Ukraine-Krieg: Das zweite Opfer ist die Meinungsfreiheit

Ukrainischer Soldat mit russischer Zeitung: Propaganda macht nur der Feind. Bild: goldznak.ua

Zum zweiten Jahrestag des Angriffs wird allerorts von Narrativen aus Moskau gewarnt. Doch auch dadurch wird unsere Demokratie geschwächt. Ein Telepolis-Leitartikel.

Zwei Jahre nach dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine hat sich eine zweite Front gebildet. Nicht im abtrünnigen Osten der Ukraine, nicht im ukrainischen Kernland, sondern im kollektiven Westen. Dort wird um die Haltung zum Krieg und um die Grenzen des Sagbaren gerungen. Zugleich gibt es den staatlich und medial forcierten Versuch, die Debatte zu dominieren. Das hat verheerende Folgen. Nicht nur politisch, auch gesellschaftlich.

Die Angst vor dem Dritten Weltkrieg

Natürlich ist mit dem Konflikt zwischen Russland und der Nato, der mit dem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine eskaliert ist und der seither auf ukrainischem Boden militärisch ausgetragen wird, die alte Angst vor einem globalen, möglicherweise nuklearen Krieg wieder erwacht. Das ist nachvollziehbar. Fast zwei Generationen Deutscher ist mit dieser Angst aufgewachsen, geschürt von Filmen, Jugendbüchern, Katastrophenschutzübungen.

Sprechen oder gar Rückschlüsse für die eigene Haltung daraus ziehen darf man aber nicht. Ein wieder möglicher dritter Weltkrieg sei "schon länger ein sehr beliebtes Schlagwort unter russischen Politikern und Propagandisten", schreibt der kremlkritische Journalist Mikhail Zygar im Spiegel. Auch der russische Propagandist Wladimir Solowjow meine, der Dritte Weltkrieg laufe bereits, schreibt die Frankfurter Rundschau. Also alles ein russisches Narrativ, eine Erzählung, um den Westen einzuschüchtern?

Sprachverbote und Verdächtigungen

Russland verbreite "Desinformation, Propaganda und Narrative", warnte der Chef des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang; etwa jenes, dass der Kreml die Ukraine angegriffen habe, weil die eigenen Sicherheitsinteressen durch den Westen verletzt worden seien. Dass diese These Gegenstand politischer und politikwissenschaftlicher Debatten ist, ficht den Geheimdienstchef nicht an. Russisches Narrativ! Punkt!

Geschichtsvergessenheit und Desinformation

Beendet wird die Debatte derart vor allem dann, wenn es um Gründe und Genese des Ukraine-Krieges geht. Ein "überaus wirksame Narrativ des Kremls" kreise um das "angebliche Versprechen" im Jahr 1990, die Nato werde niemals über die deutsche Ostgrenze hinaus ausgedehnt, schreibt der Journalist, die Zeitschrift des Deutschen Journalisten-Verbandes, der sein Logo nach der russischen Invasion online in ukrainischen Nationalfarben einfärbte.

Dass all dies dokumentiert ist und ein zentraler Aspekt der damaligen Debatte der Westmächte war, um den Russen eine Zustimmung zur Deutschen Einheit abzuringen, wird einfach übergangen. So werden Interpretationen des historischen Geschehens als Desinformationen abgetan und Einzelmeinungen bar jeder Belege zur Wahrheit erklärt.

Militarisierung und fehlender Dialog

Drei zentrale Aspekte des Ukraine-Krieges, dreimal Sprachverbote. Wer in den angeführten Fällen eine dissidenten Meinung vertritt, macht sich per se verdächtig, Fürsprecher des Kremls zu sein. Das trifft auch auf jene zu, die aus Sorge um Menschenleben für eine schnelle politische Lösung des Ukraine-Krieges eintreten. Wer Frieden will, ist für Putin.

Dem gegenüber steht eine Phalanx politisch medial Akteure, die einer militärischen Lösung Wort reden. Unter massiver Ausblendung der Kriegsfolgen in der Ukraine, der Konsequenzen für die globale Ernährungssicherheit und dessen, was nach dem Krieg der Russen von der europäischen Friedensordnung noch übrig ist, behaart diese Seite auf weitere Waffenlieferungen. Wer Waffen will, ist für Frieden.

Dieser Einhegung der Debatte ist nicht nur für die Gesellschaft und die demokratische Kultur schädlich, sondern droht auch, eine gefährliche Eigendynamik zu entwickeln. All das ist nicht neu. Die Geschichte – in diesem Fall jene des Kalten Krieges – wiederholt sich.

Der Politikwissenschaftler und Konfliktforscher Dieter Senghaas hat einst die Folgen der Aufrüstungs- und Abschreckungspolitik während der Blockkonfrontation untersucht. Bereits 1983 fand er heraus: Die Militarisierung des historischen Ost-West-Konfliktes folgte einer Eigendynamik, "die es schwieriger macht, seinen politischen Kern offenzulegen und anzusprechen." Seine Schlussfolgerung: "Um politische Lösungsstrategien zu entwickeln, ist es jedoch wichtig, diesen Kern zu verstehen."

Viele dieser Erkenntnisse sind dem Vergessenen anheimgefallen, obwohl angesichts der Debatte über eine nukleare Bewaffnung der EU gerade Senghaas‘ Erkenntnisse zur atomaren Abschreckungspolitik auf brisante Weise aktuell geworden sind. Denn der beginnende Rüstungswettlauf des 21. Jahrhunderts droht den nach 1945 bei weitem zu übertreffen.

In dem Maße, wie Aufrüstungsgedanken und -pläne vorangetrieben werden, sinkt aber die Bereitschaft, mit der Gegenseite in einen Dialog zu treten. Die Militarisierung der Welt wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung.

Zur Autonomie der Rüstungskomplexe

Die Rüstungskomplexe in Ost und West seien zwar lose aufeinander bezogen, stellte Senghaas 1970 fest, doch ihr wirkliches Wachstum werde autonom in den jeweiligen Abschreckungsgesellschaften bestimmt:

Mit wachsender Selbstbezogenheit werden Konflikte dann nicht nur fiktiver, sondern auch potenziell virulenter, und ihre Dynamik lässt sich immer weniger aus dem interaktiven Zusammenspiel der Gegner verstehen. Sie wird in wachsendem Maße dann nur noch begreifbar aus der im jeweiligen Akteur entwickelten, in autistischer Abgeschlossenheit produzierten, potenziell aggressiven Eigendynamik.

Dieter Senghaas

Dass dieser Gegner zunehmend auch im eigenen Land verortet wird, ist offensichtlich. Zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine, wird allenthalben vor Propaganda und Desinformation aus Moskau gewarnt, womit jene ins Visier rücken, die entsprechend geframte Thesen vertreten.

Krieg und Einschränkung der Meinungsfreiheit

Diese Entwicklung behindert zunehmend die freie Meinungsbildung und damit einer der Leitvorstellungen demokratischer Gesellschaften. Sie nämlich setzt voraus, dass möglichst viele unterschiedliche Perspektiven in die Debatte einfließen und Pluralismus als wesentliches Prinzip von Demokratie gewahrt bleibt.

Und, ja, es gibt Propaganda aus Russland, wie könnte das auch anders sein in Zeiten des Krieges? Eine starke Demokratie aber würde solche Querschüsse vertragen und souverän abwehren. Dass dies nicht gelingt und stattdessen staatlich finanzierte Gegendesinformationsprojekte Jagd auf Narrativ-Kollaborateure das Putinismus machen, zeigt den Zustand der Gesellschaft.

Die Polarisierung und ihre Folgen

Das Fehlen einer pluralistischen Debatte schafft einer Fake-Realität, schürt Misstrauen in die politische Führung und begünstigt eine noch stärkere Polarisierung. Die Folge: Die Ukraine-Politik, die aufgrund ihrer Auswirkung auch in Deutschland einer breiten demokratischen Legitimation bedarf, gehen die Haltungen zwischen Regierenden und Regierten immer weiter auseinander.

Kontrolle der öffentlichen Meinung

Deutschland sei bereit, für die Unterstützung der Ukraine "einen hohen wirtschaftlichen Preis zu zahlen", sagte Außenministerin Annalena Baerbock auf einer Pressekonferenz mit ihrem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba vor zwei Jahren. Bis heute ist nicht klar, redete sie dort als Privatperson, als Grünen-Politikerinnen oder als Vertreterin der Bundesregierung? Die Unionsparteien forderten noch im vergangenen im November, die "Ukraine weiterhin zu unterstützen und ihr zu einem Sieg gegen Russland zu verhelfen". Leicht gesagt, vom Konrad-Adenauer-Haus aus.

Dem entgegen gaben 51 Prozent der Befragten in einer ARD-Umfrage Anfang Januar an, ihnen gingen die diplomatischen Bemühungen zur Beendigung des Konfliktes nicht weit genug. Und nur noch zehn Prozent der Europäer aus zwölf Mitgliedsstaaten glauben, dass die Ukraine Russland besiegen kann. Im Dezember bejahten noch 61 Prozent der Befragten in den 27 EU-Mitgliedsstaaten die Aussage: "Die Ukrainer werden diesen Krieg gewinnen".

Die Demokratie in der Krise

Es tobt ein Kampf um die öffentliche Meinung. Der Ukraine-Krieg ist nur der jüngste Schauplatz dieses Kampfs. Offensichtlich wirken die gleichen Schemata, die auch während der Corona-Pandemie zu beobachten waren: Sichtweisen wurden vorgegeben, Widerspruch diffamiert. Die Gesellschaft verlernt es, staatlich forciert, Debatten zu führen und um Meinungen zu ringen.

Dass sich die Rechte und die Linke dabei nichts nachstehen, zeigt die Auseinandersetzung um die Folgen des Klimawandels, die ähnlich missionarisch geführt wird. Wo man auch hinschaut: Unfähigkeit zur zum freien Meinungsaustausch und zur – auch kritischen – Auseinandersetzung mit anderen begründeten Positionen.

Rückkehr zur Meinungsfreiheit

Nicht nur im Fall der Ukraine-Debatte ist es daher die grundsätzliche demokratische Pflicht, der Einengung von Debattenräumen entgegenzutreten. Wer sich dem verweigert, läuft Gefahr, von subjektiven Überzeugungen wahnhaft bestimmt zu werden.

Der Weg zum Neuanfang

Skurrilerweise wurde dieser Mechanismus in Fachkreisen bei geschlossenen Kleingruppen wie radikalen Impfgegnern ausgemacht. Sie kommunizieren nur in Echokammern und Filterblasen, oft mit Gleichgesinnten, oft von emotional aufgeladenen Gedanken getrieben.

Nun ist die Bundesregierung keine radikale Kleingruppe. Ganz im Gegenteil: Sie hat alle Möglichkeiten, ihre Haltung mit Millionenmitteln zu propagieren; etwas, wovon mancher "Querdenker" nur träumen konnte. Dass sich die überwertigen Ideen aus dem Bundeskabinett von der Haltung und den Bedenken des Souveräns immer weiter entfernen, zeigt nicht nur die erwähnte Umfrage zu den Chancen der Ukraine, sondern auch jede beliebige Wahlumfrage.

Wahnhaftes Verhalten entstehen immer dann, wenn die eigene Haltung nicht mehr hinreichend korrigiert wird oder werden kann. Krankhaft wird das Verhalten, wenn der Betreffende oder sein Umfeld darunter leiden.

Nach zwei Jahren Krieg, Sanktionen, Boykotten, Ausweisungen, Einreiseverboten, Protesten und Schmähungen ist ein Neustart nötig, um weiteres Leid und größeren Schaden abzuwenden. Erfahrenen Diplomaten und seriösen Sicherheitspolitikern ist das klar. Sie müssen endlich die Kontrolle zurückerlangen.

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