Prof. Johannes Varwick: "Die politische Kultur in den USA ist kaputt"
Europa zwischen den Fronten: Nato, Orbáns Friedensmission und unsere Rolle im Ukraine-Konflikt. Ein Telepolis-Podcast über die globale Unruhe.
Seit fast zweieinhalb Jahren führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Die Nato beschließt weitere Milliardenhilfen für Kiew und verordnet sich selbst ein massives Aufrüstungsprogramm, während Ungarns Regierungschef Orban, der auch EU-Ratspräsident ist, sich auf Friedensmission nach Kiew, Moskau und Peking begibt. Und gleichzeitig spielen sich in der westlichen Führungsmacht USA gleich mehrere Dramen ab.
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Der greise Präsident Biden, der im November wiedergewählt werden will, sorgt mit einem desaströsen TV-Auftritt bei seinen Anhängern für Entsetzen, während auf seinen Herausforderer Trump kurz darauf ein Mordanschlag verübt wird. Das alles geschieht innerhalb von wenigen Tagen. Und man fragt sich: Was ist gerade los in dieser Welt? Und welche Auswirkungen wird das auf Deutschland haben?
Dietmar Ringel hat darüber im Telepolis-Podcast mit dem Politikwissenschaftler Professor Johannes Varwick gesprochen, Leiter des Lehrstuhls für internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
▶ Welches der eben aufgezählten Ereignisse ist aus Ihrer Sicht das wichtigste?
Johannes Varwick: Das ist schon die Melange, die Sie beschrieben haben. Instabilität auf vielen Ebenen. Unsicherheit auf vielen Ebenen, die gewohnten Denkkategorien erodieren gewissermaßen vor unseren Augen. Für unsere Interessen ist natürlich der Ukraine-Krieg, also der Angriff Russlands auf die Ukraine, das Wichtigste, auch das bedrohlichste Ereignis, aber die Instabilität in den USA kann uns sicherlich auch die Sorgenfalten auf die Stirn treiben. Und insofern ist die Mischung derzeit schon eine, die einem sehr, sehr viele Sorgen machen kann und machen muss.
Der Mordanschlag auf Donald Trump
▶ Fangen wir mit dem jüngsten Ereignis an, dem fehlgeschlagenen Mordanschlag auf den republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten Trump. Welche Auswirkungen kann das haben? Sorgt das möglicherweise für etwas Besinnung und Nachdenken in den USA? Oder wird sich die Lage dort weiter zuspitzen?
Johannes Varwick: Das werden die nächsten Tage und Wochen zeigen. Es gab eine, wie ich finde, sehr vernünftige Reaktion von Joe Biden, dem aktuellen Präsidenten, der gesagt hat, wir müssen die politische Temperatur senken, wir dürfen nicht weiter in ein politisches Klima geraten, in dem Meinungsverschiedenheiten Feindschaft begründen.
Das ist der richtige Ton, finde ich. Und auch Donald Trump gießt nach dem, was man gerade hört, im Moment kein Öl ins Feuer. Aber er ist natürlich ein Typ, der vom Krawall lebt.
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Und insofern erwarte ich schon eine weitere Zuspitzung der Lage. Man darf auch nicht vergessen, dass Donald Trump nicht nur verurteilter Straftäter ist, er hat auch die letzte Wahl nicht anerkannt und, ich spitze das mal etwas zu, seinen Mob losgeschickt, um das Parlament in den USA zu stürmen.
Damit hat er wesentlich dazu beigetragen, dass das politische Klima versaut ist. Insofern sind die USA jetzt wirklich in einer instabilen Lage. Ein Kollege von mir aus den USA hat das so formuliert: Niemand in der Welt bewundert mehr das US-amerikanische politische System. Das sind wirklich schwerwiegende Vorgänge. Die politische Kultur in den USA ist kaputt, und ich hoffe, dass sie repariert werden kann. Ich bin aber skeptisch, ob das wirklich gelingt.
Vorbereitung auf Trumps Präsidentschaft
▶ Nun erwarten ohnehin viele, dass sich die USA noch mehr mit sich selbst beschäftigen wird als mit der Nato zum Beispiel oder der Ukraine, sollte Trump erneut Präsident werden. Aber ist das vielleicht jetzt schon so, nach diesem Ereignis, dass dort alles mehr oder weniger um die Innenpolitik kreist?
Johannes Varwick: Das war in den USA schon immer so. Alle Administrationen sind immer innenpolitisch getrieben. Trotzdem haben sie natürlich Interessen in der Welt. Und das wird sich, denke ich, auch nicht ändern. Aber die Frage ist, wie man die Interessen wahrnimmt. Und da gibt es schon einen klaren Unterschied zwischen Biden und Trump. Aus meiner Sicht ist die amerikanische Ukraine-Politik unter Biden ein absolutes Desaster.
Und man kann eigentlich nur hoffen, dass es besser wird, sollte Trump gewählt werden. Ich glaube auch, dass es tatsächlich besser werden würde, denn viel schlimmer kann es gar nicht mehr werden. In anderen Fragen allerdings, etwa im Umgang mit China, ist Trump noch aggressiver als Biden. Insofern ist das so ein wenig die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Europäer müssen auf November warten
Als Europäer hat man ohnehin keinen Einfluss darauf. Man muss es nehmen, wie es kommt. Aber die USA werden noch unberechenbarer werden nach der nächsten Präsidentschaftswahl. Und für Europa bedeutet das, dass es seine Strategie durchdenken muss, ob es sich wirklich noch so eng anlehnt an diesen unberechenbaren Partner USA oder ob es versucht, teilweise einen eigenen Weg zu gehen.
Und ich würde für letzteres werben. Aber die Europäer selbst sind gespalten, und das ist auch ein Problem, das wir sehen müssen. Insofern schüttelt sich gerade manches neu. Und das gibt auch Raum für Debatten, die man unbedingt führen sollte.
▶ Ich möchte zwei Bälle aufnehmen, die sie mir gerade zugespielt haben. Zum eine haben Sie die amerikanische Ukraine-Politik unter Joe Biden als Desaster bezeichnet. Warum?
Johannes Varwick: Wir haben jetzt zweieinhalb Jahre Krieg in der Ukraine, der von Russland verschuldet ist. Gar keine Frage, daran sind weder die Amerikaner noch die Europäer schuld. Aber natürlich haben wir, die Amerikaner wie die Europäer, auch ein Stück Verantwortung dafür. Ich unterscheide hier zwischen Schuld und Verantwortung.
Die Schuld liegt auf russischer Seite, Verantwortung auch bei uns. Wir haben mutwillig russische rote Linien überschritten mit dem Angebot und dem Beschluss der Nato, dass die Ukraine Nato-Mitglied wird. Dieser Beschluss ist schon aus dem Jahr 2008, wurde aber unter Joe Biden verstärkt.
Erinnerung an Trumps Ukraine-Politik 2021
Als er 2021 ins Amt kam, wurde ein amerikanisch-ukrainisches Sicherheitsabkommen geschlossen, in dem dieses Ziel noch mal bekräftigt wurde. Außerdem wurde die Aufrüstung der Ukraine mit Geld und Waffen aus Amerika intensiviert. Das hat die Konfliktlage beschleunigt. Und dann hat Russland die Ukraine angegriffen.
Noch mal: Daran trägt nicht der Westen Schuld, sondern alleine Russland. Aber die Amerikaner und der Westen weigern sich seitdem, über einen Interessenausgleich mit Russland auch nur nachzudenken. Und das ist nicht die richtige Reaktion, finde ich. Es gibt keinerlei Versuche, dieses Problem auch politisch zu lösen. Und deswegen halte ich die amerikanische Ukraine-Politik für ein Desaster.
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▶ Kommen wir zum zweiten Punkt. Sie haben gesagt, die Europäer müssten es nehmen, wie es kommt. Stimmt das? Gerade beim Nato-Gipfel in Washington gab es den Versuch, die Nato, wie es heißt, Trump-sicher zu machen und Europa in die Lage zu versetzen, mehr eigene Verantwortung zu übernehmen. Zum Beispiel durch das neue Zentrum in Wiesbaden, das die militärische Unterstützung der Ukraine organisieren und koordinieren soll. Ist das ein Zeichen dafür, dass Europa schrittweise die Führung übernimmt?
Johannes Varwick: Nein, ich sehe das nicht so. Ich halte das für eine Form der politischen Klempnerei, die versucht, mit technischen Dingen große politische Strömungen zu beeinflussen. Das wird aber nicht gelingen. Sollten die Amerikaner unter Trump in der Ukraine-Frage eine 180-Grad-Wende machen, in etwa so, dass man auf einen politischen Deal mit Moskau drängt und sagt, wir bezahlen nicht mehr diese Milliardensummen, die wir in der Vergangenheit bezahlt haben, dann werden die Europäer sich dem anpassen müssen.
Und dann kann man auch nicht mit dem Kommando in Wiesbaden, wo 700 Nato-Soldaten arbeiten, die Dinge ändern, sondern dann muss man sich den neuen Realitäten stellen. Insofern wird der Takt in der Ukraine-Frage in Washington bestimmt und nicht in Paris, Berlin oder Warschau.
Ich finde das falsch. Die Europäer müssten eine politische Initiative starten, von der man vielleicht auch die USA überzeugen kann. Und im besten Fall tut man das gemeinsam mit den USA. Aber ich glaube nicht, dass man, wenn der Wind sich in den USA dreht, sich dem fundamental entgegenstemmen kann als Europäer. Das ist aussichtslos.
Die Friedensinitiative von Viktor Orbán
▶ Ich will das Stichwort Friedensinitiative oder Friedensmission aufgreifen. Der ungarische Regierungschef und aktuelle EU-Ratsvorsitzende Viktor Orbán hat eine solche Mission gestartet, beginnend in Kiew, dann über Moskau und Peking bis nach Washington. Nun gibt es bei den Europäern aber vor allem Unmut darüber. Es heißt, Orban habe dafür kein EU-Mandat. Es wird entweder kleingeredet oder massiv kritisiert. Wie bewerten Sie es?
Johannes Varwick: Natürlich ist Viktor Orbán eine politische Figur, die man mit Skepsis sehen kann und die ich persönlich auch mit Skepsis sehe. Wir sollten aber zwischen dem unterscheiden, was in Ungarn innenpolitisch passiert und was Orban in der internationalen Politik versucht. Man kann Orban weiterhin kritisieren. Aber er hat doch zumindest den Versuch gemacht, mit den maßgeblichen Akteuren wieder zu reden. Und er konnte das nur deshalb machen, weil andere es nicht tun.
Und ich finde es schon etwas merkwürdig, wenn man das jetzt in dieser Art kritisiert und selbst gar kein politisches Alternativangebot macht. Das heißt, ich halte es für vernünftig, was Viktor Orbán macht. Er hat ja im Prinzip noch gar keine Agenda damit verbunden, sondern führt erst mal nur Gespräche, die andere nicht führen wollen – was ich für grundfalsch halte.
Die Übernahme ukrainischer Maximalpositionen
Der westliche Ansatz ist gänzlich unpolitisch. Er macht sich ukrainische Maximalpositionen zu eigen, von denen jeder weiß, dass sie am Ende nicht herauskommen werden. Und man verweigert sich jeder politischen Fantasie, auch vorauszudenken. In diese Lücke stößt nun Viktor Orbán und wird dafür massiv kritisiert. Ich finde, das passt nicht zusammen. Man sollte eigene politische Initiativen starten oder die Initiativen anderer unterstützen.
Etwa die brasilianisch-chinesische Initiative vom Mai 2023, die relativ gute Anknüpfungspunkte für eine politische Lösung bieten würde. Der Westen greift nichts davon auf, sondern macht gewissermaßen Durchhalteparolen, sagt, man könne erst dann verhandeln, wenn Russland seine Soldaten komplett aus der Ukraine abzieht. Ich halte das für Wunschdenken, würde mir das auch wünschen, gar keine Frage. Aber es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass es so kommt. Wir benötigen mehr Politik, mehr Diplomatie und weniger Durchhalteparolen.
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▶ Deutschland ist das größte, das stärkste, viele sagen, das wichtigste Land in der Europäischen Union. Mit Blick auf die Ukraine hört man hier seit Langem stets die gleichen Aussagen: Kiew soll alles bekommen, was es braucht. Und die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren. Sehen Sie trotzdem Bewegung in der deutschen Position?
Johannes Varwick: Zumindest in den öffentlich gemachten Aussagen sehe ich keine Bewegung. Was hinter den Kulissen passiert, vermag ich nicht einzuschätzen. Kanzler Scholz diffamiert im Grunde alle diplomatischen Bestrebungen, indem er sagt, das sei alles ein Diktatfrieden auf Geheiß Moskaus. Wenn man so an die Sache herangeht, hat man, glaube ich, keine politische Manövriermasse, um hinter den Kulissen etwas zu bewegen.
Ich würde mir trotzdem wünschen, dass hinter den Kulissen etwas passiert. Aus den Gesprächen, die ich führe, entnehme ich, dass viele erkennen, wie verlustreich dieser Abnutzungskrieg ist, dass er jederzeit weiter eskalieren, man noch sehr viel mehr dadurch verlieren kann. Die Suche nach politischen Lösungen liegt nach meiner Einschätzung gewissermaßen in der Luft, aber aus Deutschland nehme ich nichts dergleichen wahr.
Die diplomatische Selbstsabotage
Und noch mal: Wenn man sich öffentlich so eindeutig festlegt, dann fällt es vermutlich auch schwer, hinter den Kulissen Fortschritte zu erzielen. Ich glaube, die Stimmung muss sich drehen. Wir müssen erkennen, dass es in diesem Krieg keine guten Optionen mehr gibt und dieser anhaltende Abnutzungskrieg, der mit immer mehr westlichen Waffenlieferungen befeuert wird, nicht dazu führt, dass die Ukraine besser aus diesem Krieg herauskommt.
Sondern dass die einzige Chance, um auch für die Ukraine etwas Vernünftiges zu erreichen, der Wille zu einer politischen Lösung ist. Und die kann nicht darin bestehen, dass man Maximalforderungen, die völkerrechtlich und auch moralisch berechtigt sind, immer vor sich herträgt, sondern dass man auf der Basis eines Interessenausgleichs versucht, diesen Konflikt zu lösen. Ich finde, zu möglichst guten Bedingungen für die Ukraine.
Es geht also nicht darum, Russland was zu schenken oder gar russlandnah oder russlandfreundlich zu sein. Das ist bei mir jedenfalls hundertprozentig nicht der Fall. Und ich sehe auch eigentlich niemanden, der sagt, Russland handele vernünftig. Selbst bei denen nicht, denen man das immer unterstellt. Wir müssen doch jetzt versuchen, aus diesem Krieg wieder herauszukommen. Und dafür benötigen wir politische Initiativen.
▶ Wenn wir uns das Dokument vom Nato-Gipfel in Washington anschauen, da geht es um noch deutlich mehr militärische Unterstützung. Weitere 40 Milliarden Dollar für die Ukraine sind da vermerkt. Und man geht offenbar davon aus, dass dieser Krieg militärisch zu gewinnen sei.
Wie Sie es beschreiben, klingt es aber ganz anders. Nun hieß es schon oft im Laufe des Krieges, es benötige neue Waffensysteme für Ukraine. Erst Leopard-Panzer, dann Raketen mit größerer Reichweite. Jetzt ist von F-16-Kampfflugzeugen die Rede. Gibt es solche Game-Changer, mit denen die Ukraine den Krieg noch gewinnen kann?
Johannes Varwick: Aus meiner Sicht nicht, aber ich habe auch keine Glaskugel zur Verfügung, und ich nehme zur Kenntnis, dass die offizielle Position in der Nato genau so ist, wie Sie das gerade beschrieben haben. Dort glaubt man offenkundig daran, dass man die militärischen Ziele mit immer mehr Unterstützung erreichen kann.
Es ist aber ein Drahtseilakt. Denn die Amerikaner betonen ebenso wie die Deutschen immer wieder, dass man die Ukraine einerseits maximal unterstützen, aber nicht in einen Krieg mit Russland eintreten wolle. Ich glaube nicht, dass wir damit so weitermachen können wie bisher. Beim Nato-Gipfel wurde nicht nur die militärische Unterstützung für die Ukraine bekräftigt, sondern zunehmend wird auch ein denkbarer politischer Ausweg verbaut, nämlich ein wie auch immer ausbuchstabierter Neutralitätsstatus der Ukraine.
Zur Ukraine-Gipfelerklärung der Nato
Die Gipfelerklärung der Nato spricht von einem unumkehrbaren Weg der Ukraine in die Allianz, es wird eine Art ukrainische Nato-Mission ins Leben gerufen, die das vorbereiten soll. Der Zug ist in eine eindeutige Richtung unterwegs. Ich glaube, dass man sich damit politische Kompromisslinien verbaut und auch militärisch nichts erreicht.
Das heißt, im Prinzip bewegen wir uns in einer massiven Sackgasse. Und das Ende dieser Sackgasse ist absehbar, es könnte auf einen Krieg mit Russland hinauslaufen. Ich gehöre zu denjenigen, die davor warnen, die wirklich appellieren, auch an die westliche Politik, so nicht weiterzugehen.
Natürlich kann man auch an Russland appellieren, diesen brutalen Krieg zu stoppen. Das möchte ich gerne hinzufügen, gar keine Frage. Aber darauf haben wir jetzt erst mal keinen Einfluss. Wir haben aber, so hoffe ich zumindest, Einfluss auf die Stimmung im eigenen Land und im eigenen Bündnis. Die warnenden Stimmen sind allerdings im Moment noch sehr leise. Ich finde, wir müssen lauter werden. Sonst wird das nichts. Wir gehen in eine falsche Richtung.
▶ Schauen wir noch etwas weiter nach Osten. Die Nato nennt in der Gipfelerklärung von Washington China einen ihrer Hauptgegner – neben Russland, Iran und dem internationalen Terror. Die Nato spricht von einer systemischen Herausforderung für die euroatlantische Sicherheit durch China. Wie sehen Sie es – bedroht China die Sicherheit Europas und der Vereinigten Staaten?
Johannes Varwick: Auf dem Gipfel wurde sehr deutlich gesagt, China habe sich an die Seite Russlands gestellt. Und es wird auch erklärt, China liefere Technologie, ohne die Russland den Krieg nicht führen könne. China bestreitet das. Es gab auch sehr scharfe Reaktionen von chinesischer Seite, in denen das bestritten wird.
Ich glaube, man kann schon lange sagen, dass China ein enger Verbündeter Moskaus im Ukraine-Krieg geworden ist. Das ist aber aus meiner Sicht ein Grund mehr dafür zu sagen, wir können den Krieg so nicht weiterführen und auch nicht gewinnen, weil die Durchhaltefähigkeit Russlands auch durch chinesische Unterstützung enorm ist.
Und ich sehe auch nicht, dass sich daran was ändern wird. Man hatte ja im Westen gehofft, dass China sich nicht so deutlich an die Seite Russlands stellt, aber jetzt sieht man, dass das Wunschdenken war. Gleichzeitig bin ich aber auch dafür, dass man auch mit Blick auf China nicht weiter eskaliert, natürlich ohne naiv zu sein. Ich gehöre nicht zu denen, die China erst mal alles Gute unterstellen.
Aber ich gehöre auch nicht zu denen, die China bedingungslos alles Schlechte unterstellen. Ich habe den Eindruck, dass mit China ein Interessenausgleich möglich wäre, auch mit Blick auf die Ukraine. Weil auch China kein Interesse daran hat und haben kann, dass man Grenzen mit militärischer Gewalt verschiebt. Das war nie chinesisches Interesse.
Und China hat auch schon relativ früh einen Friedensplan vorgelegt, einen Zwölf-Punkte-Plan, wo an erster Stelle stand, dass man die territoriale Integrität von Staaten zu beachten hat. Ich glaube, da hätte man mit China mehr machen können. Aber jetzt sind wir eher in einer konfrontativen Lage.
Im Übrigen vollzieht die Nato nur das nach, was in Washington schon lange gesagt und gedacht wird, dass eben China die künftige Hauptbedrohung ist und so weiter. Ich finde, die Nato sollte da nicht mitmachen. Wenn man sich das Kommuniqué von Washington genau anschaut, dann ist die Sprache auch interpretationsfähig. Es wird nämlich auf der einen Seite gesagt, man bleibt offen für ein konstruktives Verhältnis.
Und auf der anderen Seite möchte man seine Awareness hochfahren, also achtsam sein im Umgang mit China. Ich finde jedenfalls nicht, dass die Europäer bei der harten amerikanischen Linie mitmachen sollten, in der China als Kernbedrohung dargestellt wird, sondern wir brauchen auch mit China eine Debatte um einen Interessenausgleich.
Und ich finde auch, den Gegensatz zwischen Demokratie und autoritären Systemen sollten wir nicht überziehen in der internationalen Politik, weil das einfach nur in eine unproduktive Konfrontation führt. Wir benötigen Diplomatie, Interessenausgleich, Respekt vor unterschiedlichen Politikansätzen.
Gegenwärtig geht es in der internationalen Politik aber eher in eine andere Richtung. Und alle, die das anmahnen, werden gleich als naiv bezeichnet. Ich finde das nicht naiv. Ich finde, Nüchternheit und Realpolitik sollte bei der Überlegung eine Rolle spielen, ob man sich mit so wichtigen Staaten wie China vorbehaltlos anlegt. In der öffentlichen Diskussion wird das aber aus meiner Sicht im Moment zu wenig beachtet.
Im Telepolis-Podcast sprach Dietmar Ringel mit Prof. Johannes Varwick. Er leitet den Lehrstuhl für internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.