Je weniger Diplomatie, desto mehr Atomkriegsgefahr

Seite 3: Echte Verhandlungen über Nato-Erweiterung und gemeinsame Sicherheit erforderlich

Die heute wiederholt vorgebrachte Analogie zu 1938 ist auf jeden Fall grob vereinfachend und in mancher Hinsicht sogar irreführend. Der Krieg in der Ukraine erfordert echte Verhandlungen zwischen den Parteien – Russland, der Ukraine und den USA –, um Themen wie die Nato-Erweiterung und die gegenseitige Sicherheit aller Konfliktparteien anzugehen.

Diese Fragen stellen echte strategische Dilemmata dar, was bedeutet, dass alle Parteien – die USA, Russland und die Ukraine – durch Verhandlungen Vorteile erreichen können, indem sie den Krieg beenden und ein für beide Seiten zufriedenstellendes Ergebnis erzielen.

Ehrlichkeit im Umgang mit der anderen Seite notwendig

Ferner waren es vorwiegend die USA und ihre Verbündeten, die bisher Vereinbarungen gebrochen und Diplomatie verweigert haben. Einige seien hier kurz erwähnt:

• Die USA haben ihre feierlichen Versprechen gegenüber dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow und dem russischen Präsidenten Boris Jelzin gebrochen, dass sich die Nato keinen Zentimeter nach Osten ausdehnen werde.

• Die USA haben Russland getäuscht, indem sie den gewaltsamen Putsch in Kiew unterstützten, der den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch stürzte.

• Die USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien redeten mit gespaltener Zunge und haben sich geweigert, das Minsk-II-Abkommen zu unterstützen.

• Die USA sind 2002 einseitig aus dem Vertrag über die Abwehr ballistischer Raketen und 2019 aus dem Intermediate Force Agreement ausgestiegen.

• Die USA haben sich geweigert zu verhandeln, als Putin am 15. Dezember 2021 den Entwurf eines russisch-amerikanischen Vertrags über Sicherheitsgarantien vorschlug.

Russland zu Friedensverhandlungen bereit

Tatsächlich gibt es seit Anfang 2022 keine direkte Diplomatie mehr zwischen Biden und Putin. Und als Russland und die Ukraine im März 2022 direkt verhandelt haben, schritten Großbritannien und die USA ein, um ein Abkommen auf der Grundlage der ukrainischen Neutralität zu blockieren.

Im Gegensatz dazu bekräftigte Putin in seinem Interview mit Tucker Carlson im vergangenen Monat die Offenheit Russlands für Verhandlungen und tat dies kürzlich erneut.

Verhandlungen der einzige Ausweg

Aber der Krieg in der Ukraine tobt weiter, mit Hunderttausenden Toten und Zerstörungen im Wert von Hunderten Milliarden US-Dollar. Wir nähern uns dem nuklearen Abgrund und es ist höchste Zeit zu reden und zu verhandeln.

Es wäre zu wünschen, dass sich die Verantwortlichen an die unsterblichen Worte und die Weisheit von JFK in seiner Antrittsrede erinnern: "Let us never negotiate out of fear. But let us never fear to negotiate." (deutsch: "Lasst uns niemals aus Angst verhandeln. Aber wir sollten auch keine Angst haben, zu verhandeln."

Jeffrey Sachs (1954, Detroit, Michigan) ist ein US-amerikanischer Ökonom und Professor. Er promovierte 1980 an der Harvard University in Wirtschaftswissenschaften. Sachs' Karriere ist geprägt von verschiedenen akademischen Positionen sowie Beratertätigkeiten für bedeutende internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen, den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank. Als Direktor des Center for Sustainable Development an der Columbia University und als Professor setzt er sich intensiv für nachhaltige Entwicklung ein. Besonders bekannt ist Sachs für seine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung von Wirtschaftspolitiken in Osteuropa während des Übergangs vom Kommunismus zum Kapitalismus. Er gilt als Verfechter globaler Armutsbekämpfung.

Sachs' Leistungen in der Wirtschaftswissenschaft brachten ihm zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen ein. Sein Werk und sein Einsatz für eine gerechtere Weltwirtschaft haben seinen Einfluss weit über die Grenzen der akademischen Welt hinaus ausgedehnt. In "The Price of Civilization: Reawakening American Virtue and Prosperity" (2011) setzt er sich mit Fragen der US-Gesellschaft und Wirtschaft auseinander.

Telepolis hat von Sachs eine Reihe von Artikeln über Hintergründe, Verlauf und Auswirkungen des Ukraine-Kriegs und des Israel Kriegs veröffentlicht. Ebenso wie John J. Mearsheimer gehört Sachs zu den herausragenden US-Wissenschaftlern, die eine klare realistische und kritische Position gegenüber der verhängnisvollen US-Außenpolitik einnehmen.

Der vorliegende Artikel mit dem Titel "The Urgency of Diplomacy" (deutsch: "Die Dringlichkeit der Diplomatie") erschien am 20. März 2024 auf der US-Website Common Dreams. Er wurde mit Erlaubnis des Autors von Klaus-Dieter Kolenda ins Deutsche übertragen und mit einigen Zwischenüberschriften versehen.

Übersetzer: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e. V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de