Ukraine-Krieg: Die neue Ära der Kriegsführung fordert Panzertechnik heraus

Zur technologischen Evolution der Panzerabwehr im Drohnenzeitalter: Von der Reaktivpanzerung bis zur elektronischen Kriegsführung. Eine Einschätzung.

First-Person-View-Drohnen, abgekürzt FPV-Drohnen, verändern immer mehr die Art und Weise der Kriegsführung und stellen sowohl für einzelne Soldaten als auch für gepanzerte Fahrzeuge eine zunehmend größere Gefahr dar. Das liegt auch an den gewaltigen Produktionszahlen.

Die FPV-Drohnen-Welle

Es wird angenommen, dass die kleinen Drohnen mittlerweile von beiden Kriegsparteien zu Tausenden produziert werden – und das wahrscheinlich täglich. So schätzt ein im Januar erschienener Artikel des Militärblogs Bulgarianmilitary die russischen Produktionskapazitäten auf rund 10.000 FPV-Drohnen pro Tag. Die Ukraine schafft nach eigenen Angaben etwa ein Drittel davon, also etwa 3.333 pro Tag.

Die Angaben können nicht überprüft werden. Allerdings kann man täglich verfolgen, wie beide Kriegsparteien Dutzende Videos von Einsätzen der neuen Waffe auf den einschlägigen Telegram-Kanälen veröffentlichen.

Mittlerweile sind unterschiedliche Gefechtsköpfe im Einsatz, mit denen die FPV-Drohnen ausgestattet werden können, etwa mit Schrapnell-Munition oder Aerosol-Gefechtsköpfe, die beide hauptsächlich gegen Infanterie eingesetzt werden, oder Hohlladungsgeschosse, die gegen gepanzerte Fahrzeuge wirken.

Einen guten Überblick über die FPV-Waffe mit grundlegenden Informationen bietet ein Artikel von Reuters.

Panzer vs. Drohnen

Gerade gegen die Panzerwaffe sind FPV-Drohnen sehr wirksam. Oft kosten die kleinen Drohnen nur um die 500 Dollar und können trotzdem einen mehrere Millionen teuren Panzer mit einem Schlag zerstören.

Zu Beginn des Krieges in der Ukraine waren es vorwiegend ATGM (Anti-Tank guided missiles), also Panzerabwehrlenkwaffen, und Artilleriemunition, die hochwirksam gegen russische Panzer waren.

Aber jetzt sind es vordergründig die kleinen FPV-Drohnen, die Panzervorstöße zu einem schwierigen Unterfangen machen. Sie sind billiger und effektiver als Artillerie oder die ATGM. Und mittlerweile massenhaft verfügbar.

Ganze Schwärme von FPV-Drohnen können mittlerweile einen einzelnen Panzer bekämpfen.

In einem Video sieht man, wie fünf FPV-Drohnen versuchen, einen T-80 Panzer zu zerstören. Augenscheinlich gibt es zwei Treffer, während drei Drohnen den Panzer verfehlen. Auf dem Video kann man also nicht nur einen Drohnenschwarm sehen, der einen Panzer angreift, sondern auch einen Panzer, der diesen Angriff überlebt und weiterfährt.

Die Reaktivpanzerung: Alte Technik, neuer Zweck

Möglich macht das eine relativ alte Erfindung, kombiniert mit einer neuen Käfig-Konstruktion, die Russland gleich zu Beginn des Ukraine-Feldzugs einsetzte. Die Reaktivpanzerung hat sich in vielen Fällen als wirksam gegen die FPV-Drohnen erwiesen, eine Erfindung, die erstmals 1982 von Israel eingesetzt wurde. Bereits ein Jahr darauf konnte Russland ebenfalls eine Reaktivpanzerung in Dienst stellen.

Dabei handelt es sich um Kacheln, die auftreffenden Projektilen eine Metallplatte entgegenschleudern. Damit kann der Wirkstrahl des auftreffenden Projektils oft neutralisiert werden. Eigentlich entwickelt gegen Panzerfäuste oder Granaten, hat sich die Technik als wirksam gegen auftreffende Drohnen erwiesen.

Neu ist, dass die Türme der Panzer mittlerweile standardmäßig mit großen Metallkäfigen (englisch "Cope Cage") überbaut sind, die ebenfalls mit den Reaktivpanzer-Kacheln versehen sind und einen solchen Schutz gegen von oben angreifende Drohnen bieten. Denn typischerweise ist das Turmdach des Panzers eine seiner verletzlichsten Stellen.

Führend im Bau von Reaktivpanzerung sind neben Russland die israelischen Streitkräfte. Nato-Staaten standen der Einführung der Sprengkacheln lange Zeit skeptisch gegenüber und vertrauten stattdessen auf Verbundpanzerung.

Sowjetische Sprengkacheln auf Leopard-2-Panzer

So konnte man im Ukraine-Krieg beobachten, wie ukrainische Truppen alte sowjetische Kontakt-1-Sprengkacheln nachträglich auf deutsche Leopard-2-Panzer montierten, um für die neuen Herausforderungen des modernen Gefechtsfeldes gewappnet zu sein.

Bei einem russischen Panzervorstoß in der letzten Wochen bei Tonenke, westlich von Awdijiwka, kann man gut die absorbierende Wirkung der Reaktivpanzerung erkennen. Es ist der größte russische Panzervorstoß seit dem Beginn der Offensive auf Awdijiwka Anfang Oktober vergangenen Jahres.

Die russischen Streitkräfte verloren mindestens acht gepanzerte Fahrzeuge, gut zu sehen sind auf einem Video der ukrainischen Streitkräfte die Explosionen an der Hülle der russischen Panzerfahrzeuge, Explosionen der Fahrzeuge selbst hingegen scheinen auszubleiben. Hier scheinen aber vor allem Panzerabwehrlenkwaffen zum Abwehr-Einsatz durch ukrainische Truppen gekommen zu sein.

Auch die USA haben ihre gelieferten Abrams-Panzer mit Arat-1 Sprengkacheln ausgerüstet, die man auf einem Video der russischen Streitkräfte deutlich erkennen kann.

Auf dem Video ist zu sehen, wie der Panzer zweimal von einer russischen FPV-Drohne getroffen wird, den ersten Treffer aber äußerlich nahezu unbeschadet zu überstehen scheint. Wahrscheinlich konnte die Besatzung durch die Turmluke entkommen.

Elektronische Kriegsführung: Das unsichtbare Schild

Neben der Reaktivpanzerung und den Metallkäfigen zur passiven Abwehr der neuen FPV-Waffe rüstet vor allem Russland seine Kampffahrzeuge zunehmend mit Mitteln der elektronischen Kampfführung aus.

Diese Mittel bestehen aus einer Sensorik, um anfliegende FPV-Drohnen zu erkennen und Sendern, die ein Störsignal aussenden, um die Fernsteuerungsimpulse und die Live-Videoübertragung zum Drohnenoperator zu stören.

Bis auf einige experimentelle Exemplare sind alle FPV-Drohnen ferngesteuert, eine Technologie, die sich zeitnah in Richtung autonomer und algorithmisch gesteuerter Drohnen entwickeln könnte. Diese autonomen Drohnen wären nicht mehr mit den Mitteln elektronischer Kampfführung zu bekämpfen.

Innovationen und Experimente

Noch scheint es keine standardisierte Lösung in den russischen Panzertruppen zu geben, es wird mit den verschiedensten Lösungen experimentiert.

Mit einer Sendeleistung von 1,1 Kilowatt sendet etwa das Sanya-System des russischen Herstellers 3mx, und das Volnorez-System scheint seit September vergangenen Jahres ausgiebig getestet worden zu sein.

Teilweise ist das Set-up extrem experimentell und improvisiert, wie hier etwa die auf einem Cope Cage angebrachte Paletten-Konstruktion. Neueste Entwicklungen sind allerdings kompakter ausgeführt wie dieses pyramidenförmige Modell.

Frequenzkrieg: Störsender gegen FPV-Drohnen

Die Sender versuchen, die Übertragungsfrequenz der FPV-Operatoren zu treffen und zu stören – das Ganze hat den Charakter eines Katz und Mausspiels mit ständigen Frequenzwechseln auf Seite der FPV-Drohnenhersteller.

Eine sichere und verlässliche Methode zur Bekämpfung der FPV-Drohnen stellen Mittel der elektronischen Kampfführung (Eloka) zwar nicht dar, doch lagen die Bekämpfungsraten der russischen Eloka gegen ukrainische Drohnen noch Ende 2022 bei um die 90 Prozent.

Noch immer sind Mittel der elektronischen Kriegsführung für große Verluste unter den FPV-Waffen verantwortlich, genaue Prozentangaben lassen sich aber zurzeit nicht finden.

APS: Die nächste Verteidigungslinie

Moderne Panzer sind mittlerweile häufig mit einer "Abstandsaktiven Schutzmaßnahme", oder englisch APS für Active Protection System, ausgestattet. Anders als bei den Reaktivpanzer-Kacheln findet hier keine passive Bekämpfung des eintreffenden Geschosses statt, sondern eine aktive Bekämpfung.

Eine Sensorik, die in der Regel aus einem Radarsystem sowie elektrooptischen Kameras und Infrarotkameras besteht, kann ein einfliegendes Geschoss erkennen. Ebenfalls sind Explosionskassetten rund um den Panzer verteilt angebracht, die der Bedrohung eine Wirkladung entgegenschleudern – und das bereits vor dem Auftreffen des Geschosses auf die Fahrzeugpanzerung.

Diese Ladung kann laut Wikipedia entweder aus Schrapnellen, einer speziellen Form der Hohlladung, der sogenannten projektilbildenden Ladung oder aus einer Druckwelle bestehen.

Theoretisch könnte diese Abstandsaktive Schutzmaßnahme (APS) auch gegen kleine FPV-Drohnen eingesetzt werden. Die FPV-Drohnen fliegen allerdings weitaus langsamer auf den Panzer zu, sie sind ungefähr 100 km/h schnell, wobei einige Drohnen auch etwas schneller fliegen können.

Es finden sich jedoch zahlreiche Videos von FPV-Angriffen, in denen die Drohnen den Endanflug auf den Panzer mit deutlich geringerer Geschwindigkeit durchführen.

Zudem verfolgen konventionelle Geschosse weitestgehend eine vorhersehbare Flugbahn, während FPV-Drohnen abrupte Richtungswechsel zulassen. Auch der Angriffswinkel auf den Panzer kann von herkömmlichen Geschossen abweichen.

All diese Faktoren tragen dazu bei, dass es zurzeit wohl nicht möglich ist, FPV-Drohnen durch heutige APS-Systeme zu bekämpfen – die Algorithmen sind schlicht nicht auf die neue Bedrohung ausgerichtet. Für vergleichsweise langsam fliegende Projektile sind die Sensorik und hier vor allem die Zielerfassung-Software, nicht ausgelegt.

Die APS sind Hightech-Produkte, die Neu-Programmierung und Tests dürften Jahre dauern. Allerdings behauptet die israelische Firma Elbit Systems, dass ihr APS-System Iron Fist bereits jetzt FPV-Drohnen abfangen kann.

Eine detaillierte Analyse der Möglichkeiten von APS gegen die neue FPV-Bedrohung findet sich auf The War Zone.