Hebräischer Humanismus

Seite 5: Nachtrag: „Pro-Israel-Doktrin“ und deutscher Revisionismus

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Zur in Deutschland verbreiteten Zurückhaltung bezüglich einer Kritik am israelischen Verhalten gegenüber den Palästinensern schreibt Rolf Verleger:

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Wenn nichtjüdische Deutsche wegen ihres Entsetzens und tiefen Bedauerns über die Ermordung der Juden Europas durch Deutsche sich heute nicht getrauen, die Vertreibung und Unterdrückung der Palästinenser durch Juden zu verurteilen, so sind dies zwar ehrenwerte Gründe, aber das Verhalten ist unmoralisch. (S. 104)

Manchmal könnte aber auch schon der Beweggrund für das Schweigen wenig ehrenwert sein, wenn er z.B. aus einer Angst vor der willkürlichen Denunziation besteht. Doch man kann diese Angst angesichts der Demagogie von kapitalismusfreundlichen und promilitaristischen „Antifa“-Sektierern mit US-Flagge gut verstehen. Diese vor Selbstverliebtheit strotzenden Eiferer brauchen ehrenwerte Leute ja nur öffentlich als „Antisemiten“ verdächtigen. Die Gegendarstellung liest dann ohnehin keiner mehr. Nicht jeder hat die Nerven eines Norman Paech (MdB), dessen allgemein zugängliche Veröffentlichungen die Denunzianten nachweislich ignorieren. Der Zentralrat der Juden in Deutschland sollte sich in solchen Fällen öffentlich zu Wort melden, auch wenn die Denunziationsopfer in politischer Hinsicht ganz und gar andere Positionen als er selbst vertreten. Nur eine einzige Gruppe profitiert nämlich am Ende von inflationären, ungerechtfertigten und schamlosen „Antisemitismus-Denunziationen“, das ist die Gruppe der wirklichen Judenhasser.

Schweigen bezogen auf das Geschick der Palästinenser ist aber auch geeignet, den nationalen oder sonstigen Narzissmus zu bekräftigen. Es kostet nichts, gibt einem aber das gute Gefühl, als erprobter „pro-israelisch“ gesonnener Mensch einem moralischen, neuen Deutschland oder einer vom Antijudaismus geläuterten Kirche anzugehören. Bei dieser Gelegenheit kann man sich auch die Mühe ersparen, völkerrechtliche Sachverhalte oder übersichtliche Karten zum zentralen Territorialkonflikt und zur israelischen Besatzung zur Kenntnis zu nehmen.

Mit einer plakativen „Pro-Israel-Doktrin“ kann man außerdem die Aufmerksamkeit von unerfreulichen Dingen weglenken, z.B. von den politischen Erfolgen der Rechtsextremisten, vom extrem „eliminatorischen Antisemitsmus“ in der neonazistischen Musikszene, welche sich der Strafverfolgung leicht zu entziehen weiß, oder von dem Umstand, das zur Vermittlung eines nicht nur pflichtgemäßen Gedächtnisses der Shoa an die nächsten Generationen (in Deutschland und Israel) nur wenig neue Ideen vorliegen. Der ganze Komplex der Erinnerung erscheint sehr steril, bisweilen wirkt das amtliche Feiergedächtnis gruselig. Die auf die 1980er Jahre zurückgehende Illusion einer einmaligen und überzeugenden deutschen Erinnerungskultur ließe sich leicht entzaubern.

Fahnen-Verkauf. Foto: P. Bürger

Zusätzlich ist – auch im Vergleich zur vorgeblichen Israel-Freundlichkeit der Adenauer-Ära – zu untersuchen, was der vermeintlich „pro-israelischen“ deutschen Staatsräson im 21. Jahrhundert denn zugrunde liegt. Echte Gefühle von Völkerfreundschaft? Moral? Verantwortung vor der Geschichte? Eine hohe außenpolitische Problemlösungskompetenz?

Angela Merkels Rede vor der Knesset vom 18.März 2008, über deren historische „Größe“ gottlob keine nennenswerten Essays geschrieben worden sind, ist in manchen Teilen jedenfalls sehr interpretationsbedürftig. Soll man einige Passagen z.B. als Signal dafür verstehen, dass Deutschland sich auch bei einem israelischen Angriff gegen Iran mit Kritik zurückhalten würde? Das wäre – im Interesse der Sicherheit Israels und des Weltfriedens – fatal. Perspektiven eröffnet nur die Schaffung einer atomfreien Zone in Nahost. Diese hat schon der bedeutendste neuzeitliche Philosoph des Dialoges, Martin Buber, gefordert. Israels Angebot zur vollständigen Abrüstung der eigenen Atomwaffen müsste dazu auf den Tisch. Denn: Atombombenbesitz verursacht (nicht nur im Fall von Israel, sondern immer) lebensbedrohliche Schwerhörigkeit und fremde Begehrlichkeit.

Wie passt schließlich der deutsche Revisionismus in Sachen Krieg und Militär zur staatlichen „Pro-Israel-Doktrin“? Wie soll man es – einmal abgesehen von der historischen Tragik jüdischer Veteranen ab 1918 – deuten, dass auf unseren Kinoleinwänden schon im Ersten Weltkrieg ein deutscher Bomber den Davidstern auf seiner Außenfläche trägt? Zu welcher neuen Geschichtsschreibung will man uns hinführen?

Beim Nürnberger Prozess 1945 stand der Massenmord an den Juden Europas anfänglich sehr im Hintergrund und konnte unzulässiger Weise auch einfach als Teil der „War Crimes“ betrachtet werden. Zentral benannt war hingegen schon das Verbrechen des deutschen Faschismus und all seiner Handlanger gegen den Frieden. Dürfen nun – im Windschatten einer amtlich verbürgten Israeltreue – alle auf den Frieden zielenden Errungenschaften des Grundgesetzes wieder ad acta gelegt werden? Bekommt Deutschland hier womöglich jene „billige Gnade“, mit der es die Revision des zentralen Verfassungszieles „Dienst am Frieden“ vollziehen kann? Nationale Interessen wie Handelswege und Rohstoff- bzw. Energieversorgung werden zu Gesichtspunkten der neuen Militärplanung. Deutschland treibt zusammen mit Frankreich die Militarisierung der EU voran, wobei die Menschen Europas gar nicht mitreden sollen. Die auch in der CDU einmal programmatisch fixierte Erkenntnis über den Zusammenhang von Kapitalismus, Faschismus und Krieg ist ohnehin schon vollständig zum Opfer des allgemeinen Gedächtnisverlustes geworden.

Heißt unser Grundgesetz vielleicht deshalb immer noch nicht „Verfassung“, weil man es weiterhin nur als ein – womöglich von den Siegermächten aufgezwungenes und jederzeit abänderbares – Provisorium betrachtet? Der CDU-Parlamentarier Andreas Schockenhoff kreiert schon mal ganz neue Verfassungsinhalte. In offenkundiger Unkenntnis von Präambel und Artikel 1 des Grundgesetzes behauptet er: „Die wichtigste Aufgabe des Staates ist die Sicherheit.“ Nur die VORBEREITUNG von Angriffskriegen soll strafbar sein, meinte ein spitzfindiger Generalbundesanwalt schon am 21.1.2006, von der wirklichen Beteiligung an Angriffskriegen stehe hingegen nichts im Wortlaut des Grundgesetzes. Ehe wir uns versehen, könnten wir in einer anderen Republik aufwachen. Auch deshalb müssen wir unablässig weiter fragen: „Was sind die Lehren aus dem Faschismus? Wer sind die Verfassungsfeinde, und was treiben sie?“

Rolf Verleger, Israels Irrweg – Eine jüdische Sicht. Köln: PapyRossa 2008.