Nato und Russland: Kommt nach dem Ukraine-Krieg der Showdown im Schwarzen Meer?

Russische Kriegsschiffe im Schwarzen Meer. Bild: Tsuguliev, Schutterstock.com

Sicherheitslücke und Schlüsselregion: Die geopolitischen Interessen im Schwarzmeerraum werden immer deutlicher. Das Konfliktpotenzial ist enorm.

Das Schwarze Meer rückt strategisch immer mehr in den Fokus der Interessen Russlands und der Nato. Es stellt einen zentralen Schauplatz der Eskalation der Spannungen zwischen Russland und der Nato dar und wird seit Jahren immer häufiger ein Ziel von Nato-Truppenbewegungen und großangelegten Manövern, wie der sogenannten "Defender Europe" oder der russischen "Sapad"-Übung.

In einem Artikel mit dem Titel "Meer des Misstrauens" wurde das Schwarze Meer von Frank Nienhuysen im April 2021 treffend als "ein Meer der Interessen, Ort der Handelsströme und Energiepipelines" bezeichnet, wo sich "das Ringen Russlands und des Westens um Einfluss" verdichte.

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine häufen sich Stellungnahmen und Strategiepapiere, die eine neue Sicherheitsstrategie für den Schwarzmeerraum fordern und die prognostizieren, dass der Schwarzmeerraum in Zukunft noch stärker umkämpft und militarisiert werden wird.

Der russische Angriff auf die Ukraine habe die Bedeutung des Schwarzen Meeres deutlich aufgezeigt und das Interesse der Nato am Beenden der russischen Dominanz im Schwarzen Meer verstärkt, so etwa der Direktor des Douglas and Sarah Allison Center for Foreign Policy Studies, James Jay Carafano, im August 2022.

Strategischer Schlüsselbereich

Tatsächlich ist der Ruf nach einer stärkeren Nato-Präsenz im Schwarzmeerraum, in dessen Tenor sich beispielsweise rezente Veröffentlichungen der neokonservativen Heritage Foundation, der Stiftung Wissenschaft und Politik oder der Atlantic Council Task Force on Black Sea Security einreihen, älter als der russische Angriffskrieg in der Ukraine und wurde maßgeblich von Ben Hodges, dem ehemaligen Kommandeur der US-Landstreitkräfte in Europa geprägt.

So postulierte Hodges in einem Strategiepapier mit dem Titel "Das Schwarze Meer … oder ein schwarzes Loch?" schon im Januar 2021, dass eine langfristige militärische Strategie der Nato in der Schwarzmeerregion wesentlich für die westliche Sicherheit und Stabilität sei und dass dort aktuell der Ort wäre, wo sich die Nato und der Westen im Wettbewerb mit antidemokratischen Kräften behaupten und die Initiative ergreifen müssten, um ihren Einfluss und ihre strategischen Interessen durchzusetzen.

Die Schwarzmeerregion bezeichnet Hodges in dem Strategiepapier nicht nur als Russlands strategischen maritimen Schlüsselbereich, sondern als die buchstäbliche und philosophische Grenze zwischen liberaler Demokratie und Autokratie und als Sicherheitslücke, der von westlichen Sicherheitsplanern in den letzten 20 Jahren zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden sei.

Das Meerengenabkommen von Montreux

Vor dem Hintergrund des Meerengenabkommens von Montreux ist es nicht verwunderlich, dass die Stabilisierung und Stärkung der Zusammenarbeit mit der Türkei von Ben Hodges im Januar 2021 als das wichtigste langfristige diplomatische Ziel in der Schwarzmeerregion benannt wurde.

Das Abkommen aus dem Jahr 1936 gibt der Türkei die Kontrolle über den Wasserweg zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer und beschränkt die Durchfahrt militärischer und nicht militärischer Schiffe durch den Bosporus, das Marmarameer und die Dardanellen.

Das Abkommen legt fest, dass die türkische Regierung in Friedenszeiten in der Regel 8 Tage bevor ein Kriegsschiff den Weg zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer passieren will, auf diplomatischem Weg informiert werden muss und dass die Schiffe von nicht-Schwarzmeer-Anrainerstaaten sich nicht länger als 21 Tage im Schwarzen Meer aufhalten dürfen.

Hohe Bedeutung des Seehandels

Ebenso ist in dem Vertrag festgelegt, dass die Türkei in Kriegszeiten nach eigenem Ermessen entscheiden darf, welche Schiffe den Wasserweg passieren dürfen.

Die wirtschaftliche und geopolitische Bedeutung von Wassertransportwegen im Schwarzmeerraum wie dem Bosporus und den Dardanellen betonten in einem Artikel von April 2021 im Hinblick auf ihre historische Dimension Frank Nienhuysen und Tomas Avenarius:

"Vor allem die Zaren und die Sowjets brauchten die engen Wasserstraßen und die freie Durchfahrt durch das dazwischen liegende Marmarameer, um ihre Flotten aus dem Schwarzen Meer ins Mittelmeer zu schicken. Beim heutigen Russland Putins ist das nicht anders: Der Kreml versorgt so seine Truppen in Syrien."

Die Privilegien, die der Türkei durch das Meerengenabkommen von Montreux übertragen wurden, machen sie zu einem mächtigen Verbündeten im Wettstreit um die Vormachtstellung in der Schwarzmeerregion.

Russische Interessen im Schwarzmeerraum

Eine detaillierte Analyse der russischen Interessen im Schwarzmeerraum mit dem Titel "Russlands maritime Strategie im Schwarzen Meer. Umsetzung und Folgen für die Nato" veröffentlichte die Wirtschaftswissenschaftlerin Marion Kipiani schon 2018 im Marineforum.

Dort konstatierte Kipiani, dass die russische Schwarzmeerflotte "das strategische Rückgrat der Machtprojektion Russlands über den Bosporus hinaus ins östliche Mittelmeer und den Nahen Osten" darstelle und dass Russland zunehmend in der Lage sei, seine Interessen in als strategisch wichtig definierten Gewässern durchzusetzen.

Erstarken des russischen Führungsanspruch

Das Schwarze Meer sei durch ein Erstarken des russischen Führungsanspruchs in der Region seit 2000 vermehrt in den Fokus der russischen Außen- und Verteidigungspolitik geraten, und es werde von Russland primär durch das Prisma der gefühlten Bedrohung durch die Nato wahrgenommen, so Kipiani, was beispielsweise aus der 2015 von Wladimir Putin unterzeichneten Nationalen Sicherheitsstrategie hervorgehe

In dieser sei der Aufbau einer polyzentrischen Weltordnung mit Russland als einer der Führungsmächte als grundlegendes nationales Interesse definiert worden, welches durch die Nato-Osterweiterung und die Aufrüstung der Nato-Südostflanke bedroht werde. Die Zurückdrängung des Einflusses der Nato und der USA und Maßnahmen zum Schutz des russischen Staatsgebiets seien in den folgenden Strategiepapieren dominant gewesen, so Kipiani.

"Für Russland ist das Schwarze Meer der Hinterhof, eine Pufferzone. Es sieht ungern, dass Anrainer wie Bulgarien und Rumänien der Nato beigetreten sind. Andererseits hat es nach der Krim-Annexion seine Präsenz deutlich verstärkt und das Gebiet zu einer Festung ausgebaut", so auch Göran Swistek, Marineoffizier und derzeit Gastwissenschaftler an der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, Ende April 2021.