Im Kopf von Daniel Pearl

Bernard-Henri Levys letztes Buch ist die neueste Droge des Krisenherd-Tourismus

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Am 23.01.2002 stirbt der Wall Street Journal-Südostasien-Korrespondent Daniel Pearl vor laufender Kamera - es entstehen Bilder einer Hinrichtung, die um die Welt gehen (Mörderische Propaganda). Der renommierte französische Intellektuelle Bernard-Henri Levy kann sich mit den offiziellen Erklärungen genauso wenig zufrieden geben, wie mit den Prozessergebnissen des Falls und macht sich deshalb Anfang 2002 auf Pearls Spuren. In seinem Buch "Wer hat Daniel Pearl ermordet? Der Tod eines Journalisten und die Verstrickungen des pakistanischen Geheimdienstes mit al-Qaida" hat er seine Recherchen in Form eines Untersuchungsromans niedergeschrieben.

Knapp ein Jahr lang war Levy unterwegs. Seine Reiseroute, eine minutiöse Rekonstruktion der Pearlschen Suchbewegung in den Monaten vor seinem Tod, führte ihn von Karatschi nach Kandahar, Neu-Delhi, Washington, London und wieder nach Karatschi. In diesen Orten interviewte er Menschen, die mit Pearl zu tun hatten: seine Eltern, Arbeitgeber, Kollegen und seine Kontaktmänner. Doch auch ranghohe Militärs, Geheimdienstler, Staatsmänner, Anwälte, Polizisten sowie die Führer islamistischer Organisationen waren in diesen Fall mehr oder weniger involviert und für Levy deshalb genauso von Interesse.

Eine Doppelbiografie?

Der Leser folgt dem Autor, der Anfang der 1970er mit "Indes Rogues" sein Debüt vorlegte, durch die winkeligen Gassen pakistanischer Slums, durch verstaubte Aktenlager des indischen Geheimdienstes sowie in die Kommandozentralen windiger Machthaber. Man ist dabei, wenn Levy ein Hotel in Pakistan aufsucht, das sich als getarnte Anlaufstelle für Gotteskrieger entpuppt. Man sitzt mit Levy im Auto, wenn er eine Route nachfährt, die das Auto der Entführer am Tag ihres Coups gefahren ist. Wie auch an anderen Stellen, wird man hier durch die Beschreibungen der vorbeiziehenden Landschaften so sehr in den Blick des Autors hineingezogen, dass man meint, bei ihm zu sein. Bei ihm, bei Danny, wie Levy, Daniel Pearl nach einer Weile zu nennen beginnt. Ja, Identitäts-Zapping bzw. Perspektiven-Morphing ist Levys Methode, die bereits ganz am Anfang offen gelegt wird:

Ich werde in seine Fußstapfen treten, von Islamabad bis Karatschi den Spuren des Mannes folgen, der ahnungslos in das Dunkel trat, dieselben Schritte tun wie er, beobachten wie er, möglichst denken und fühlen wie er - bis zum bitteren Ende, bis zum Augenblick seines Todes.

Und so gibt es zahlreiche Passagen, die eine Unmittelbarkeit suggerieren und eine Nähe, als würde Levy durch die Augen einer Überwachungskamera blicken, die auf Pearl fortwährend gerichtet war. Das Prinzip der Einfühlung wendet Levy ebenfalls auf Omar Sheikh an, seinen mutmaßlichen Mörder. Ein Unterfangen, welches Levy mit gewissen Vorbehalten anging:

Da sind die Tücken der Nachsicht, das Risiko, vor lauter Verständnis am Ende zu entschuldigen, die Gefahr, bei der Schilderung des Geschehenen, vor lauter Freude am eignen Geist und Verstand, allmählich den Eindruck zu wecken, alles habe zwangsläufig so kommen müssen.

So will Levy "Wer hat Daniel Pearl ermordet?" als Doppelbiografie verstanden wissen, eine Art Bestandsaufnahme des dualistischen Prinzips zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Pearl und Omar als zweiten Seiten ein und der selben Münze. Doch ist es nicht etwas mehr als eine Doppelbiografie geworden? Ein weiterer Lebenslauf zieht sich schließlich wie ein Leitmotiv durch das Buch: Es ist die Vita des Autors. Levy spiegelt sich in den beiden, vornehmlich in Pearl. Er hat viele vergleichbare Erfahrungen gemacht und hat viele der Regionen besucht, in den meisten Fällen viel früher als Pearl .

So lässt Levy, der vorgibt Fakten und nichts als die Fakten in diesem Buch zu präsentieren, zahlreiche Erinnerungen einfließen: Pakistan 1971 (damals traf er Z.A. Bhutto, der sich an der Schwelle zur Macht befand), Bangladesh 1973 (damals war er Widerstandskämpfer in einem Stammesgebiet in der Nähe Afghanistans), Bosnien 1992/3 (als Omar dort gekämpft haben soll, hat er als Jude im belagerten Sarajevo an der Seite der bosnischen Moslems ausgeharrt), Ankara und Dubai 1994 sowie Israel 2002 (damals traf er Moshe Yaalon, nach dem dieser zum Generalstabschef der israelischen Armee ernannt worden war).

Levy, der seit über 30 Jahren Kriegsschauplätze bereist, nutzt diese Lebensabschnitte wie ein weiteres Reservat, um sich in die Köpfe seiner Protagonisten hineinzuversetzen - man könnte auch kritisch anmerken, dass Levy diese beiden Fälle als Katalysator für eine Selbstdarstellung nutzt. Denn so sehr er die beiden Männer von allen Seiten beleuchtet, so sehr er sie ins Rampenlicht rückt, der heimliche Protagonist scheint stets er selbst zu sein. Schließlich erlebt der Leser alles schlussendlich durch Levys Brille: durch seine Art, die Dinge darzustellen (der "Untersuchungsroman" zeichnet sich durch einen sehr eigenwilligen, multi-perspektivischen Erzählduktus aus), und seine Art, die Dinge zu benennen.

Die Disneyfizierung Pakistans

Besonders auffällig ist Levys Sprache, wenn es um die vermeintlich abgründigen und negativen Themen seines Gegenstandes geht. Worte wie "Böse", "Teufel", "Finsternis", "Bastard", "Barbar" oder "Dämon" gehen ihm erstaunlich häufig und erstaunlich leicht über die Lippen - ein Vokabular, das er lediglich für Gotteskrieger, Islamisten, Muslime und Pakistanis benutzt. Erstaunlicher ist noch, dass selbst der kritische Leser nach einer Weile durch dieses Vokabular manipuliert ist.

Diese Wirkung erzielt Levy aus mehreren Gründen: Er versteht es, den Leser durch seinen Erzählduktus emotional einzubinden, und er versteht es, ihn von den dunklen Machenschaften zu überzeugen, vor allem den Verstrickungen islamistischer Organisationen mit dem pakistanischen Geheimdienst (ISI). Nach einer Weile glaubt man tatsächlich, dass in Pakistan der Sitz des Bösen ist. So sagt Levy über die besagten Organisationen:

Die Austauschbarkeit ihrer Verbrechen und Machtstrukturen, die spiegelbildliche Art, wie sie miteinander verknüpft sind, sodass man sie oft verwechselt, ist zum Kennzeichen Pakistans geworden.

Levy weist hier auf einen Missstand hin, der vor allem in Anbetracht der Tatsache ins Auge sticht, dass die Atommacht Pakistan ein Verbündeter der USA ist, jedoch ein entwaffnetes Regime wie der Irak Staatsfeind Nummer Eins der USA war. Trotz allem drängt sich die folgende Frage auf: Welchen Nerv trifft Levy wirklich, wenn er ein Land wie Pakistan als den Hort des Teufels disneyfiziert? Dieses Problem geht noch nicht einmal auf die Ungenauigkeiten, beziehungsweise logischen Fehler seiner Ausführungen zurück: Wie kann zum Beispiel ein ortloses globales Netzwerk (Al Qaida) mit einem herkömmlichen Staatsapparat (ISI) deckungsgleich sein?

Dieses Problem geht vor allem auf die Stärke seines Buches zurück: Es vermag, wie ein wirklich guter Krimi, seinen Leser in seinen Bann zu ziehen - die 431 Seiten sind wirklich schnell gelesen, man verschlingt das Buch förmlich. Es erweckt Orte einer Region zu Leben, von denen man bislang kaum ein Bild hatte, und versteht es auf diese Weise, die Fantasie des Lesers zu fesseln sowie um ein reichhaltiges Vokabular zu erweitern. Im wahrsten Sinne des Wortes "mind-blowing" ist, wenn Levy den Leser in das Labyrinth einer Madrassa führt (jener Stadt in der Stadt, die keinem Fremden zugänglich ist), um dort das geistliche Oberhaupt zu sprechen.

Krisenherd-Tourismus im Informationszeitalter

Doch steht dieses Vokabular der Imagination, genauso wie Levys unsachliche Wortwahl, weniger im Dienste der Aufklärung, als vielmehr im Dienste von Verklärung und Verschleierung. Der Grund ist einfach: Levy fasziniert seinen Leser, weil er einen Mythos spinnt. Pakistan wird durch sein Buch genauso überzeichnet und in das Zeichenarsenal der Popkultur überführt, wie Nordkorea und der Irak in der massenmedialen Folklore der Geo-Politik. Nicht zuletzt wird Pakistan damit zu einem attraktiven "Reiseziel" des Krisenherd-Post-Tourismus, einer Form des Krisenherd-Tourismus im Informationszeitalter, die ihren Ursprung in der Medienberichterstattung während des Vietnam-Krieges gefunden hat.

Ein relativ unkontrollierter Strom von Bildern und Nachrichten drang damals in das Bewusstsein von Daheimgebliebenen. Wer ein Radio, einen Fernseher und Zugang zu Tageszeitungen hatte, meinte den Ablauf des Krieges so zu erleben, wie er an den urbanen und ländlichen Fronten des asiatischen Landes tatsächlich auch stattfand. Dafür sorgten Info-Updates, visuelle Häppchen und Sound-Bytes, die täglich frei Haus geliefert wurden. Krieg war erstmals zu einem Medienereignis geworden, die Geburtsstunde des Krisenherd-Tourismus im Informationszeitalter hatte geschlagen.

Der britische Soziologe Chris Rojek prägte in diesem Zusammenhang Begriffe wie "mind-voyaging" und "collage-tourism". Begriffe, die unterstreichen, dass Begegnungen mit im Ausnahmezustand suspendierten Ländern auch im Kopf vonstatten gehen können und dass das Erleben von touristischen Objekten in diesem Zusammenhang medial konstruiert ist und keineswegs mehr an einen realen Ort gebunden ist.

"Wer hat Daniel Pearl ermordet?" ist dieser Tradition zuzuordnen. Und Levy, der im klassisch-heroischen Sinne ein Krisenherd-Tourist alter Schule ist, hat mit dem Erzähler-Ich seines "Untersuchungsromans" nichts weniger als das neuste Rollenmodell eines Protagonisten des Krisenherd-Post-Tourismus im 21. Jahrhundert erfunden. Was Levys Enthüllungen abgesehen davon noch auslösen werden, bleibt abzuwarten.

Bernard-Henri Levy: "Wer hat Daniel Pearl ermordet? Der Tod eines Journalisten und die Verstrickungen des pakistanischen Geheimdienstes mit al-Qaida". Econ Verlag 2003. 442 Seiten. 24 Euro.