Hebräischer Humanismus

Seite 2: Wer ist ein Freund Israels?

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In seinem Überblick zur Geschichte des Staates Israel skizziert Verleger, wie die traditionelle Spannung zwischen jüdischer Religion und Nation, Frommen und Zionisten, nach 1948 zum Teil symbiotisch aufgelöst und in einen neuen nationalreligiösen Komplex überführt wird (S. 85). Klerikale Kreise und ihre Anhänger mögen die neuartige Ideologie wirklich „glauben“. Indessen ließe sich wohl mehr als ein nationalistischer Führer nennen, der den „biblisch“ begründeten Groß-Israel-Traum dieser Kreise – ohne erkennbare eigene Religiosität – zur Durchsetzung seiner Politik instrumentalisiert hat.

Im Brief an einen christlichen Theologen, der die „Berliner Erklärung“ kritisiert (und die jüdischen Unterzeichner offenbar über den jüdischen Kalender belehren möchte), schreibt Verleger: „… das Judentum, meine Heimat, ist in die Hände von Leuten gefallen, für die Volk und Nation die höchsten Werte sind anstatt Gerechtigkeit und Nächstenliebe.“ (S. 156) Revisionistischer Zionismus oder eine Art uneingeschränkter „Israeltreue“ können zu säkularen jüdischen Ersatzidentitäten werden. Demgegenüber will Verleger, wie es Jahrtausende lang der Fall war, das Judentum hauptsächlich wieder als Religion definieren: „Dann haben Juden einen Standpunkt, von dem aus sie die Politik ihres jüdischen Staates bewerten, loben und kritisieren können.“ (S. 84)

Der Autor lässt keinen Zweifel an seiner Treue zum Staat Israel als Ausgangspunkt. Es geht ihm – wie allen verwandten jüdischen Kritikern – darum, dass Israel, umringt von Feinden, auch in 20 Jahren noch als Staat besteht. Und die einzige Lösung, die er erkennen kann, lautet: Israel muss aus den Feinden gute Nachbarn oder gar Freunde machen. Das heißt, es darf nicht länger in der Illusion verharren, man könne mit Hochrüstung und Besatzung Sicherheit produzieren. – Jeder andere Weg, so schon 1982 Nahum Goldmann, Präsident des Jüdischen Weltkongresses, führt für Israel in den Abgrund (S. 135).

Balkon mit pro-palästinensischer und pro-israelischer Bildbotschaft. Foto: P. Bürger

Wie darf ein Freund Israel kritisieren?

So einfach geht es aber – bezogen auf Kritik und Loyalität – nicht. Viele dürfen sich unwidersprochen Freunde Israels nennen, z.B. evangelikale Endzeitchristen (Armageddon und der apokalyptische "Holocaust"), in deren Mitte mancher schon mal Hitler als „Gottes Werkzeug“ betrachten konnte und alle Juden ins Heilige Land wünschte, damit recht bald das Ende aller Tage anbrechen möge. Juden allerdings, die sich Freunde Israels nennen, müssen dies erst einmal unter Beweis stellen. Verleger schreibt über Autoren, die genau definieren, wie man Israel kritisieren darf, wenn man weiterhin als ein Freund Israels betrachtet werden möchte. Bestimmte moralische Wertungen und drastische Wortwahl sollten unterbleiben (z.B. bezogen auf Menschenrechte, Mauer-Zaun). Akzidentielles darf man kritisieren, Substantielles aber nicht.

Was nun aber ist die Substanz (immer selbstverständlich vorausgesetzt, dass das „Existenzrecht Israels“ nicht in Frage gestellt wird)? Darf man als Freund Israels z.B. wie der Verfasser dieses Beitrags den Standpunkt vertreten, man solle vom „Existenzrecht Israels“ bis auf weiteres nur in einer Form reden, die immer auch das Existenzrecht eines lebensfähigen Staates der Palästinenser einschließt? Darf man – wie Rolf Verleger – sagen, dass die Staatsgründung bezogen auf Flucht, Enteignung und fortdauerndes Leiden der arabischen Bewohner mit einem großen Unrecht verbunden war? Damit äußert man ja nur, was die noch nicht revisionistischen Zionisten – explizit auch Martin Buber und Hanna Arendt – schon vor 60 Jahren gesagt haben. Und warum sollte man z.B. nicht auch als ein Freund Israels über ein Rückkehrrecht der Palästinenser anderer Meinung sein dürfen als die Offiziellen Israels (bzw. zumindest ein Eingeständnis verlangen, dass dieses Rückkehrrecht „an sich“ bestünde und Gespräche erfordert)? Warum sollte schließlich, dies hängt damit zusammen, ein Freund Israels die Doktrin eines exklusiv „jüdischen Staates“ nicht bezweifeln dürfen?

Auch wenn es gerade mit Blick auf die Geschichte ernste Argumente gibt, ihm zu widersprechen, so hätte er doch die frühen Zionisten wiederum auf seiner Seite, die offiziell keine jüdische Dominanz über andere planten.3 Schließlich gibt es Sachfragen, über die man streiten kann: Warum sind die USA als Schutzmacht auf Israels Seite? Weil die jüdische Lobby in US-Amerika so gute Arbeit macht (was sehr naiv und obendrein z.T. verschwörungsschwanger klingt)? Weil die USA aus moralischen Gründen Israel ewige Treue und Freundschaft geschworen haben (was für eine Supermacht sehr idealistisch klingt)? Weil die USA Israel für ihre Geopolitik in Nahost und somit für ihre nationale Interessensdoktrin als Alibi anführen können, solange dies für sie nützlich ist (was angesichts der fossilen Energieressourcen in der Region sehr realistisch klingt)? Und schließlich: Was folgert man aus den verschiedenen Möglichkeiten …?

„Antisemitische Juden“?

Nun gibt es in Israel, in den USA, in Europa und inzwischen eben auch in Deutschland zahlreiche Stimmen von Jüdinnen und Juden, die – etwa in Richtung der Berliner Erklärung – Israels Politik kritisieren und nicht müde werden, die hierzulande gerne euphemistisch umschriebene Besatzung der Palästinensergebiete beim Namen zu nennen: Intellektuelle, Wissenschaftler, Historiker, Künstler, Musiker, Filmemacher, fromme Gruppen, Rabbiner, Historiker …. All diesen Menschen wird aufgrund ihrer Kritik sehr leicht unterstellt, nicht mehr zu Israel zu halten (auch wenn sie gerade ihre Sorge um Israel als Motiv angeben). Damit wird aber auch ihr „Jude sein“ in Frage gestellt, sie werden so etwas wie „unjüdische Juden“. Und schließlich – Verleger bezeichnet das als „Tiefpunkt jüdischen Geisteslebens“ (S. 70) – geraten sie in den Ruf, selbst „antisemitisch“ zu sein.4

Zu diesem Zweck werden akademische Gegenstände aus der Versenkung hervorgeholt, tiefenpsychologisch höchst Interessantes aus Autobiographien und Skurriles aus der tragischen Assimilationsgeschichte in Deutschland – so Überlegungen von Theodor Lessing zum „jüdischen Selbsthass“ des jungen Philosophen Otto Weininger oder Betrachtungen zur Arier-Verehrung bei Walter Rathenau. Dann wird die – freilich kaum bestreitbare – Möglichkeit einer antijüdischen Einstellung von Juden zum Anlass genommen, einen diesbezüglichen Verdacht ganz speziell und ganz aktuell bei jüdischen Israelkritikern durchzuexerzieren: etwa bei Harold Pinter oder Alfred Grosser (dieser französische Patriot, dieser französische Patriot!).

Warum, so fragt sich der Leser, nicht auch Steven Spielberg und Daniel Barenboim oder ein Martin Buber und alle anderen frühe Zionisten, die ein gleichberechtigtes Zusammenleben mit den Arabern propagiert haben, und natürlich unbedingt in unseren Tagen Noam Chomsky und Uri Avnery? Warum nicht auch israelische Soldaten und Soldateneltern, die den Staatskurs in Israel nicht mehr mittragen? Hanna Arendt und Albert Einstein haben 1948 Menachem Begin, den späteren israelischen Ministerpräsidenten, in einem Offenen Brief als rechtsradikalen Terroristen charakterisiert.

Rolf Verleger fragt: „Hat schon einmal jemand Albert Einstein als Antisemiten bezeichnet? Das wäre höchste Zeit …“ (S. 122) Unaufgeregt heißt es in einer der Kapitelüberschriften seines Buches, „Antisemitismus“ sei „ein untaugliches Erklärungsmodell für Kritik an Israels Politik“. Die Klage über „antisemitische Juden“ zeigt, welcher Grad an Nervosität – angesichts zahlreicher kritischer Stimmen und Initiativen auf der ganzen Welt – herrscht. Der Diskurs wird auch bei uns sehr bald eine neue Überschrift tragen: „Die Zeit ist reif für Palästina.“5