Ukraine-Krieg: Einsatz von Atomwaffen wieder möglich

Seite 3: Ukraine-Krieg: Auch der Einsatz von Atombomben wieder möglich

Nach der Beendigung des ersten Kalten Kriegs 1991 habe ich die Gefahren, die sich aus der geschilderten atomaren Aufrüstung in Verbindung mit den gekündigten Abrüstungsverträgen in den letzten Jahrzehnten ergeben haben, wie die meisten meiner Zeitgenossen, nicht zur Kenntnis genommen bzw. verdrängt.

Ich habe mir einfach nicht vorstellen können, dass uns in Europa in meiner Lebenszeit noch einmal eine derartige Gefahrensituation wie in der Kuba-Krise 1962 drohen könnte. Seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs ist die Atomkriegsgefahr jedoch wieder real geworden und nach Einschätzungen von Experten derzeit höher als irgendwann seit 1962.

Zunächst möchte ich dazu wieder John Mearsheimer zu Wort kommen lassen. Er weist in seinen letzten Vorträgen6 auf die großen Gefahren hin, die mit diesem jetzt seit mehr als sieben Monaten andauernden Krieg in der Ukraine verbunden sind. Dieser Krieg ist für ihn ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland einerseits und den USA und dem gesamten Westen andererseits, mit den Ukrainern auf dem Schlachtfeld.

Und er warnt eindringlich vor der Möglichkeit, dass sich daraus wieder ein großer Krieg in Europa entwickeln könnte, bei dem auch die Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen besteht.

Im August 2022 ist in der Zeitschrift Foreign Affairs, der bedeutendsten US-amerikanischen Zeitschrift für Außen- und Geopolitik, ein ausführlicher Artikel von ihm erschienen, in dem er noch einmal seine Befürchtungen und Warnungen vor einer Eskalation des Krieges in der Ukraine zum Ausdruck bringt.7

John Mearsheimer: Wege in die Eskalation

In diesem Artikel spricht der Wissenschaftler zunächst über mehrere grundlegende Wege zur Eskalation, die der Kriegsführung innewohnen: Eine oder beide Seiten eskalieren absichtlich, um den Krieg zu gewinnen oder um eine Niederlage zu verhindern, oder die Kämpfe eskalieren nicht durch bewusste Entscheidungen, sondern unbeabsichtigt und zufällig.

Jeder dieser Wege birgt das Potenzial, dass die USA mit Truppen direkt in den Kampf eingreifen oder Russland zum Einsatz von Atomwaffen veranlasst wird, oder möglicherweise beides.

Seit 2015 bilden die USA und ihre Verbündeten auch das ukrainische Militär aus und versorgen es mit wichtigen Geheimdienstinformationen, die es zur Zerstörung wichtiger russischer Ziele benötigt. Auch hat der Westen, wie die New York Times berichtete, "ein heimliches Netzwerk von Kommandos und Spionen" vor Ort in der Ukraine.

Mearsheimer sagt, Washington mag noch nicht direkt in die Kämpfe verwickelt sein, aber es ist tief in diesem Krieg verwickelt. Und die USA seien jetzt nur noch einen kurzen Schritt davon entfernt, direkt einzugreifen.

Für den direkten Eintritt der USA in den Ukraine-Krieg werden laut Mearsheimer eine Reihe von unterschiedlichen Szenarien diskutiert, die in seinem Artikel ausführlich dargestellt sind.

Ein mögliches Szenario für eine US-Intervention würde eintreten, wenn die ukrainische Armee zu kollabieren beginnt und es so aussieht, als ob Russland wahrscheinlich einen bedeutenden Sieg erringen könnte.

In diesem Fall könnten die Vereinigten Staaten, angesichts der bisherigen großen finanziellen und propagandistischen Anstrengungen der Biden-Regierung, eine solche Entwicklung zu verhindern, versuchen, das Blatt zu wenden, indem sie direkt in die Kämpfe eingreifen.

Oder es könnte eine versehentliche Kollision von US-amerikanischen und russischen Kampfjets auftreten, die über der Ostsee in zu engem Kontakt gekommen sind. Ein solcher Unfall könnte angesichts der angespannten Situation auf beiden Seiten, des Mangels an Kommunikation und der gegenseitigen Dämonisierung leicht eskalieren.

Für Russland führt er mehrere Szenarien an, unter denen die russische Führung Atomwaffen einsetzten könnte.

Eines wäre, wenn die USA und ihre Nato-Verbündeten direkt in den Kampf eintreten. Denn diese Entwicklung würde nicht nur das militärische Gleichgewicht im konventionellen Bereich zuungunsten Russlands deutlich verschieben und die Wahrscheinlichkeit seiner Niederlage erheblich erhöhen, sondern auch bedeuten, dass Russland einen Krieg mit einer Großmacht vor seiner Haustür führen müsste, der leicht auf sein Territorium übergreifen könnte.

Die russische Führung würde sicherlich denken, dass es um ihr Überleben und das der Russischen Föderation geht, was für sie ein starkes Argument wäre, Atomwaffen einzusetzen, um die Situation zu retten.

In einem zweiten Atomkriegsszenario gelingt es der Ukraine, das Blatt auf dem Schlachtfeld ohne direkte Beteiligung der USA zu ihren Gunsten zu wenden. Wenn die ukrainischen Streitkräfte dabei wären, die russische Armee zu besiegen und das verlorene Territorium ihres Landes, etwa die Krim, zurückzuerobern, gibt es wenig Zweifel, dass Moskau dieses Ergebnis als eine existenzielle Bedrohung betrachten könnte, die eine nukleare Reaktion erfordert.

Wohin führt der Krieg in der Ukraine?

Obwohl eines dieser oder weiterer katastrophaler Szenarien Wirklichkeit werden könnte, kann man bei einer Abwägung zu dem Ergebnis kommen, dass die Chancen dafür nur gering seien und dass daher die Situation nicht so besorgniserregend sei.

Schließlich bestehen für die Politiker auf beiden Seiten starke Anreize, die USA aus den Kämpfen herauszuhalten und selbst einen begrenzten nuklearen Einsatz zu vermeiden, ganz zu schweigen von einem tatsächlichen umfassenden Atomkrieg.

Mearsheimer sagt, er würde es sich natürlich sehr wünschen, dass wir so optimistisch sein könnten. Tatsächlich unterschätzt diese Sichtweise die Gefahren einer Eskalation in der Ukraine jedoch erheblich, denn von ihrem Beginn an neigen Kriege dazu, eine eigene Logik zu entwickeln, was es schwierig macht, ihren Verlauf vorherzusagen. Wer sagt, er wisse mit Sicherheit, welche Entwicklung der Krieg in der Ukraine im weiteren Verlauf nehmen wird, der irrt.

Abschließend stellt Mearsheimer fest:

Diese gefährliche Situation schafft zwar einerseits einen starken Anreiz, eine diplomatische Lösung für den Krieg zu finden. Bedauerlicherweise ist jedoch derzeit keine politische Lösung in Sicht, da sich beide Seiten fest zu Kriegszielen bekennen, die einen Kompromiss fast unmöglich machen.

Mearsheimer meint, die Biden-Regierung hätte mit Russland zusammenarbeiten sollen, bevor im Februar der Krieg ausbrach, um die Ukraine-Krise beizulegen. Das hat sie aber abgelehnt und jetzt ist es zu spät, um einen solchen Deal abzuschließen.

Russland, die Ukraine und der Westen stecken nach seiner Einschätzung in einer schrecklichen Situation fest, aus der es offensichtlich derzeit keinen Ausweg zu geben scheint.

"Man kann nur hoffen, dass die maßgeblichen Politiker auf beiden Seiten den Krieg so führen, dass eine katastrophale Eskalation vermieden wird. Für die vielen Millionen Menschen, deren Leben auf dem Spiel steht, ist das jedoch ein schwacher Trost", sagt Mearsheimer abschließend.

Ted Postol: Die eindringliche Warnung eines führenden Atomwaffenexperten

Ein weiterer Experte, dem ich ein vernünftiges Urteil über die derzeitigen Atomkriegsgefahren zutraue, ist Ted (Theodore) Postol. Er ist ein weltweit anerkannter US-Atomwaffenspezialist, der viele Jahre in hohen Funktionen im Pentagon gearbeitet hat, bevor er als Professor an der Stanford Universität und dann am MIT (Massachusetts Institute of Technology) bis zu seiner Emeritierung tätig war. Er unterstützt seit Jahren die Friedensbewegung in den USA.8

Bei meinen Recherchen bin ich auf ein bemerkenswertes Interview gestoßen, das der bekannte US-amerikanische Journalist Robert Scheer, Autor des Buches "With Enough Shovels: Reagan, Bush und der Atomkrieg", mit Postel geführt hat, und das im März 2022 veröffentlicht worden ist.9 Darin diskutieren die beiden Fachleute, was zu erwarten ist, wenn im Ukraine-Krieg tatsächlich Atomwaffen zum Einsatz kommen.

Im Verlaufe des Gesprächs fragt Robert Scheer seinen Gast:

Ich frage Sie also nochmals, worüber reden wir hier eigentlich? Wir reden doch nicht über einen weiteren Irak oder ein weiteres Vietnam. Wir reden über Hiroshima und Nagasaki und was ihr Schicksal für Städte in den USA bedeutet.

Daraufhin antwortet Postol:

Wir reden von einer Feuerwand, die alles um uns herum mit der Temperatur des Sonnenmittelpunkts einschließt. Die Explosion von Nuklearwaffen würde uns buchstäblich in weniger als Asche verwandeln. Ich kann nicht genug betonen, wie mächtig diese Waffen sind. Wenn sie detonieren, sind sie vier- oder fünfmal heißer als das Zentrum der Sonne, das 20 Millionen Grad Kelvin hat. Im Zentrum einer Detonation dieser Waffen herrschen 100 Millionen Grad Kelvin.

Menschen können sich das Ausmaß dieser Hitze nicht vorstellen. Die Auswirkungen sind so schwerwiegend, dass sie die menschliche Vorstellungskraft sprengen.

Zur Bedrohung, die vom Einsatz einer Atombombe ausgeht, sagt Postol:

Wenn eine Atomwaffe auf dem Gefechtsfeld gezündet wird, weiß zunächst niemand, was das bedeutet. War es eine einzelne Waffe? Werden ihr in wenigen Minuten oder Stunden weitere Atomexplosionen folgen? Wird der Gegner, den Sie gerade angegriffen haben, sofort oder erst in einigen Tagen mit einer oder mehreren Waffen nachziehen? Wird er versuchen, ihre Atomwaffenstandorte anzugreifen?

Es herrscht ein totales Chaos, und ehe man sich versieht, explodieren nicht nur ein paar Dutzend oder Hunderte, sondern Tausende von Atomwaffen. Das ist einfach unvermeidlich. Es ist wie bei der Finanzkatastrophe von 2008/2009, ist aber in den tatsächlichen Auswirkungen unvorstellbar desaströser. Bei den bestehenden Instabilitäten wird die Katastrophe nicht aufzuhalten sein. Deshalb sollten alle wirklich davor zurückschrecken, Atomwaffen auch nur auf niedrigstem Niveau einsetzen zu wollen.

Zum Schluss sagt Robert Scheer:

Wenn jetzt, in einer angespannten weltweiten Situation, eine einzige Atomwaffe explodiert, gibt es kein Zurück mehr. Das wäre das Ende der Menschheit. Wissen die Politiker nicht, dass sie mit ihrem leichtfertigen Gerede über den Einsatz von Atomwaffen das Ende der Menschheit riskieren?

Ergänzung von mir, KDK: Diese Frage bezieht sich auf die unter Politikern in den USA laufende Diskussion über den Einsatz von "kleinen" Nuklearwaffen in einem "zu gewinnenden Atomkrieg", auf den Scheer in dem Gespräch hinweist.

Postol entgegnet:

Dabei ist es doch ganz einfach. Wer den Einsatz kleiner Atomwaffen propagiert, will uns einreden, ein kleiner Funke in einem mit Benzindämpfen gefüllten Raum wäre kein Problem. Das ist keine schlechte Analogie. Es ist zwar eher ein physikalisches als ein soziales Phänomen, aber im Grunde ist es die gleiche Situation. Man kann keinen kleinen Funken in einem Raum auslösen, der mit Benzindämpfen gefüllt ist. Das würde kein gutes Ende nehmen.

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