Migration: Demografie allein erklärt Zuwanderung nach Deutschland nicht
Migration ist komplex: Geburtenrückgang und Fachkräftemangel sind nur Teile des Puzzles. Doch was treibt die Zuwanderung wirklich an? Ein Gastbeitrag.
Es ist noch nicht lange her, dass Migration als ein Problem zu adressieren, als Ausdruck einer rechtspopulistischen oder gar faschistischen Gesinnung diskreditiert wurde. Inzwischen werden aber auch aus den Reihen der Grünen, die für "offene Grenzen" im Namen der "Vielfalt und Buntheit" an vorderster Front kämpf(t)en, Stimmen über Migrationsprobleme laut.
Cem Özdemir zum Beispiel klagt darüber, dass seine Tochter von "Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft und sexualisiert" werde. Franziska Brantner – Staatssekretärin bei Habeck und mit besten Aussichten Grüne Parteichefin zu werden – glaubt zwar nicht, dass solche Aussagen zur "Migration" eine ähnliche Kehrtwende wie zum Thema "Krieg und Frieden" signalisieren, gibt aber zu, dass der falsche Umgang mit dieser Thematik die "Gesellschaft zerreißen" könnte.
Die Arbeitsmigration per se gilt allerdings über nahezu alle Parteigrenzen hinweg nicht als ein Problem, sondern als eine unabweisbare Notwendigkeit. Özdemir darf mit breiter Zustimmung rechnen, wenn er dabei auf den "Geburtenrückgang" und "Fachkräftemangel" in Deutschland verweist. Das leuchtet prima facie mit Blick auf die 12 Millionen Erwerbstätigen mit Migrationshintergrund unmittelbar ein. Denn stellten sie die Arbeit von heute auf morgen ein, ist unbezweifelbar, dass die deutsche Wirtschaft sofort zusammenbrechen müsste.
Erklärt wird mit diesem richtigen Hinweis die Zuwanderung nach Deutschland natürlich nicht. Denn ganz egal, was die Gründe für die Arbeitsmigration aber, führte eine Remigration von Ausländern in großem Stile selbstverständlich immer zu einem Wirtschaftseinbruch.
Erklärungen für die Zuwanderung
Mit dem Hinweis auf den "Geburtenrückgang" wird allerdings richtig darauf hingewiesen, dass mit einem Anstieg des Altersquotienten immer mehr Rentner durch Erwerbstätige versorgt werden müssen. Lässt sich damit erklären, dass inzwischen etwas über 25 Prozent der rund 46 Millionen Erwerbstätigen einen Migrationshintergrund haben?
Nun sind nicht nur "Alte", sondern auch "Junge" – Kinder und Jugendliche – auf die Versorgung durch Erwerbstätige angewiesen. Neben dem Altersquotienten ist daher auch der Jugendquotient zu berücksichtigen. Dann aber kann das demografische Argument für die Notwendigkeit der Zuwanderung auch nur eine Anfangsplausibilität für sich beanspruchen, wenn die Summe dieser beiden Quotienten, der Gesamtquotient, einen Anstieg aufweist, der dem des Anstiegs der deutschen Bevölkerung mit Migrationshintergrund entspricht.
Der Gesamtquotient zwischen 2005 und 2022 ist aber nicht gestiegen, sondern gefallen. Der Anteil der Erwerbstätigen mit Migrationshintergrund aber ist im gleichen Zeitraum von acht auf zwölf Millionen gestiegen. Die demografische Entwicklung vermag also die Zuwanderung nach Deutschland nicht zu erklären.
Ist aber mit Blick auf die Tatsache, dass – wie uns der Rat für Migration wissen lässt – "mehr als jede dritte Reinigungskraft eine nicht-deutsche Staatsbürgerschaft hat" und "auf Baustellen es ähnlich viele sind und auch bei. Auch bei Lkw-Transporten, Paketzustelldiensten oder in der Altenpflege ohne Zuwanderung kaum noch etwas funktionieren würde", nicht Beleg dafür, dass es Deutschland an Fachkräften mangelt?
Auch wenn wir die Frage beiseitelassen, wie wünschenswert wieviel Nachfrage nach Dienstleistungen in den genannten Branchen ist, lässt sich daraus sicherlich nicht schlussfolgern, dass ohne die entsprechenden Fachkräfte mit Migrationshintergrund die Branchen nicht mehr funktionieren würden. Denn es mag an anderer Stelle einen Fachkräfteüberschuss geben.
Deutschland weist nun seit Dekaden hohe positive Handelsbilanzsalden aus. Das aber heißt, dass "Deutschland" mehr Waren ans "Ausland" geliefert hat, als es vom "Ausland" erhalten hat. Die Fachkräfte, die dieses "Mehr" produziert hatten, hätten also besser ein "Mehr" an Waren im Binnenmarktsektor produziert, die dann der heimischen Bevölkerung zugutegekommen wären.
Zuzugeben ist allerdings, dass unter der Annahme eines aus dieser Sicht wünschenswerten Außenhandelsgleichgewicht – auf das zu zielen die Wirtschaftspolitik nach dem Stabilitätsgesetz überdies verpflichtet ist – viele der vom Export abhängigen gegenwärtig über 11 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland nicht möglich gewesen wären. Wie hoch allerdings der "Verlust" von Arbeitsplätzen im Exportsektor auch immer gewesen wäre, er wäre ein Gewinn im Kampf gegen den Fachkräftemangel im heimischen Dienstleistungssektor gewesen.
Wohlfahrtsgewinne für alle?
Kurzum, bei der Suche nach einer plausiblen Erklärung der Zuwanderung von Arbeitskräften gilt es das exportorientierte Wirtschaftsmodell Deutschlands in den Blick zu nehmen. Im Kapitalismus aber wird so und das produziert, was Unternehmen die höchsten Gewinne verspricht. Die Zuwanderung nach Deutschland erklärt sich in letzter Instanz daher damit, dass sie sich für deutsche Unternehmen gerechnet hat.
Selbstverständlich kann damit die Zuwanderung nicht als wünschenswert ausgewiesen werden. Sie sollte sich für alle davon Betroffenen summa summarum rechnen. Das sei der Fall, so wird uns von den Experten der Bertelsmann Stiftung wie folgt versichert:
Migration birgt ein immenses Potenzial. So bereichert gut gesteuerte Migration unser Land, indem sie Arbeitsplätze schafft, Innovation befeuert, Steuereinnahmen generiert und kulturellen Austausch ermöglicht. Zudem erlaubt sie im Sinne eines Triple Wins Migrant*innen soziale Aufstiege und die Verbesserung ihrer Lebensstandards. Auch die Herkunftsländer profitieren durch die Transfers von Geld, Wissen und sozialen Ressourcen. Migration ist kein Nullsummenspiel.
Betrachtet man sich das mit der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte korrelierte reale Wirtschaftswachstum in Deutschland, dann scheint die deutsche Migrationssteuerung wenig zu kritisieren sein. Sobald man aber die äußerst schwache Reallohnentwicklung insgesamt und die Reallohneinbußen der unteren 40 Prozent der Lohnempfänger einerseits und die stark steigenden Unternehmensgewinne und Kapitaleinkünfte andererseits zur Kenntnis nimmt, wird diese Gewissheit infrage gestellt.
Nicht zuletzt auch deshalb, weil es zwischen der Zuwanderung und der moralisch problematischen Einkommensverteilung einen offensichtlichen Zusammenhang gibt. So zum Beispiel erklären die großen Lohnunterschiede zwischen Deutschland und vielen Herkunftsländer, dass gerade in den Niedriglohnsektoren, in denen überproportional viele "Ausländer" arbeiten, sinkende Reallöhne bezahlt werden und trotzdem sich Unternehmen über steigende Gewinne freuen konnten.
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Schaut man auf Verlierer und Gewinner der Arbeitsmigration, darf man natürlich nicht nur die Wohlfahrtseffekte in Zuwanderländern, sondern muss auch die in den Herkunftsländern berücksichtigen. Nun ist kaum zu bestreiten, dass viele der zum Beispiel 20 Millionen Osteuropäer, die sich allein bis 2012 "entschieden", im Ausland zu arbeiten, Wohlfahrtsgewinne realisierten. Allerdings ist auch wenig verwunderlich, dass ein solcher Exodus – wie auch Ökonomen des IWF nicht umhinkommen zuzugeben – die wirtschaftliche Entwicklung in diesen Ländern stark behinderte.
Die Zuwanderung nach Deutschland hat auch erst ermöglicht, dass die deutsche Exportwirtschaft an preislicher Wettbewerbsfähigkeit gewinnen und daher der vom Export stark abhängige Industriesektor zum gewichtigsten Wachstumstreiber Deutschlands werden konnte. An Wettbewerbsfähigkeit gewinnen aber kann man nur, wenn ein anderer an Wettbewerbsfähigkeit verliert.
Ein solcher Verlierer war Italien, wie deren stagnierende Wirtschaftsentwicklung und hohe Arbeitslosenraten, insbesondere unter Jugendlichen, belegen. Die Behauptung wirtschaftsliberaler Ökonomen, dass mit der grenzüberschreitenden Bewegungsfreiheit von Waren, Kapital und Arbeit positive Wohlfahrtseffekte für alle verbunden sind, steht also auf tönernen Füßen.
Umverteilung der Wohlfahrtsgewinne?
Selbst überzeugte Wirtschaftsliberale – wie Gerald Braunberger von der FAZ – geben inzwischen zu, dass die von ihnen propagierte "Bewegungsfreiheit" Verlierer produziert und deshalb von ihren Gewinnern ausreichend kompensiert werden müssen.
Es ist nun aber beliebig unwahrscheinlich, dass die zum Beispiel in Deutschland etablierten sozialen Umverteilungsmechanismen von der gegenwärtig nationalen auf eine supranationale Ebene gehoben werden können. Denn es gibt dort keine Staatsorgane, die über eine entsprechende Handlungsmacht verfügen und keine Institutionen – wie Gewerkschaften oder politische Parteien – die es auch nur als wahrscheinlich erscheinen lassen, dass "der Staat" seine Macht zur sozialen Umverteilung gebraucht.
Hayek hat schon früh erkannt, dass auch im Rahmen einer supranationalen Institution wie die EU unvermeidlich der "Spielraum der Wirtschaftspolitik der einzelnen Staaten in sehr beträchtlichem Maß" beschränkt wird. Von ihm erfährt man, was das für etwa den von Gewerkschaft ausgerufenen "Kampf für bessere tarifvertragliche Lösungen" bedeutet:
"Wenn erst einmal die Grenzen geöffnet sind und die Bewegungsfreiheit gesichert ist, verlieren […] Gewerkschaften, Kartelle oder Berufsverbände, ihre monopolistische Stellung und ihre Fähigkeit, qua nationale Organisation das Angebot ihrer Dienstleistungen oder Produkte zu kontrollieren."
An dieser Stelle erhebt sich der Verdacht, dass die Beschwörung eines "sozialen Europas" in Sonntagsreden in erster Linie dazu dient, den realen Sozialabbau zu bemänteln.
Kehrtwende in der Migrationspolitik
Ganz unverhohlen wird jedenfalls zur Verteidigung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit von Mario Draghi "unser Sozialmodell" infrage gestellt. Man könne nicht gleichzeitig dieses kostspielige Modell und unabdingbare Investitionen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit finanzieren. Selbst Apologeten der "Globalisierung" kommen allerdings nicht umhin zu konstatieren: "Der Freihandel hat fertig." Die deutsche Wirtschaftspolitik ist daher gut beraten, der Exportorientierung der deutschen Wirtschaft abzuschwören.
Es wäre allerdings naiv zu glauben, dass die mit dem Umbau der deutschen Wirtschaft unvermeidlich verbundenen Verteilungskämpfe politisch moderiert werden können, sodass sie nicht die "Gesellschaft zerreißen", ohne gerade und auch beim Thema "Migration" eine politische Kehrtwende zu vollziehen.
Wenig hilfreich sind dabei migrationskritische Aussagen wie die von Özdemir. Denn sie befördern zweifelsohne eine ethnokulturell motivierte "Fremdenfeindlichkeit", aber die genannten Probleme der Arbeitsmigration haben mit dem ethnokulturellen Hintergrund der Erwerbstätigen nichts zu tun.
Ein erster Schritt, sich abseits populistischer Sprüche, dem Migrationsproblem zu stellen, wäre schon getan, wenn man unterlassen würde, ausländische Fachkräfte mit Steueranreizen zu ködern und den Abschluss bilateraler Migrationsabkommen statt als Erfolg zu verkaufen, sofort einstellen würde.
Der Buchautor und Wirtschaftsjournalist Paul Steinhardt beschäftigt sich vorwiegend mit geld- und fiskalpolitischen Themen. Anfang 2016 gründete er gemeinsam mit Heiner Flassbeck das Online-Wirtschaftsmagazin MAKROSKOP, dessen Chefredakteur er bis Juni 2023 war.
Vor seiner journalistischen Tätigkeit sammelte Steinhardt über zwei Jahrzehnte wertvolle Erfahrungen in Führungspositionen der nationalen und internationalen Finanzwirtschaft. An der renommierten London School of Economics erwarb er einen Master of Science und promovierte anschließend an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main zu grundlegenden Fragen der Volkswirtschaftslehre.
Zuletzt erschien von ihm das Buch "Die Europäische Zentralbank: Herrschaft abseits von Volkssouveränität" im Promedia Verlag.