Sicherheit und Kriminalität im Spreebogen

Seite 3: Das Bundeskanzleramt

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Das Hauptgebäude des Bundeskanzleramtes (BKAmt) an der Willy-Brandt-Straße Nr. 1 wurde im April 2001 für 262 Millionen Euro von den Architekten Axel Schultes und Charlotte Frank fertig gestellt. Das Gebäude ist ungefähr achtmal so groß wie das Weiße Haus in Washington. Im Gegensatz zu den anderen Gebäuden im Regierungsviertel ist das Bundeskanzleramt aus Sicherheitsgründen nur einmal jährlich an einem Wochenende im August für den allgemeinen Publikumsverkehr teilweise zugänglich.

Ansonsten ist das gesamte Hochsicherheitsareal von einer Grünfläche und einem zwei Meter hohen Stahlgitterzaun umgeben, um die Öffentlichkeit auf Abstand zu halten. Hinter dem Zaun schirmt eine weitere Betonwand die Diensträume ab. Videokameras sorgen für eine Rundumüberwachung. Für die Einlasskontrollen am Bundeskanzleramt und den Objektschutzstreifendienst ist eine Bundespolizeiinspektion (Rufname KARTELL) zuständig, deren Einsatzzentrale im Erdgeschoss untergebracht ist. Der Personenschutz für die Bundeskanzlerin Angela Merkel liegt in den Händen der Sicherungsgruppe (SG) des Bundeskriminalamtes.

Schaut der Besucher vom Platz der Republik auf das Kanzleramt, fällt der Blick über den Ehrenhof zunächst auf das zentrale Leitungsgebäude, ein Würfel mit neun Stockwerken und halbrunden Segmenten an den Stirnseiten. Das Gebäude besitzt zwei Untergeschosse über die lediglich bekannt ist, daß hier rund 200 Stellplätze für die Privatfahrzeuge der Mitarbeiter vorhanden sind und hier die Aktenbestände des Kanzleramtes lagern. Seitdem Helmut Kohl nicht mehr als Bundeskanzler fungiert, sind aus diesem Hochsicherheitsbereich keine weiteren Akten zur illegalen Parteienfinanzierung (Leuna-Affäre) verschwunden.

Im 1. Obergeschoss ist der große Konferenzsaal und an der Nordseite der Raum für die Pressekonferenzen. Das zweite und dritte Geschoss nehmen Technikräume und die Küche ein. Hier herrscht Ingenieur Joachim Wiethoff als Hausmeisterersatz. In der „Geheimetage“ im 4. Obergeschoss befinden sich abhörsichere Räume für den Krisenstab und das Lagezentrum, das dem Chef des Bundeskanzleramtes direkt unterstellt ist. Im 5. und 6. Obergeschoss liegen die Büros der drei Staatsminister im Bundeskanzleramt und zwei Kabinettssäle. In der Skylobby im 7. Geschoss sind das Büro der Bundeskanzlerin in der südöstlichen Ecke und gegenüber das Büro des Chefs des Kanzleramtes Thomas de Maizière, der gerade wegen seiner Verwicklung in die sächsische Mafia-Affäre unter Druck steht. Die Panzerung besteht hier aus bis zu 8 mm dickem Schutzglas. Das persönliche Sekretariat der Bundeskanzlerin und ihre offizielle Dienstwohnung befinden sich eine Etage höher. Im Gegensatz zu ihrem Amtsvorgänger nutzt Angela Merkel die kleine Kanzlerwohnung nicht, sondern wohnt weiterhin in ihrer Privatwohnung gegenüber dem Pergamon-Museum.

An das Leitungsgebäude schließen sich zwei lang gestreckte Flügel an. Hier befinden sich 370 Büros für die fast 450 Mitarbeiter der Arbeitsebene, meist handelt es sich dabei um Berufsbeamte mit langjähriger Verwaltungserfahrung. Entlang der beiden Hauptachsen sind kammartig die Räumlichkeiten angeordnet, sodass sich jeweils zwei Büros mit ihrer Fensterfront direkt gegenüberliegen. Diese werden nur durch einen Innenhof getrennt, der nach außen durch eine Glasfassade abgeschottet ist und so als Wintergarten dient. Diese Architektur bietet den notwendigen Blick- und Abhörschutz, ohne dass das Gebäude als fensterloser Bunker erscheint.

Das Bundeskanzleramt verfügt über eine eigene Stromversorgung durch ein eigenes Blockheizkraftwerk und eine Photovoltaik-Anlage (1300 qm) auf dem Dach, so dass die hauseigene Sicherheitstechnik auch bei einer Unterbrechung der externen Stromversorgung weiter funktioniert. Wie bei anderen Regierungsgebäuden entwarf das Berliner Ingenieurbüro HHP auch für das Bundeskanzleramt das Brandschutzkonzept.

Organisatorisch ist das Bundeskanzleramt in sechs Abteilungen mit rund 45 Referaten gegliedert. Innerhalb der Abteilung 1 (Zentralabteilung, Innen- und Rechtspolitik) unter Leitung von Ministerialdirektor Michael Wettengel sind zwei Referate für die eigene Sicherheit zuständig: Referat 113 (Innerer Dienst, Sicherheit und Geheimschutz) und Referat 114 (Informations- und Telekommunikationstechnik, Vervielfältigungsstelle). Bei der Abteilung 6 (Bundesnachrichtendienst; Koordinierung der Nachrichtendienste des Bundes), die von dem früheren Vizepräsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Ministerialdirektor Klaus-Dieter Fritsche geleitet wird, soll das Referat 622 (Nachrichtendienstliche Lageinformationen, Auftragssteuerung und Informationsauswertung auf den Gebieten Terrorismus, Extremismus und Internationale Organisierte Kriminalität) nach Möglichkeit Frühwarnmeldungen über drohende Terroranschläge liefern.

Jeden Dienstagmittag findet im Kanzleramt die wöchentliche Sicherheits-Lagebesprechung statt. Zu den Teilnehmern zählen der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (Ernst Uhrlau), der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (Heinz Fromm) und der Präsident des Bundeskriminalamtes (Jörg Ziercke). Weitere nachrichtendienstliche Fragen werden im Staatssekretärsausschuss für Fragen des geheimen Nachrichtenwesens und der Sicherheit behandelt. Unter Vorsitz des Chefs des Bundeskanzleramtes kommen hier die Vertreter des Innen-, Außen, Verteidigungs- und Justizministeriums zusammen. Auf Kabinettsebene werden sensitive Sicherheitsprobleme im Bundessicherheitsrat (BSR) oder im informellen „Sicherheitskabinett“ besprochen.

Innerhalb der Bundesregierung wird die Kommunikation zu einem großen Teil über den Informationsverbund Berlin-Bonn (IVBB) abgewickelt. An dieses elektronische Netzwerk sind neben dem Bundeskanzleramt die Bundesministerien, der Bundestag, der Bundesrat, der Bundesrechnungshof und weitere oberste Bundesbehörden angeschlossen. Insgesamt 40.000 Regierungsbedienstete in über 180 Liegenschaften sind an den 5000 km-Glasfaser umfassenden Kommunikationsverbund angeschlossen. Sie können über IVBB telefonieren, faxen, E-Mails verschicken, Videokonferenzen abhalten, im Internet surfen oder sich in das Verwaltungsnetz der Bundesländer TESTA-D einklicken. Das IVBB-Netz ist zugelassen zum Verschicken von Regierungsdokumenten bis zur Klassifizierung „Vertrauenssache – Nur für den Dienstgebrauch“ (VS-NfD). Betrieben wird das Netz von über 100 Mitarbeitern der T-Systems International GmbH. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) trägt die Verantwortung für den notwendigen Geheimschutz im IVBB-Intranet. Die Firewalls haben allein im Jahr 2004 fast 20 Millionen Virenangriffe abgefangen.

Seit August 2005 dient das IVBB zugleich als Zentrales Alarmierungs- und Informationssystem (Z.A.I.S.), über das im Krisenfall Regierungsbedienstete gezielt alarmiert werden können. Mit dem IVBB steht bei einer Krise ein separates Telefonnetz parallel zum öffentlichen Netz zur Verfügung, das eine gesicherte Telefonversorgung und eine unabhängige, regierungsinterne Informationsplattform für das Krisenmanagement bietet.

Für die Sicherheitstechnik im Kanzleramt, insbesondere für elektronische Abschirmungsmaßnahmen, zeichnete die Ingo Thomas GmbH in Stade verantwortlich. Zur Telekommunikationsanlage von Alcatel lieferte Siemens die computergesteuerten Chiffriergeräte:

„Der Schlüsselcode, mit dem die „High-Condidential“- und „Top Secret“-Botschaften selbst für Computer-Hacker „unleserlich“ gemacht werden sollen, wird permanent fortentwickelt. Um dies zu leisten, müssen die Rechner in kürzester Zeit einige Millionen Rechenoperationen leisten. Lauschaktionen zwischen dem Berliner Kanzleramt und Downing Street No. 10 sollen so ausgeschlossen werden. (...) „Leider ist es unsere Erfahrung, dass in Spitzenzeiten häufig die Sicherheit zugunsten der Netzgeschwindigkeit geopfert wird“, gibt ein Berater des Militärischen Abschirmdienstes zu bedenken, der sich jahrelang mit der Sicherheit von Computernetzen beschäftigte.“

In einem Fall gelang es einer Person die Absperrungen zum Kanzleramt zu überwinden. Am 9. November 2001, kurz nach Beginn des Afghanistankrieges, kletterte der Philosophiestudenten Raimond Heydt über den Zaun und sprühte die Parole „Make love not war“ in roter Lackfarbe an eine Gebäudewand. Dank der umfassenden Schutzmaßnahmen konnte der Pazifist kurz nach der Tat leider festgenommen werden. In einem Interview erklärte er zum Tatablauf:

Ich bin gegen 15 Uhr losgezogen und habe zunächst Flugblätter verteilt. Anschließend bin ich zum Kanzleramt und habe abgewartet, bis die zwei Polizisten, die dort immer Streife gehen, um die Ecke gebogen waren. Dann habe ich zuerst das Friedenszeichen gesprüht und mit dem Spruch MAKE LOVE NOT WAR weitergemacht. Als ich beim NOT war, habe ich die Polizei kommen sehen, konnte aber noch zu Ende sprühen, dann klickten die Handschellen und die Polizei hat mich mitgenommen. Zunächst brachten sie mich zur Gefangenensammelstelle in Berlin-Mitte. Ich habe der Polizei gesagt, dass ich keine Angaben zu meiner Person mache, um mich nicht zu belasten. Ich wurde eingeliefert, durchsucht, das ganze Programm halt.

Ein Beamter der Bundespolizei, die für den Objektschutz am Kanzleramt zuständig ist, erklärte:

Ein bisschen peinlich ist das schon. Eigentlich dürfte so etwas nicht passieren.

Tagesspiegel

Auch andere Vorkommnisse endeten harmlos: In Folge der Terroranschläge vom 11. September 2001 tauchten in den USA und anderen Ländern zahlreiche Briefe mit Anthrax-Erregern bzw. einem weißen Pulver auf. Allein in Deutschland wurden bis Ende 2001 3.949 Milzbrand-Fehlalarme durch Trittbrettfahrer ausgelöst, darunter mindestens 290 Fälle in Berlin. Auch das Bundeskanzleramt zählte zu den Adressaten der „Milzbrandbriefe“. Am Morgen des 15. Oktober 2001 wurde in der Poststelle im Erdgeschoß erstmals ein verdächtigter Brief entdeckt. Die beiden Mitarbeiter verließen daraufhin fluchtartig den Raum. Im Robert-Koch-Institut wurde gegen Abend festgestellt, dass der Brief nur harmloses Pulver enthielt. Am 19. Oktober 2001 ging ein zweiter Brief mit weißem Pulver in der Poststelle ein.

Eine echte Bedrohung des Bundeskanzleramtes ergibt sich durch die zahlreichen Besuche ausländischer Regierungschefs und Tyrannen, die sich zum Meinungs- und Gedankenaustausch mit der deutschen Regierungsspitze treffen. Für den Transport des Staatsgastes befindet sich im Garten des Kanzleramtes ein Hubschrauberlandeplatz für die VIP-Helikopter der Fliegerstaffel Ost der Bundespolizei vom Fliegerhorst in Blumberg. Nicht nur beim bekannten Besuch der niederländischen Königin Beatrix am 25. April 1991 traten Sicherheitsprobleme auf. Als am 3. Dezember 2004 der irakische Staatspräsident Ijad Allawi zu einem Staatsbesuch in Berlin weilte, rechneten die deutschen Sicherheitsbehörden mit einem Attentatsversuch der Gruppe Ansar al-Islam, nahmen drei Verdächtige (Ata Aboulaziz Rashid aus Stuttgart, Rafik Mohamad Yousef aus Berlin-Neukölln und Mazen Ali Hussein aus Augsburg) fest und lösten Sicherheitsstufe 1 aus. (Siehe: Warten auf den Anpfiff) Darüber berichtete die Berliner Zeitung am folgenden Tag:

Für Bundeskriminalamt, Berliner Polizei und Bundespolizei galt die höchste Sicherheitsstufe. Es war wie im Ausnahmezustand, sagten Polizisten. BGS-Beamte aus Bad Düben und Blumberg wurden zum Schutz des Regierungsviertels nach Berlin beordert. (...) Sicherheitsstufe eins bedeutet, dass Straßen komplett gesperrt werden, Scharfschützen auf den Dächern liegen und die Fahrtroute geheim gehalten und ständig geändert wird. (...) Etwa 1000 Polizisten waren bis Freitagabend im Dauereinsatz. Wegen der Anschlagswarnung wurden Straßen komplett gesperrt. In der Innenstadt kam es zu erheblichen Staus. Der Zugang zum Regierungsviertel wurde stark eingeschränkt. Mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten standen entlang der Fahrtstrecke des irakischen Premiers.

Nicht zuletzt wurde auch die Bundeskanzlerin selbst schon Opfer des in Berlin grassierenden Überwachungswahns. Der Wachschutz des Pergamon-Museums konnte monatelang mit einer auf dem Dach installierten Video-Kamera in die Privatwohnung des Kanzlerehepaares spähen. Nachdem dies öffentlich bekannt wurde, verkleinerten Monteure den Schwenkbereich der Kamera.