Israel-Krieg und Gaza: Wie die Moral unsere Sicht auf den Konflikt beeinflusst

Krieg plus Moral gleich Kriegsmoral? Die Gleichung wirft Fragen auf. Das zeigt sich auch beim Selbstverteidigungsrecht und der Fokussierung auf Opfergruppen. Ein Kommentar.

Kaum ein Artikel oder eine Sendung über den Gaza-Krieg kommt ohne den Hinweis auf den 7. Oktober und die Massaker an diesem Tag aus.

Damit wird jeder Leser oder Zuschauer sofort einer Gewissensprüfung unterzogen. Wie steht er zum Töten von Menschen? Die Frage stellt sich als moralische Grundsatzfrage. Lehnt auch er das Töten von Menschen ab oder entschuldigt er diese Tat und erweist sich damit als Unmensch.

Nimmt man den Grundsatz ernst, dass jedes Töten abgelehnt wird, dann müssten die Vertreter dieser Position konsequenterweise auch das Töten von Palästinensern durch Israel ablehnen und kritisieren. Das ist aber nicht der Fall, was nicht heißt, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird.

Im Folgenden werden eine Reihe von Aspekten angeführt, die diese Parteinahme rechtfertigen sollen. Sie sagen aber vor allem etwas über das moralische Denken selbst aus.

Die Fokussierung auf Frauen und Kinder

Als Beweis für die besondere Niederträchtigkeit der Hamas wird darauf verwiesen, dass sich unter den Opfern viele Kinder und Frauen befinden. Moralisch argumentierende Menschen kennen offensichtlich Unterschiede beim Töten und Morden.

Unterschiede, die es aus der Perspektive der Opfer eigentlich gar nicht gibt oder geben kann. Ihnen wurde unterschiedslos das Leben genommen, tot ist tot. Anders wollen diejenigen das sehen, die sich selbst als besonders moralisch oder ethisch Urteilende verstehen. Der Tod von Kindern gilt ihnen als besonders verabscheuenswürdig sein, weil diese unschuldige Wesen seien.

Die besondere Abscheu gegenüber dem Töten von Frauen rührt daher, dass diese als wehrlose Wesen gelten. Eine Sichtweise, die sich nicht dadurch blamiert, dass nicht nur in der israelischen Armee viele Frauen nicht nur Uniform, sondern auch Gewehr tragen.

Das Bild, das mit der moralischen Betrachtungsweise von Frauen und Männern transportiert wird, scheidet die wehrlose Frau vom Mann als Kämpfernatur, der im Kampf bestehen kann. Als gäbe es im Krieg noch einen Kampf Mann gegen Mann, dem die Moralisten noch etwas Positives abgewinnen können, wenn sie zwischen den Opfern unterscheiden.

Was ist typisch für Männer, dass sie den Tod mehr verdienen als Frauen und Kinder? Sind sie mitschuldig an ihrem Tod, weil sie im Kampf versagt haben?

All diese Unterscheidungen sind vielen Menschen geläufig, ohne dass sie viel über die einzelnen Implikationen nachdenken müssten.

Debatte über Israel-Krieg: Die Sicht auf Angriff und Verteidigung

Dass die Hamas am 7. Oktober Israel angegriffen hat, ist eine Tatsache, aber damit ist die Sache nicht erledigt. Mit dem Verweis auf den Angriff ist in den Augen der Moralisten auch die Schuldfrage im Konflikt geklärt und damit die Frage, für wen Partei zu ergreifen ist.

Aus der Sicht der Parteien ist die Lage jedoch nicht so eindeutig, denn Politiker oder Staatsmänner und -frauen verstehen ihre Militäraktionen so gut wie nie als Angriff, sondern immer als Verteidigung ihrer Rechte.

Während die Hamas es wohl als ihr Recht ansieht, ihr angestammtes Land zu verteidigen und einen eigenen Staat zu gründen, sieht Israel in seinen Aktionen einen Akt zum Schutz seiner Bevölkerung, auch wenn ein Teil dieser Bevölkerung dabei ihr Leben lassen muss.

Um zu entscheiden, wer als Angreifer und wer als Verteidiger anzusehen ist, wird auf den Zeitpunkt des Konfliktbeginns verwiesen, wobei dieses Kriterium nicht eindeutig ist.

Schließlich gab es bereits vor dem 7. Oktober militärische Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und Israel. Raketen wurden auf Israel abgefeuert, Israel hat nicht nur den Gazastreifen bombardiert.

Wo will man da den Beginn des Krieges ansetzen und damit die Schuldfrage entscheiden? Bei der Gründung des Staates Israel und der damit verbundenen Massenvertreibung der Palästinenser oder beim Tempel Salomos und dem damit verbundenen Wohnrecht der Juden in Palästina?

An dieser Stelle wird deutlich, dass diese Entscheidung keine Frage der Geschichte ist, sondern eine Frage der willkürlichen Setzung oder Voreingenommenheit. Sowohl die Unterstützer Israels als auch die Unterstützer der Palästinenser wählen ihre Daten, um zu beweisen, dass ihre Seite im Recht ist und deshalb das Recht hat, andere zu töten.

So rigoros die Moral zunächst auftritt, wenn sie sich auf die Massaker vom 7. Oktober bezieht, so gnadenlos ist sie, wenn es um die Rechtfertigung der Gewalt gegen die Palästinenser geht. Wer angegriffen wird und sich verteidigt, hat demnach jedes Recht, andere zu töten.

Solidarität mit … wem?

Die Entscheidung für eine Seite geht oft mit dem Aufruf zur Solidarität mit der entsprechenden Partei einher.

Entweder wird das Schicksal der Bombardierten oder das Recht Israels auf Selbstverteidigung beschworen. Mit der Forderung nach einem palästinensischen Staat wird suggeriert, dass damit das Opferdasein der Palästinenser ein Ende hätte.

Dabei hat das Vorgehen der Hamas gezeigt, dass sie vor Opfern nicht zurückschreckt, denn die Reaktion Israels war vorhersehbar und damit viele Tote auf palästinensischer Seite. Das Staatsgründungsprogramm der Hamas geht ebenso über Leichen wie das Staatsprogramm der Israelis, die ihren Staat als unvollendet betrachten, ablesbar an der Vertreibung der Palästinenser im Westjordanland unter dem Schutz der Armee und der Bewaffnung der Siedler.

Dies zeigt sich auch in der stetigen Ausweitung der Siedlungen, die sich fast über das gesamte Westjordanland erstrecken. Zwei Staatsprogramme stehen sich gegenüber, die beide die Herrschaft über dieselbe Region beanspruchen. Hier steht Recht gegen Recht und Gewalt gegen Gewalt. Und dieser Gegensatz soll in einer Zweistaatenlösung befriedet werden?

Beide Seiten sehen in den Angehörigen der jeweils anderen Seite die Personifizierung ihres Staatsanspruchs, und so vernichtet die Hamas alle Menschen anderer Nationalität, die sich auf dem von ihr zu schaffenden Staatsterritorium aufhalten, während Israel mit seiner Strategie des Aushungerns und der flächendeckenden Bombardierung des Gazastreifens sowie der Aufforderung an Ägypten deutlich macht, dass es auf die Vertreibung oder Vernichtung derer abzielt, die einen Anspruch auf einen palästinensischen Staat erheben könnten.

In den Solidaritätsbekundungen werden beide Seiten zu Opfern erklärt, was leicht fällt, da die staatlichen Programme zu vielen Toten führen. Aus der Opferrolle folgt dann das Recht auf Gewalt gegen die andere Seite.

Ginge es wirklich um die Opfer, wäre schnell klar, dass beide Seiten ihre Bürger als Herrschaftsmaterial missbrauchen und über Leichen gehen. Man könnte leicht die Gemeinsamkeit entdecken, mit der die Politiker ihre Völker behandeln.

Die einen werden bombardiert, die anderen in Uniformen gesteckt und dürfen ihren Kopf hinhalten. Schließlich beruht jede Herrschaft darauf, dass die Untertanen ihre Pflichten erfüllen und nicht verweigern.

"Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson"

Mit dieser Aussage wiederholte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), was bereits Angela Merkel gegenüber Israel betont hatte.

Gemeint ist die Vernichtung der Juden durch die damalige deutsche Staatsführung in den 1930er- und 1940er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Aus diesem Staatsprogramm soll nun eine moralische Pflicht für alle Deutschen und auch für das Land werden, sich auf die Seite Israels zu stellen.

Auch hier zeigt die Moral ein seltsames Gesicht. Es sind Menschen ermordet worden, aber die Solidaritätserklärung richtet sich an einen Staat, und das ist ein Unterschied. Einen Unterschied, den in der Öffentlichkeit und in der Politik niemand mehr machen will und so wird jede Kritik an Israel unter Antisemitismusverdacht gestellt.

Zudem ist Israel ein besonderer Staat, der sich als Staat aller Juden versteht. Judentum bezeichnet eine Religionszugehörigkeit.

Damit stellt sich Israel in eine Reihe mit anderen Religions- oder Gottesstaaten wie Iran oder Saudi-Arabien. Gilt jetzt die Solidarität solchen Staaten?

Und was ist mit den Bewohnern Israels, die nicht in die Synagoge gehen? Sind sie keine vollwertigen Bürger? Oder leitet sich die Zugehörigkeit zum Judentum aus der Abstammung ab, dann würde es sich um einen rassistischen Staat handeln?

Schlussfolgerungen

Die moralische Weltsicht wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet.

Umgekehrt stellt die moralische Perspektive zugleich ein Verbot dar, nach den Ursachen und Gründen von Kriegen und Konflikten zu fragen.

Die Benennung von Gründen für das Handeln einer Seite gilt zugleich als Parteinahme für diese Seite und wird mit der entsprechenden Moralkeule beantwortet.

So werden moralisch einwandfrei Denkverbote ausgesprochen, Räume entzogen, Veranstaltungen verboten und Menschen aus ihren Berufen gedrängt und damit ihrer Existenzgrundlage beraubt.

So stellt sich eine werteorientierte Öffentlichkeit dar, die daran interessiert ist, dass die Bürger alles akzeptieren, was von oben vorgegeben wird, und sich nicht selbst Gedanken über die Ursachen von Kriegen und Armut in der Welt machen.

Dies könnte geradezu zu einer Verweigerung von Gehorsam und Pflichterfüllung führen.

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