JFK und die Dallas Cowboys
Seite 6: Lee Harvey Oswald
Oswald hatte als Teenager in der paramilitärischen Jugendorganisation Civil Air Patrol das Fliegen und wohl auch das Schießen gelernt. Er ging zum Militär, wo er angeblich Radarspezialist wurde und auf Flughäfen diente, auf denen mit dem U2-Spionageflugzeug das damals geheimste CIA-Projekt abhob.
Für einen Marine ungewöhnlich wurde er in russischer und spanischer Sprache unterrichtet, was eine Verwendung im Marinenachrichtendienst Office of Naval Intelligence (ONI) nahelegt.
Der junge Mann, der sich stets in Gesellschaft strammer Antikommunisten bewegte, wurde über Nacht vom Kommunismus befallen, wanderte mit finanzieller Unterstützung des US-Außenministeriums in die Sowjetunion aus, heiratete dort und kehrte problemlos wieder in die USA zurück.
Entgegen dem üblichen Verfahren bei ausgereisten Geheimnisträgern legte die CIA keine hierfür vorgesehene Akte an. Demgegenüber ließ sich der ranghöchste CIA-Stratege für das Spiel mit Doppelagenten, James Jesus Angleton, persönlich über Oswald seit 1959 berichten.
Victor Marchetti, Ostaufklärer und Assistent von CIA-Direktor Helms, enthüllte 1974, dass der in den 1950er Jahren im Osten nahezu blinde Marinegeheimdienst als Kommunisten legendierte Amerikaner in die Sowjetunion "auswandern" ließ, bis diese nach geraumer Zeit "Heimweh" bekamen und zurückkehrten, um über ihre Erkenntnisse zu berichten. Das KGB beobachtete Oswald mit entsprechendem Argwohn.
Zurück in New Orleans und Dallas bewegte sich Oswald wieder ausschließlich in antikommunistischen Organisationen. Der Mann hinter Oswalds Arbeitgeber in Dallas, die Reily Foods Company, war ein geschworener Castro-Gegner, ebenso Oswalds Freunde de Mohrenschildt, Ferrie und Banister. De Mohrenschildt gab 1977 an, er habe Oswald im Auftrag des CIA-Chefs von Dallas James Walton Moore kontaktiert. Moores Akten gehören zum noch gesperrten Material.
Trotz seiner antikommunistischen Einstellung posierte Oswald im Radio als Marxist-Leninist und inszenierte ein Fair Play for Cuba-Komitee in New Orleans. Einem bis 2017 zurückgehaltenen Dokument meldete das FBI Wochen vor dem Attentat an die Kollegen in Dallas, dass das Fair Play for Cuba-Komitee nach Oswalds Umzug nach Dallas keine Mitglieder mehr hatte.
2017 gab man auch die 1976 an den späteren CIA-Direktor Richard Helms gestellte Frage frei, ob Oswald ein Agent der CIA etc. gewesen sei – nicht aber Helms Antwort.
Oswalds Ehefrau Marina berichtete von einer möglicherweise nur als Scherz gemeinten Unterhaltung, Oswald habe einen Anschlagsversuch auf den rechtsgerichteten Ex-General Edwin Walker begangen. Bei einem Schuss durchs Fenster am 10.04.1963 soll jemand den am Tisch sitzenden Walker mit einem Mannlicher Carcano-Gewehr verfehlt und keinen weiteren Schuss versucht haben.
Das FBI unterschlug einen Brief, den Oswald zwei Wochen vor dem Attentat an den rechtsextremen Ölmilliardär H. L. Hunt geschrieben hatte, in dem sich Oswald nach seiner Position erkundigte.
Die CIA brachte Oswald in weiteren Kuba-Verdacht, indem sie kolportierte, Oswald habe sich in der von ihr observierten kubanischen Botschaft in Mexiko um ein Visum bemüht. Es ist jedoch äußerst zweifelhaft, ob die Person, die sich dort als Oswald ausgegeben haben soll, authentisch war.
Der Leiter der CIA-Station in Mexico, Winston M. Scott, hatte zuvor Vorschläge von Allen Dulles abgelehnt, "Sachen unterm Tisch" zu machen. Er bemerkte, dass irgendeine Aktion vor sich ging, bei der er umgangen wurde. Scott äußerte zudem Unverständnis darüber, dass die CIA Oswalds Spuren nach Kuba intern nicht mehr mit Interesse nachging.
Für eine Beteiligung Oswalds an den Morden an Kennedy oder Tippit gibt es keinen gerichtsverwertbaren Beweis. Anders als gewöhnliche Überzeugungstäter bestritt Oswald jegliche Tat. Zu einer Verteidigung, die seine geheimdienstliche Vorgeschichte hätte enthüllen und zur Suche nach anderen Tätern hätte führen können, kam es aufgrund seiner Ermordung nicht mehr.
Jim Braden
Auf einem Foto ist ein Mann auf der Feuerleiter des Dal-Tex-Gebäudes zu sehen, manche wollen darauf auch einen aus dem Fenster ragenden Gewehrlauf erkennen. Das Dal-Tex-Building bot ein ungestörtes Schussfeld, im Gegensatz zum angeblichen Sniper's Nest im Schulbuchlager, wo eine Eiche auf der Dealey Plaza das Zielen erschwert hätte. Schüsse aus dem Dal-Tex-Gebäude hätten als solche aus dem benachbarten Schulbuchlager erscheinen können.
Im Dal-Tex-Gebäude wurde eine verdächtige Person festgenommen, die sich als "Jim Braden" ausgab. Der Mann hatte in dem Bürogebäude eigentlich nichts verloren und gab an, er habe nach dem Aufruhr vergeblich ein Taxi gesucht und daher in dem Haus einen Münzfernsprecher nutzen wollen. Man nahm ihn mit auf die Wache, entließ ihn jedoch unter unklaren Umständen ohne Aktennotiz.
Zwei Monate zuvor hatte der Kalifornier seinen ursprünglichen Namen Eugene Hale Brading legal in Jim Braden ändern lassen. Brading hatte 35 Verhaftungen wegen Betrugs, Unterschlagung und Einbruchs auf dem Kerbholz.
Unklar blieb, warum sich der kriminelle Kalifornier an diesem Tag in Dallas befand und auf der Dealey Plaza herumtrieb. Am Vortag soll Braden ein Büro des rechtsextremen Ölbarons H. L. Hunt aufgesucht haben. Bereits bei diesem Treffen soll zufällig ausgerechnet der Mafioso Jack Ruby zugegen gewesen sein, der Braden abends auch im Motel besucht haben soll. Die Warren-Kommission glänzte mit Desinteresse.
David Ferrie
Bei seiner Festnahme hatte Oswald einen Bibliotheksausweis eines gewissen David Ferrie bei sich. Redneck David Ferrie hatte in der von Ölmillionär David Byrd finanzierten Civil Air Patrol jungen Männern das Fliegen beigebracht. Lange wurde abgestritten, dass einer davon Oswald gewesen war.
Vor der Kubanischen Revolution hatte Ferrie im Auftrag der CIA Waffen für Castro nach Kuba geflogen. Nachdem Castro jedoch die US-Betriebe verstaatlichte – darunter auch Ölfelder und eine Ölraffinerie – hatten die CIA mit logistischer Unterstützung der Ölmilliardäre Exilkubaner für eine Gegenrevolution trainiert. Für deren Scheitern machte auch der exzentrische Ferrie Kennedy verantwortlich und forderte häufig lautstark, den Präsidenten zu erschießen.
Ferrie und Oswald waren mehrfach in New Orleans im Büro des Privatdetektivs Guy Banister gesehen worden.
Guy Banister
Ebenfalls nicht im Warren-Report erschien Oswalds Verbindung zu Privatdetektiv Guy Banister. Der Ex-Marinegeheimdienstler hatte als FBI-Agent inländische Gegenspionage betrieben, etwa im Kampf gegen kommunistische Umtriebe Universitäten in Louisiana mit Informanten infiltriert.
Die Tatsache, dass US-Behörden Geheimdienstmethoden gegen die eigene Bevölkerung anwandten, wurde erst 1971 bekannt. Nach seiner Pensionierung eröffnete Banister in New Orleans ein privates Detektivbüro, fußläufig von Büros von FBI, CIA und Marinegeheimdienst ONI.
Banister gehörte ebenfalls der rechtsextremen John Birch Society sowie der American Nazi Party an und zog Organisationen wie die antikommunistische Liga in der Karibik auf, die gegen Castro agitierten. Über diese Netzwerke versorgte er offenbar im Auftrag der CIA, die im Inland nicht operieren durfte, Exilkubaner mit Waffen. Nach Beilegung der Kuba-Krise verlor die Regierung Kennedy jedoch ihr Interesse an weiteren Abenteuern in Kuba.
Indizien zufolge wollte Banister auch Pro-Castro-Aktivisten infiltrieren. Banisters zweite Büroanschrift fand sich auf einem von Oswald verteilten Flugblatt eines fiktiven Fair Play for Cuba-Komitees, was eine Desinformationskampagne im Stil von Cointelpro nahelegt.
Oswald wäre demnach als Lockvogel für kommunistische Aktivisten aufgetreten, um diese auszuspionieren oder durch Reden oder Taten als vermeintlicher Kommunist zu diskreditieren. Ruby soll Oswald einem Zeugen als "Lee von der CIA" vorgestellt haben.
Soweit bekannt, hatte Oswald in den USA zu keinem einzigen Kommunisten Kontakt, sondern trieb sich unter strammen Antikommunisten wie den Exilweissrussen in Dallas und den Exilkubanern in New Orleans herum. Der Sohn des exilkubanischen CIA-Mannes Ricardo Morales räumte 2021 ein, dass sein Vater Oswald in einem CIA-Trainingslager gesehen habe. Als Ausbilder für Scharfschützen habe sein Vater ausgeschlossen, dass Oswald mit seinen überschaubaren Schießkünsten die Treffer gemeistert haben könnte.
Hätte Oswald in diesen rechtsextremen Kreisen erfahren, dass jemand nicht nur Castro, sondern auch den Präsidenten hätte töten wollen, wäre es die patriotische Pflicht eines Informanten gewesen, dies zu melden.
Tatsächlich konnte der Secret Service Ende Oktober und Anfang November Attentate in Tampa und Chicago vereiteln, bei denen Exilkubaner den Präsidenten mit Gewehren von Häusern erschießen wollten. In Chicago wurde der John Birch-Aktivist Thomasse Vallee, verhaftet, wie Oswald ein ehemaliger Marine, der als psychisch labil galt. Der warnende Informant nutzte als Codenamen erstaunlicherweise die Bezeichnung "Lee".
Sollte Lee Oswald wirklich der bis heute unbekannte V-Mann Lee gewesen sein, dann hätte er dem Präsidenten sogar das Leben gerettet. Und sollten dies Kennedys Feinde erfahren oder zumindest wegen desselben Namens geglaubt haben, dann hätten sie ein valides Motiv dafür gehabt, um am tatsächlichen oder vermeintlichen Verräter Rache zu nehmen, ihn etwa zu opfern.
Oswalds noch immer gesperrte Steuer-Unterlagen könnten Aufschluss über seine tatsächlichen Arbeitgeber liefern, etwa das FBI, die CIA, den Marinegeheimdienst ONI oder eben Banister.
Clay Shaw
Weil Banister mit dem Kennedy-Attentat zu prahlen pflegte, gerieten der inzwischen verstorbene Banister und dessen Freund David Ferrie in den Focus von New Orleans Bezirksstaatsanwalt Jim Garrison. Dieser verdächtigte den mit Ferrie befreundeten schillernden Geschäftsmann Clay Shaw einer Verwicklung in das Attentat.
Shaw hatte für die CIA Tarnfirmen betrieben, war in Waffenhandel verstrickt und besorgte unter einem Decknamen mehrfach einen bekannten Anwalt für Oswald.
Garrisons Ermittlungen beunruhigten die Geheimdienste so sehr, dass sie die Staatsanwaltschaft abhören ließen. Die durch den Garrison-Prozess aufgeflammte Skepsis am Warren-Report veranlasste CIA-Chef Helms 1967, an Vertrauensjournalisten und andere Meinungsführer eine Anleitung zu versenden, wie man Zweifler am Warren-Report als "Verschwörungstheoretiker" lächerlich machen solle.
Wie sich bis in die 1990er Jahre zurückgehaltene Akten belegen, erwiesen sich prominente Journalisten, die Garrison scharf angriffen, als Gewährsleute der CIA.
Als Der Spiegel 1967 über den Garrison-Prozess berichtete, schloss das Blatt einen vierten Schuss zwar nicht aus. Mit den Kritikern, die dem Warren-Report zahlreiche Ungereimtheiten nachgewiesen hatten, setzte sich Der Spiegel jedoch nicht inhaltlich auseinander, sondern diskreditierte etwa Joesten mit dem Hinweis, Joesten lebe in einem Wohnwagen. Bei einer Aufzählung von als lächerlich verbrämten Verschwörungstheorien erwähnte Der Spiegel immerhin auch beiläufig die Spur zu den Ölbaronen.
Tatsächlich tauchte sogar im Warren-Report zumindest der Name des rassistischen Milliardärs H. L. Hunt auf, der ultrarechte Gruppierungen bespendete und vor dem Kennedy-Besuch ein Flugblatt verbreitete, das den Präsidenten als "Verräter" bezeichnete. Doch Hunt war keineswegs der einzige texanische Ölbaron, der gegen Kennedy intrigierte.
Aufschlussreich am Warren-Report und den zögerlichen Aktenfreigaben ist vor allem, wohin man in Dallas und Washington nicht sehen wollte: zu den Rednecks, den sie finanzierenden ultrarechten Ölmilliardären (Teil 2), die CIA (Teil 3) und einen fanatischen Kennedy-Feind, der keine Grenzen kannte und sich sich seiner Unantastbarkeit bewusst war.