahlen soll, damit alle Völker erkennen: „der Tora Wege sind Wege der Güte, und all ihre Pfade sind Frieden“. Das ist die Grundlage dafür, „a stolzer Jid“ zu sein oder zu werden.

Für die Plausibilität dieses Ansatzes spricht zunächst, dass er sich nicht auf die von den neuzeitlichen Judenhassern vorgegebenen Definitionen und Deutungshorizonte bezieht (welche am Ende doch immer irgendwie beim Rasse-Begriff2 landen). Verleger macht uns bekannt mit einer jüdischen Identität, die auch von den ideologisch „weiterentwickelten“ Nachfahren der Nazi-Massenmörder niemals Beifall bekommen wird. Man kann wertkonservativ, liberal oder links sein und ihm zustimmen, aber niemals ein Rechter, sei es von der alten oder von der postmodern zusammengebrauten Art.

Prof. Rolf Verleger, Autor des Buches „Israels Irrweg – Eine jüdische Sicht“. Fot:o pivat

Kann man „auf einem Bein“ die ganze Tora lernen?

Nun soll ein frommer Jude alle in der Bibel enthaltenen „613 Aufträge“ beachten. In dieser Hinsicht kann und will Rolf Verleger mit seinem in Israel lebenden orthodox-religiösen Bruder nicht mithalten. Er fragt sich aber, ob es trotz der formalen Gleichrangigkeit nicht ein Zentrum aller Gebote und Verbote gibt. Die Lehrmeinung des Rabbi Akiwa lautet, das Gebot der Nächstenliebe sei zentral: „Liebe Deinen Nächsten – er ist wie Du.“ Rabbi Hillel bringt einem Nichtjuden das Wesentliche in einer denkbar kurzen Zeitspanne bei (während dieser nämlich „auf einem Bein steht“): „Was Dir verhasst ist, tu Deinem Nächsten nicht an. – Das ist die ganze Tora, der Rest ist Erläuterung. Geh und lerne.“

Absurder Weise glauben die meisten Christen (und laut R. Verleger sogar manche Juden), diese beiden Weisungen seien gerade das Neue am Christentum gegenüber dem viel älteren Judentum. Doch das Gebot der Nächstenliebe zitiert der Jude Jesus von Nazareth aus der für ihn verbindlichen Heiligen Schrift, der Hebräischen Bibel (3 Buch Mose 19,18). Bei der auf Unterlassung zielenden Fassung der „Goldenen Regel“ (Was Du nicht willst …) konnte Jesus außerdem auf den besagten Rabbi Hillel zurückgreifen, der etwa 70 Jahre vor ihm (!) geboren war. Die Nächstenliebe meint nicht exklusiv nur den „Mit-Israeliten“. Für den Umgang mit dem Bewohner, der dem jüdischen Volk nicht angehört, gilt ausdrücklich: „Liebe ihn wie Dich selbst, denn solche Bewohner wart Ihr [ja selbst] im Lande Ägypten.“ (3 Buch Mose, 19,33-34)

Verlegers Anschauung ist eindeutig: Wer das Judentum von dieser Weisung loslöst oder es in einer nationalreligiösen Weise umdeutet, macht aus ihm eine „platte … Herrschaftsideologie“, die niemand mehr „als eine moralische Instanz“ ernst nehmen kann. Die von ihm referierte „biblische Geschichte“ zeigt dem gegenüber: Die hebräische Bibel ist eine Urkunde der Kritik von Macht und Herrschaft. Es handelt sich bei ihr gerade nicht um eines jener Machwerke, wie sie sich nationale Selbstlobkollektive üblicher Weise zulegen.

Was ist Zionismus?

Die Frage „Was ist Zionismus?“ steht so nicht wörtlich im Buch „Israels Irrweg“. Der Sache nach setzt sein Autor aber mit dieser – ganz und gar nicht überflüssigen – Frage an. Die Beantwortung erfolgt z.T. mit sehr eindrucksvollen Zitaten aus der Geschichte der zionistischen Bewegung (wobei allerdings Originalzeugnisse aus dem revisionistischen, nationalistisch und z.T. rassistisch verzerrten Zionismus weitgehend ausgespart bleiben).

Für den säkularen Juden Theodor Herzl (gest. 1904) kam eine Verdrängung der arabischen Bewohner in Palästina offenbar nicht in Frage (S. 46). Bis 1944 galt es (trotz des schrecklichen Massakers an orthodoxen Juden in Hebron 1929) als offizielle Mehrheitslinie in der zionistischen Bewegung, dass Juden und Araber als gleichberechtigte Brüder in einem multikulturellen Staat zusammenleben sollten. Wer dies lediglich als „linkszionistisch“ bezeichnet, unterschlägt den ganz wesentlichen Bezug zum Ethos der Tora.

Auf Seiten der orthodoxen Juden wurde von Anfang an entschiedener Widerspruch dagegen angemeldet, das Judentum nunmehr als eine nationale Angelegenheit umzudefinieren. Innerhalb der zionistischen Bewegung gab es selbst eine Strömung, für welche die religiösen und kulturellen Traditionen des Judentums (und eben nicht Nationalismus) den zentralen Bezugspunkt ausmachten. Diesem Flügel gehörte auch Martin Buber an, der sich zu einem hebräischen bzw. biblischen Humanismus bekannte.

In der jüdischen Siedlungspraxis in Palästina gab es schon früh Widersprüche zur offiziellen zionistischen Doktrin: „… die Diskriminierungen und feindseligen Akte gegen die arabischen Palästinenser, die Achad ha’Am, Martin Buber, Chaim Weizman und andere kritisierten, all das geschah bereits 1890 und 1913 und lange bevor ein Hitler überhaupt deutscher Reichskanzler wurde.“ (S. 81) Doch erst der Massenmord an den Juden Europas veränderte „die Mehrheitsverhältnisse und Meinungsfronten pro und kontra Zionismus unter den Juden Europas“ (S. 57).

Innerhalb der zionistischen Bewegung setzte sich ab 1944 David ben Gurion, der schon 1938 an einer Zwangsumsiedlung arabischer Bewohner „nichts Unmoralisches“ hatte sehen können (S. 55), mit seiner Linie durch. Hanna Arendt war entsetzt. Martin Buber musste dann 1948 erleben, wie die Gründung des Staates Israel – dessen treuester Bürger er vielleicht war – seiner Vorstellung vom Zionismus zutiefst widersprach. Arendt und Buber sahen klarsichtig voraus, dass ohne eine Kurskorrektur die Spirale der Gewalt nicht enden würde. Nachdem dies nunmehr seit sechs Jahrzehnten der Fall ist, grenzt es an Demagogie, diese beiden Namen gleichsam über Nebensätze dem Lager der unrealistischen Träumer zuzurechnen.

Festzuhalten bleibt: Die jeweils frühesten und schärfsten Kritiker des Zionismus waren selbst Zionisten. Wenn wir von Zionismus und Antizionismus sprechen, müssen wir immer sagen, was wir eigentlich meinen. Von den Propheten Israels bis hin zu den hebräischen Humanisten galt die Vision, dass das Lied vom Zion für alle Welt – nicht nur für die Juden – eine Melodie der Befreiung werden würde.

Wer ist ein Freund Israels?

In seinem Überblick zur Geschichte des Staates Israel skizziert Verleger, wie die traditionelle Spannung zwischen jüdischer Religion und Nation, Frommen und Zionisten, nach 1948 zum Teil symbiotisch aufgelöst und in einen neuen nationalreligiösen Komplex überführt wird (S. 85). Klerikale Kreise und ihre Anhänger mögen die neuartige Ideologie wirklich „glauben“. Indessen ließe sich wohl mehr als ein nationalistischer Führer nennen, der den „biblisch“ begründeten Groß-Israel-Traum dieser Kreise – ohne erkennbare eigene Religiosität – zur Durchsetzung seiner Politik instrumentalisiert hat.

Im Brief an einen christlichen Theologen, der die „Berliner Erklärung“ kritisiert (und die jüdischen Unterzeichner offenbar über den jüdischen Kalender belehren möchte), schreibt Verleger: „… das Judentum, meine Heimat, ist in die Hände von Leuten gefallen, für die Volk und Nation die höchsten Werte sind anstatt Gerechtigkeit und Nächstenliebe.“ (S. 156) Revisionistischer Zionismus oder eine Art uneingeschränkter „Israeltreue“ können zu säkularen jüdischen Ersatzidentitäten werden. Demgegenüber will Verleger, wie es Jahrtausende lang der Fall war, das Judentum hauptsächlich wieder als Religion definieren: „Dann haben Juden einen Standpunkt, von dem aus sie die Politik ihres jüdischen Staates bewerten, loben und kritisieren können.“ (S. 84)

Der Autor lässt keinen Zweifel an seiner Treue zum Staat Israel als Ausgangspunkt. Es geht ihm – wie allen verwandten jüdischen Kritikern – darum, dass Israel, umringt von Feinden, auch in 20 Jahren noch als Staat besteht. Und die einzige Lösung, die er erkennen kann, lautet: Israel muss aus den Feinden gute Nachbarn oder gar Freunde machen. Das heißt, es darf nicht länger in der Illusion verharren, man könne mit Hochrüstung und Besatzung Sicherheit produzieren. – Jeder andere Weg, so schon 1982 Nahum Goldmann, Präsident des Jüdischen Weltkongresses, führt für Israel in den Abgrund (S. 135).

Balkon mit pro-palästinensischer und pro-israelischer Bildbotschaft. Foto: P. Bürger

Wie darf ein Freund Israel kritisieren?

So einfach geht es aber – bezogen auf Kritik und Loyalität – nicht. Viele dürfen sich unwidersprochen Freunde Israels nennen, z.B. evangelikale Endzeitchristen (Armageddon und der apokalyptische "Holocaust"), in deren Mitte mancher schon mal Hitler als „Gottes Werkzeug“ betrachten konnte und alle Juden ins Heilige Land wünschte, damit recht bald das Ende aller Tage anbrechen möge. Juden allerdings, die sich Freunde Israels nennen, müssen dies erst einmal unter Beweis stellen. Verleger schreibt über Autoren, die genau definieren, wie man Israel kritisieren darf, wenn man weiterhin als ein Freund Israels betrachtet werden möchte. Bestimmte moralische Wertungen und drastische Wortwahl sollten unterbleiben (z.B. bezogen auf Menschenrechte, Mauer-Zaun). Akzidentielles darf man kritisieren, Substantielles aber nicht.

Was nun aber ist die Substanz (immer selbstverständlich vorausgesetzt, dass das „Existenzrecht Israels“ nicht in Frage gestellt wird)? Darf man als Freund Israels z.B. wie der Verfasser dieses Beitrags den Standpunkt vertreten, man solle vom „Existenzrecht Israels“ bis auf weiteres nur in einer Form reden, die immer auch das Existenzrecht eines lebensfähigen Staates der Palästinenser einschließt? Darf man – wie Rolf Verleger – sagen, dass die Staatsgründung bezogen auf Flucht, Enteignung und fortdauerndes Leiden der arabischen Bewohner mit einem großen Unrecht verbunden war? Damit äußert man ja nur, was die noch nicht revisionistischen Zionisten – explizit auch Martin Buber und Hanna Arendt – schon vor 60 Jahren gesagt haben. Und warum sollte man z.B. nicht auch als ein Freund Israels über ein Rückkehrrecht der Palästinenser anderer Meinung sein dürfen als die Offiziellen Israels (bzw. zumindest ein Eingeständnis verlangen, dass dieses Rückkehrrecht „an sich“ bestünde und Gespräche erfordert)? Warum sollte schließlich, dies hängt damit zusammen, ein Freund Israels die Doktrin eines exklusiv „jüdischen Staates“ nicht bezweifeln dürfen?

Auch wenn es gerade mit Blick auf die Geschichte ernste Argumente gibt, ihm zu widersprechen, so hätte er doch die frühen Zionisten wiederum auf seiner Seite, die offiziell keine jüdische Dominanz über andere planten.3 Schließlich gibt es Sachfragen, über die man streiten kann: Warum sind die USA als Schutzmacht auf Israels Seite? Weil die jüdische Lobby in US-Amerika so gute Arbeit macht (was sehr naiv und obendrein z.T. verschwörungsschwanger klingt)? Weil die USA aus moralischen Gründen Israel ewige Treue und Freundschaft geschworen haben (was für eine Supermacht sehr idealistisch klingt)? Weil die USA Israel für ihre Geopolitik in Nahost und somit für ihre nationale Interessensdoktrin als Alibi anführen können, solange dies für sie nützlich ist (was angesichts der fossilen Energieressourcen in der Region sehr realistisch klingt)? Und schließlich: Was folgert man aus den verschiedenen Möglichkeiten …?

„Antisemitische Juden“?

Nun gibt es in Israel, in den USA, in Europa und inzwischen eben auch in Deutschland zahlreiche Stimmen von Jüdinnen und Juden, die – etwa in Richtung der Berliner Erklärung – Israels Politik kritisieren und nicht müde werden, die hierzulande gerne euphemistisch umschriebene Besatzung der Palästinensergebiete beim Namen zu nennen: Intellektuelle, Wissenschaftler, Historiker, Künstler, Musiker, Filmemacher, fromme Gruppen, Rabbiner, Historiker …. All diesen Menschen wird aufgrund ihrer Kritik sehr leicht unterstellt, nicht mehr zu Israel zu halten (auch wenn sie gerade ihre Sorge um Israel als Motiv angeben). Damit wird aber auch ihr „Jude sein“ in Frage gestellt, sie werden so etwas wie „unjüdische Juden“. Und schließlich – Verleger bezeichnet das als „Tiefpunkt jüdischen Geisteslebens“ (S. 70) – geraten sie in den Ruf, selbst „antisemitisch“ zu sein.4

Zu diesem Zweck werden akademische Gegenstände aus der Versenkung hervorgeholt, tiefenpsychologisch höchst Interessantes aus Autobiographien und Skurriles aus der tragischen Assimilationsgeschichte in Deutschland – so Überlegungen von Theodor Lessing zum „jüdischen Selbsthass“ des jungen Philosophen Otto Weininger oder Betrachtungen zur Arier-Verehrung bei Walter Rathenau. Dann wird die – freilich kaum bestreitbare – Möglichkeit einer antijüdischen Einstellung von Juden zum Anlass genommen, einen diesbezüglichen Verdacht ganz speziell und ganz aktuell bei jüdischen Israelkritikern durchzuexerzieren: etwa bei Harold Pinter oder Alfred Grosser (dieser französische Patriot, dieser französische Patriot!).

Warum, so fragt sich der Leser, nicht auch Steven Spielberg und Daniel Barenboim oder ein Martin Buber und alle anderen frühe Zionisten, die ein gleichberechtigtes Zusammenleben mit den Arabern propagiert haben, und natürlich unbedingt in unseren Tagen Noam Chomsky und Uri Avnery? Warum nicht auch israelische Soldaten und Soldateneltern, die den Staatskurs in Israel nicht mehr mittragen? Hanna Arendt und Albert Einstein haben 1948 Menachem Begin, den späteren israelischen Ministerpräsidenten, in einem Offenen Brief als rechtsradikalen Terroristen charakterisiert.

Rolf Verleger fragt: „Hat schon einmal jemand Albert Einstein als Antisemiten bezeichnet? Das wäre höchste Zeit …“ (S. 122) Unaufgeregt heißt es in einer der Kapitelüberschriften seines Buches, „Antisemitismus“ sei „ein untaugliches Erklärungsmodell für Kritik an Israels Politik“. Die Klage über „antisemitische Juden“ zeigt, welcher Grad an Nervosität – angesichts zahlreicher kritischer Stimmen und Initiativen auf der ganzen Welt – herrscht. Der Diskurs wird auch bei uns sehr bald eine neue Überschrift tragen: „Die Zeit ist reif für Palästina.“5

Sonderfall oder Universalismus? Falsche Alternativen für eine Moral nach Auschwitz

Welche „Lehren aus Auschwitz“ sind zu ziehen? Muss man nicht den Massenmord an den Juden Europas in seiner Unvergleichlichkeit stehen lassen und auf dieser Grundlage den 1948 gegründeten jüdischen Staat Israel als Heimstätte wider den Judenhass betrachten. Oder soll eine „Moral nach Auschwitz“ das Nichtaussprechbare und nicht Vermittelbare der Shoa in eine universelle Achtung der Menschrechte übersetzen? Diese alternative Gegenüberstellung ist nach meinem Dafürhalten konstruiert und falsch.

Am Beispiel der Reaktionen auf das Manifest der 25 ließe sich gut aufzeigen, welche Funktion die Konstruktion „einmalig/besonders oder universell“ haben kann.6 Die Autoren des Manifestes taten nur kund, dass sie BESTIMMTE Formen des besonderen deutschen Verhältnisses zu Israel ablehnen (nämlich die Rüstungslieferungen, eine irgendwie geartete Ausnahme für Israel bezogen auf Moral/Völkerrecht und den Verzicht auf deutliche Kritik). Im Übrigen bekannten sie sich ausdrücklich zur Freundschaft mit Israel. Unterstellt wurde ihnen aber sogleich, sie wollten (als Universalisten) ein besonderes Verhältnis zwischen Israel und Deutschland ÜBERHAUPT in Frage stellen.

Auch jüdische Israelkritiker wie Alfred Grosser oder Rolf Verleger lösen die Shoa nicht in etwas Abstrakt-Allgemeines auf. Es geht ihnen um Verantwortung – in Erinnerung an die Toten. Sie beziehen sich dabei auf ihre eigene Familie. Sie halten sich von unangemessenen „Holocaust-Vergleichen“ fern (die ja nach Belieben leider auch in „pro-israelischen Kreisen“ immer wieder vollzogen werden). Sie erheben ihre Stimme gegen den speziellen Judenhass von Nazis in Vergangenheit und Gegenwart. Sie fühlen sich Israel verbunden und wissen darum, wie die Gründungsgeschichte dieses Staates mit dem Mord an sechs Millionen Juden zusammenhängt. … Sie tun also das eine, ohne das andere zu lassen. Sie halten an jenem Leidensgedächtnis der Shoa fest, das nicht in Beliebigkeit und Austauschbarkeit verdunsten darf. Gleichzeitig ist Auschwitz für sie aber auch ein Aufruf, die eigene Stimme zu erheben, wo immer ein Menschenantlitz verachtet und geschunden wird.

Im Gegensatz dazu findet man bei Henryk Broder äußerst saloppe Formulierungen zum Gedächtnis der Shoa und überdies die – angesichts aktueller Ereignisse höchst fragwürdige – Behauptung, der offen rassistische Judenhass nach Naziart liege in den letzten Zügen.7 Im sauerländischen Schmallenberg z.B. sprühten die autonomen „Nationalen Sozialisten“ im Mai 2008 eine Parole, die nicht weit von Broders eigener Botschaft bezüglich der muslimischen Mitbürger entfernt ist: „Heute seid ihr tolerant, morgen fremd im eigenen Land.“ Die letzte Schändung des Judenfriedhofs am Ort liegt – wohl kaum rein zufällig – auch nicht lange zurück. Mit Broder: „… ein Fall für die Polizei und das örtliche Amtsgericht, nicht mehr. … Diese Art des Antisemitismus ist hässlich, aber politisch irrelevant, ein Nachruf auf sich selbst.“

Die Relativierung des überkommenen Judenhasses soll es an dieser Stelle ganz offenkundig möglich machen, erprobte Antisemitismusforscher und Antifaschisten – besonders aus dem linken Spektrum – wegen ihrer Israelkritik als „Antisemiten“ denunzieren zu können. Henryk M. Broder weiß, wie er sich die Dinge vorab passend konstruieren muss: „… der moderne Antisemit verehrt Juden, die seit 60 Jahren tot sind, nimmt es aber lebenden Juden übel, wenn sie sich zur Wehr setzen. Er ruft "Wehret den Anfängen!", wenn eine handvoll Hobbynazis in Cottbus aufmarschiert, rechtfertigt aber die Politik des iranischen Präsidenten und den Fortgang der Geschäfte mit dem Iran.“

Jüdische Israelkritiker wissen sehr wohl, dass sie hierzulande gerade als Juden helfen, ein Tabu zu durchbrechen (wodurch sie ja viel Zorn auf sich ziehen). Es gibt dabei auch Bedenken. Entsteht nicht der Eindruck, nur Juden dürften Israel kritisieren bzw. Juden hätten irgendwie mehr Recht zu dieser Kritik? Zugrunde gelegt wird doch eine für die gesamte Menschen- und Völkerwelt geltenden Moral. Deshalb sagt Iris Borchardt-Hefets, Mit-Erstunterzeichnerin von „Schalom 5767“, zugespitzt: Israelkritiker müssen „keinen Stammeszugehörigkeitstest absolvieren. Jeder darf Universalist sein.“ (S. 113)

Genau dieser „Universalismus“ soll aber, wie wir gesehen haben, angeblich etwas nicht Ehrenwertes sein. Er wird als Indiz für ein „unjüdisches Jüdischsein“ etc. gewertet. Gewiss, die „Goldene Regel“ des Rabbi Hillel taucht – zum Großteil dank des Judentums – in allen Kulturkreisen der Erde auf. Sie ist von Kant in sehr abstrakter Form formuliert worden. Dem anderen nicht anzutun, was einem selbst zuwider ist, ohne diese kinderleicht verstehbare und universale Weisung kann es keine Moral geben. Mit seinem Buch „Israels Irrweg“ erinnert Rolf Verleger daran: Zum Proprium des Judentums gehört sein ethischer Universalismus. Dieser kann also gar keinen Gegensatz bilden zu einem jüdischen „Spezifikum“ (vorausgesetzt, es geht um die tradierte und nicht um eine davon völlig abgekoppelte, postmodern konstruierte jüdische Identität).

Die Anwendung des jüdischen und zugleich universalen Ethos in der Israelkritik ist ein ausgesprochener Freundesdienst für Israel. Denn wo Israel im Umgang mit den Palästinensern das jüdische (und zugleich universale) Ethos missachtet, verletzt es auch seine eigene Integrität, werden die Feinde Israels mit „Futter“ für ihren Hass versorgt und die Terroristen von morgen gezüchtet.8

„Abendländisch-jüdische“ Allianz und Hetze gegen den Islam

Wie brennend aktuell und folgenreich wäre nun ein Ernstnehmen jener Nächstenliebe, die das Christentum vom Judentum übernommen hat und die von R. Verleger in den Mittelpunkt gerückt wird! Man denke – ganz in der Nähe in Deutschland – allein an die medizinische Versorgung und alle anderen Menschenrechte jener Migranten, die der Staat auf schändlichste Weise mit dem Adjektiv „illegal“ versieht. Hier hätten wir einen wunderbaren Ansatz für eine „jüdisch-christliche Kultur“ (abseits von gegenseitiger Beweihräucherung in exquisiten Dialogzirkeln oder gemeinsamer Feindbildpflege). Denn das kann man mit wirklich uneingeschränkter Gewissheit sagen, dass jede Missachtung und Ungleichbehandlung eines Migranten (unabhängig davon, welchen Status ihm die vom Staat gemachten Gesetze zuweisen) mit Judentum und Christentum in striktester Weise unvereinbar sind. Für beide Religionen ist gerade dies der maßgebliche Prüfstein ihres Befreiungsbekenntnisses bzw. (christlicherseits) des Endgerichts (vgl. 3 Mose Kap. 19,33f; Matthäus-Evangelium Kap. 25,35).

Nachdrücklich verweist Verleger (S. 92) auf Ignatz Bubis, der in den 1990er Jahren „in bewundernswerter Weise gegen den Fremdhass“ agiert hat (und zwar in einer Weise, dass man meinen konnte, „er sei auch der Vorsitzende des Zentralrats der Türken in Deutschland gewesen“). Indessen gibt es, wie Verleger beklagt, heute auch ganz andere Stimmen (S. 93):

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Der prominente jüdische Schriftsteller Ralph Giordano wirbt … dagegen, dass in Köln und anderswo Moscheen gebaut werden. Dabei verwendet er Argumente, die ich nicht von den primitiven Parolen und gelehrten Ausführungen unterscheiden kann, mit denen vor hundert Jahren die Deutschnationalen die Juden aus Deutschland weghaben wollten, aufgrund derer dann die Nazis die Münchener Synagoge bereits im Frühjahr 1938 mit offizieller behördlicher Verfügung abreißen ließen …

Wand-Graffiti von sog. „autonomen“ Neonazis in Schmallenberg, Sauerland – solche Landschaftsveränderungen durch extrem militante Faschisten bleiben wochenlang sichtbar. Foto: P. Bürger, Mai 2008

Nicht von Verleger berücksichtigt wird das – seit 2007 auch mit Steuergeldern günstig verbreitete – Buch „Hurra, wir kapitulieren“ des Publizisten Henryk M. Broder, für den Islam und Islamismus wie „Alkohol und Alkoholismus“ zusammengehören.9 Schleierhaft bleibt, nach welchen Kriterien die staatliche Bundeszentrale für politische Bildung sich für die Einstellung dieser Schrift in ihr Sortiment entschieden hat, da diese ja kein Sachbuch ist, sondern eine durchgehende Hetzpolemik, ohne eine einzige Fußnote, ohne eine einzige Lösungsperspektive zu den aufgeworfenen Fragen, voll gestopft mit markigen Sprüchen gegen Muslime, Linke, Pazifisten, humanistische Gutmenschen etc. etc. und ziemlich unverhohlen als Begleitmusik zur seit Jahren betriebenen Propagierung eines Krieges gegen den Iran angelegt (ohne freilich die z.T. auf einer Falschübersetzung basierende These eines MASSENMÖRDERISCHEN Judenhasses im Iran seriös belegen zu können). Seit wann ist es Aufgabe der an das Grundgesetz gebundenen Bundeszentrale, effekthascherische Texte zur Störung des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Menschen aus verschiedenen Kulturen zu verbreiten?

Während Rolf Verleger den lieben Dialogchristen keinen Deut entgegenkommt und die historische Kirchenwirklichkeit von einem konsequent jüdischen Standpunkt aus bewertet, ermuntern die religiös weniger ambitionierten Autoren Giordano und Broder die populistischen „Christen“ eifrig zum Kulturkampf. Dafür gibt es Beifall der rechten Jungen Freiheit: Kippa und Kruzifix gegen Kopftuch. Offenkundige Zielgruppe der Broder-Lektüre: deutsche bzw. christliche „Eingeborenen-Familien“ (sic!). Aber gerade um die religiöse Freundschaft der jüdischen und christlichen Geschwister ist es ja derzeit alles andere als gut bestellt. 2008 muss man sich, wenn man wie der Verfasser Katholik ist, bis in den Grund schämen: Ausgerechnet ein deutscher Papst eröffnet den antijüdischen Traditionalisten wieder einen Weg zum Gebrauch der unseligen tridentinischen Karfreitagsfürbitte und revidiert die Theologie des II. Vatikanums.10 Aber auch ein solcher Super-Gau ist heutzutage im Medienkonzert nur noch eine Eintagsfliege.

Noch in diesem Herbst werden rechtsradikale Kreise an Giordanos Wohnort Köln versuchen, die Massenbasis für ihre Ausländerhetze im Rheinland zu verbreitern. Giordano und Broder bekommen viel Beifall von Rechtsaußen. Selbst wenn es ihnen endlich gelänge, sich glaubwürdig von vielleicht unerwünschten Fans zu distanzieren, so müssten sie doch Verantwortung für ihre eigene Rhetorik übernehmen. Man kann ein, zwei Mal ohne eigenes Verschulden in einer falschen Ecke und in einem fragwürdigen Medium stehen, aber nicht dauerhaft.

Das islamophobe Pro-Abendland-Spektrum holt schon jetzt die Faschisten in den schützenden Raum so genannter Bürgerbündnisse. Die Gruppe „Nationale Sozialisten für Israel“ verbreitet auf ihrer Internetseite eine „rassische“ – völkische – Umdeutung des Judentums durch Neonazis und gleichzeitig die Vorstellung einer gegen den Islam gerichteten „jüdisch-abendländischen Allianz“. Wäre es nun nicht an der Zeit, endlich Abstand zu nehmen von der Propagierung einer „political incorrectness“?

Nachtrag: „Pro-Israel-Doktrin“ und deutscher Revisionismus

Zur in Deutschland verbreiteten Zurückhaltung bezüglich einer Kritik am israelischen Verhalten gegenüber den Palästinensern schreibt Rolf Verleger:

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Wenn nichtjüdische Deutsche wegen ihres Entsetzens und tiefen Bedauerns über die Ermordung der Juden Europas durch Deutsche sich heute nicht getrauen, die Vertreibung und Unterdrückung der Palästinenser durch Juden zu verurteilen, so sind dies zwar ehrenwerte Gründe, aber das Verhalten ist unmoralisch. (S. 104)

Manchmal könnte aber auch schon der Beweggrund für das Schweigen wenig ehrenwert sein, wenn er z.B. aus einer Angst vor der willkürlichen Denunziation besteht. Doch man kann diese Angst angesichts der Demagogie von kapitalismusfreundlichen und promilitaristischen „Antifa“-Sektierern mit US-Flagge gut verstehen. Diese vor Selbstverliebtheit strotzenden Eiferer brauchen ehrenwerte Leute ja nur öffentlich als „Antisemiten“ verdächtigen. Die Gegendarstellung liest dann ohnehin keiner mehr. Nicht jeder hat die Nerven eines Norman Paech (MdB), dessen allgemein zugängliche Veröffentlichungen die Denunzianten nachweislich ignorieren. Der Zentralrat der Juden in Deutschland sollte sich in solchen Fällen öffentlich zu Wort melden, auch wenn die Denunziationsopfer in politischer Hinsicht ganz und gar andere Positionen als er selbst vertreten. Nur eine einzige Gruppe profitiert nämlich am Ende von inflationären, ungerechtfertigten und schamlosen „Antisemitismus-Denunziationen“, das ist die Gruppe der wirklichen Judenhasser.

Schweigen bezogen auf das Geschick der Palästinenser ist aber auch geeignet, den nationalen oder sonstigen Narzissmus zu bekräftigen. Es kostet nichts, gibt einem aber das gute Gefühl, als erprobter „pro-israelisch“ gesonnener Mensch einem moralischen, neuen Deutschland oder einer vom Antijudaismus geläuterten Kirche anzugehören. Bei dieser Gelegenheit kann man sich auch die Mühe ersparen, völkerrechtliche Sachverhalte oder übersichtliche Karten zum zentralen Territorialkonflikt und zur israelischen Besatzung zur Kenntnis zu nehmen.

Mit einer plakativen „Pro-Israel-Doktrin“ kann man außerdem die Aufmerksamkeit von unerfreulichen Dingen weglenken, z.B. von den politischen Erfolgen der Rechtsextremisten, vom extrem „eliminatorischen Antisemitsmus“ in der neonazistischen Musikszene, welche sich der Strafverfolgung leicht zu entziehen weiß, oder von dem Umstand, das zur Vermittlung eines nicht nur pflichtgemäßen Gedächtnisses der Shoa an die nächsten Generationen (in Deutschland und Israel) nur wenig neue Ideen vorliegen. Der ganze Komplex der Erinnerung erscheint sehr steril, bisweilen wirkt das amtliche Feiergedächtnis gruselig. Die auf die 1980er Jahre zurückgehende Illusion einer einmaligen und überzeugenden deutschen Erinnerungskultur ließe sich leicht entzaubern.

Fahnen-Verkauf. Foto: P. Bürger

Zusätzlich ist – auch im Vergleich zur vorgeblichen Israel-Freundlichkeit der Adenauer-Ära – zu untersuchen, was der vermeintlich „pro-israelischen“ deutschen Staatsräson im 21. Jahrhundert denn zugrunde liegt. Echte Gefühle von Völkerfreundschaft? Moral? Verantwortung vor der Geschichte? Eine hohe außenpolitische Problemlösungskompetenz?

Angela Merkels Rede vor der Knesset vom 18.März 2008, über deren historische „Größe“ gottlob keine nennenswerten Essays geschrieben worden sind, ist in manchen Teilen jedenfalls sehr interpretationsbedürftig. Soll man einige Passagen z.B. als Signal dafür verstehen, dass Deutschland sich auch bei einem israelischen Angriff gegen Iran mit Kritik zurückhalten würde? Das wäre – im Interesse der Sicherheit Israels und des Weltfriedens – fatal. Perspektiven eröffnet nur die Schaffung einer atomfreien Zone in Nahost. Diese hat schon der bedeutendste neuzeitliche Philosoph des Dialoges, Martin Buber, gefordert. Israels Angebot zur vollständigen Abrüstung der eigenen Atomwaffen müsste dazu auf den Tisch. Denn: Atombombenbesitz verursacht (nicht nur im Fall von Israel, sondern immer) lebensbedrohliche Schwerhörigkeit und fremde Begehrlichkeit.

Wie passt schließlich der deutsche Revisionismus in Sachen Krieg und Militär zur staatlichen „Pro-Israel-Doktrin“? Wie soll man es – einmal abgesehen von der historischen Tragik jüdischer Veteranen ab 1918 – deuten, dass auf unseren Kinoleinwänden schon im Ersten Weltkrieg ein deutscher Bomber den Davidstern auf seiner Außenfläche trägt? Zu welcher neuen Geschichtsschreibung will man uns hinführen?

Beim Nürnberger Prozess 1945 stand der Massenmord an den Juden Europas anfänglich sehr im Hintergrund und konnte unzulässiger Weise auch einfach als Teil der „War Crimes“ betrachtet werden. Zentral benannt war hingegen schon das Verbrechen des deutschen Faschismus und all seiner Handlanger gegen den Frieden. Dürfen nun – im Windschatten einer amtlich verbürgten Israeltreue – alle auf den Frieden zielenden Errungenschaften des Grundgesetzes wieder ad acta gelegt werden? Bekommt Deutschland hier womöglich jene „billige Gnade“, mit der es die Revision des zentralen Verfassungszieles „Dienst am Frieden“ vollziehen kann? Nationale Interessen wie Handelswege und Rohstoff- bzw. Energieversorgung werden zu Gesichtspunkten der neuen Militärplanung. Deutschland treibt zusammen mit Frankreich die Militarisierung der EU voran, wobei die Menschen Europas gar nicht mitreden sollen. Die auch in der CDU einmal programmatisch fixierte Erkenntnis über den Zusammenhang von Kapitalismus, Faschismus und Krieg ist ohnehin schon vollständig zum Opfer des allgemeinen Gedächtnisverlustes geworden.

Heißt unser Grundgesetz vielleicht deshalb immer noch nicht „Verfassung“, weil man es weiterhin nur als ein – womöglich von den Siegermächten aufgezwungenes und jederzeit abänderbares – Provisorium betrachtet? Der CDU-Parlamentarier Andreas Schockenhoff kreiert schon mal ganz neue Verfassungsinhalte. In offenkundiger Unkenntnis von Präambel und Artikel 1 des Grundgesetzes behauptet er: „Die wichtigste Aufgabe des Staates ist die Sicherheit.“ Nur die VORBEREITUNG von Angriffskriegen soll strafbar sein, meinte ein spitzfindiger Generalbundesanwalt schon am 21.1.2006, von der wirklichen Beteiligung an Angriffskriegen stehe hingegen nichts im Wortlaut des Grundgesetzes. Ehe wir uns versehen, könnten wir in einer anderen Republik aufwachen. Auch deshalb müssen wir unablässig weiter fragen: „Was sind die Lehren aus dem Faschismus? Wer sind die Verfassungsfeinde, und was treiben sie?“

Rolf Verleger, Israels Irrweg – Eine jüdische Sicht. Köln: PapyRossa 2008.