Ukraine-Krieg: Einsatz von Atomwaffen wieder möglich

Seite 4: Neue Forschungen: Folgen eines "begrenzten" Atomkriegs

Die IPPNW hat kürzlich einen 27-seitigen Bericht mit vielen eindrucksvollen Abbildungen und instruktiven Tabellen mit dem Titel "Nukleare Hungersnot" veröffentlicht. Es handelt es sich um die deutsche Übersetzung einer Arbeit, die von einem Team der Physicians for Social Responsibility, der US-amerikanischen Sektion der IPPNW, unter Leitung des Arztes, Wissenschaftlers und Journalisten Matt Bivens, erstellt worden ist.

Im Folgenden möchte ich noch einen kurzen Einblick in diese wichtige Arbeit geben.

Auch "begrenzter" Atomkrieg führt zu Temperatursturz und Hungersnot

Seit Langem ist bekannt, dass ein großer umfassender Atomkrieg die moderne Zivilisation zerstören, einen "Nuklearen Winter" auslösen und wahrscheinlich den größten Teil aller Menschen oder die gesamte Menschheit auslöschen könnte.

Aber was ist mit einem "begrenzten" Atomkrieg, der nur in einer Region der Erde wie z. B. in der Ukraine oder in Europa oder Asien stattfindet oder bei dem bloß ein kleiner Teil des weltweiten Arsenals zum Einsatz kommt?

Dieser IPPNW-Bericht fasst die jüngsten wissenschaftlichen Studien zusammen, die zeigen, dass sich ein sogenannter "begrenzter" oder "regionaler" Atomkrieg weder begrenzt noch sich nur regional auswirken würde. Ganz im Gegenteil, er hätte Auswirkungen auf den gesamten Planeten.

Er wäre tatsächlich gefährlicher, als uns bis vor wenigen Jahren bewusst war.

Auch wenn bei einem Krieg nur drei Prozent, das heißt weniger als ein Zwanzigstel der weltweiten Atomwaffen, detonieren würde, kämen das Klima, die globalen Nahrungsmittelketten und wahrscheinlich die öffentliche Ordnung zum Erliegen. Millionen, vielleicht sogar Milliarden von Menschen, kämen durch Hungersnöte und Unruhen ums Leben.

Denn in einem Atomkrieg käme es durch auf Städte und Industriegebiete abgeworfene Bomben zu Feuerstürmen, und das würde riesige Mengen an Ruß in die Atmosphäre befördern, die sich dann rasch verbreiten und den Planeten abkühlen würden, heißt es in dem IPPNW-Bericht.

Anhand von fünf verschiedenen Szenarien eines "begrenzten" Atomkrieges zwischen Indien und Pakistan, bei denen 100 bis 500 Atomwaffen mit 15 bis 100 Kilotonnen Sprengkraft zum Einsatz kommen, wird in der zugrunde liegenden wissenschaftlichen Studie untersucht, wie viel sonnenverdunkelnder Ruß jeweils entstehen würde.

Weiterhin wurde berechnet, wie stark die globalen Temperaturen im Ergebnis fallen würden, was mit dem Nahrungsmittelanbau passieren würde und letztendlich, wie viele Menschen in der Folgezeit wahrscheinlich verhungern würden.

Die Ergebnisse sind: So grauenvoll es in der Kriegszone mit den vielen Millionen unmittelbaren Todesfällen selbst auch sein würde – die Zahl dieser regionalen Todesopfer würde in den darauffolgenden Monaten und Jahren gering erscheinen im Vergleich mit der riesigen Zahl an Hungertoten weltweit.

Selbst ein kleiner Konflikt, in dem sich zwei Länder gegenseitig mit Atomwaffen bekämpfen, könnte zu einer weltweiten Hungersnot führen, wie diese neuen Forschungsergebnisse nahelegen.

"Hunger könnte ein Drittel der Erdbevölkerung töten", schreiben die Autorinnen und Autoren der genannten Studie, "und das schon als Folge eines Krieges zwischen Indien und Pakistan, bei dem weniger als drei Prozent des globalen atomaren Arsenals zum Einsatz kämen".

Wer sich näher mit dieser Problematik beschäftigen möchte, dem empfehle ich die aufschlussreiche Lektüre der oben genannten IPPNW-Studie.

Zehn Schlussfolgerungen:

1. Der Einsatz von Atomwaffen im Ukraine-Krieg wäre die ultimative Katastrophe. Diese muss unbedingt verhindert und darf von uns niemals zugelassen werden.

2. Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto eher besteht die Gefahr, dass sich daraus ein dritter Weltkrieg entwickelt, in dem auch Atomwaffen zum Einsatz kommen könnten.

3. Damals, in den 1980er-Jahren, sind viele Ärztinnen und Ärzte, die für die Verhütung eines Atomkrieges eintraten, zusammen mit Tausenden von Demonstranten, auf die Straße gegangen, mit Schildern wie "Wir werden Euch nicht helfen können."10 Warum gibt es heute keine vergleichbaren Aktivitäten?

4. Falls es in der Ukraine tatsächlich zum Einsatz von Atomwaffen kommen sollte, wird der daraus resultierende Atomkrieg wahrscheinlich in einem doppelten Sinne nicht "begrenzt" bleiben.

So zeigt der neue IPPNW-Bericht "Nukleare Hungersnot", dass auch der Einsatz von nur einem kleinen Teil des vorhandenen Atomwaffenpotentials sich nicht "begrenzt" oder "regional" auswirken würde.

Und die Warnungen, z. B. des Atomwaffenexperten Postol, zeigen, dass sich aus dem Einsatz einer einzigen Atombombe im Kriegsgeschehen eine Dynamik entwickeln könnte, die nicht mehr zu kontrollieren ist und zu einem umfassenden finalen Atomkrieg führen kann.

5. Deshalb muss der Ukraine-Krieg so schnell wie möglich auf diplomatischem Wege mit Kompromissen vonseiten der Beteiligten beendet werden, bevor die Welt in ein Chaos gestürzt wird. Dazu gibt es verschiedene Vorschläge, z.B. Vorschläge aus der Friedensbewegung, die kürzlich vorgelegt wurden, oder auch detaillierte Vorschläge von einer Arbeitsgruppe um den deutschen UN-Diplomaten Michael von der Schulenburg und dem US-amerikanischen Ökonomen Jeffrey D. Sachs, die am 6. bis 7. Juni 2021 im Vatikan getagt hat.

Auch der Unternehmer und Milliardär Elon Musk hat kürzlich einen vernünftigen Vorschlag vorgelegt.

6. Das Problem ist jedoch, und das haben die Friedensverhandlungen im März/April in Istanbul leider gezeigt, dass die USA (und auch Großbritannien) derzeit gegen eine Verhandlungslösung sind, insbesondere gegen eine Neutralität der Ukraine.

Für den ehemaligen UN-Diplomaten Michael von der Schulenburg ist die Festschreibung der Neutralität der Ukraine aber die Schlüsselfrage für eine Friedenslösung, wie er in seinem jüngsten Artikel mit dem Titel "In der Ukraine muss es darum gehen, den Frieden und nicht den Krieg zu gewinnen" in den Nachdenkseiten schreibt.11

7. Waffenlieferungen aus Deutschland (und anderen Ländern) können den Krieg in der Ukraine dagegen nur verlängern und dazu beitragen, dass das Sterben von Ukrainern und Russen und die Zerstörungen weitergehen und die von dort ausgehende nukleare Bedrohung auch des Lebens von uns allen weiter anhält.

8. Nach einer jüngsten Umfrage befürworten 77 Prozent der Bundesbürger, dass der Westen, und damit vor allem auch unsere Bundesregierung, Verhandlungen über eine Beendigung des Krieges in der Ukraine anstoßen sollte.12

9. In den letzten Wochen hat sich der Ukraine-Konflikt noch weiter zugespitzt. In einem Artikel vom 5. Oktober im Wirtschaftsmagazin Makroskop warnt der schon genannte US-Starökonom Jeffrey D. Sachs13:

Wir stehen erneut am Rande einer nuklearen Katastrophe. Der Krieg in der Ukraine droht zum nuklearen Showdown zu werden. Sowohl die USA als auch Russland müssen dringend Zurückhaltung üben, bevor es zur Katastrophe kommt.

Weiter sagt er, Russland werde nötigenfalls die Situation eskalieren lassen, möglicherweise bis hin zu Atomwaffen, um eine militärische Niederlage und die fortgesetzte Osterweiterung der Nato zu verhindern. Die nukleare Drohkulisse sei ernst zu nehmen, denn sie zeige, wie sehr die russische Führung ihre Sicherheitsinteressen gefährdet sieht.

Er stellt auch fest, erschreckenderweise seien auch die USA in der Kuba-Krise zum Einsatz von Atomwaffen bereit gewesen, und ein hoher ukrainischer Beamter habe die USA kürzlich aufgefordert, einen Atomschlag zu führen, "sobald Russland auch nur daran denkt, einen präventiven Atomschlag zu wagen". Das sei sicherlich ein Rezept für den dritten Weltkrieg, urteilt Sachs.

In einem Video-Interview einige Tage vorher äußerte er sich ebenso dramatisch

10. Von Caitlin Johnstone, einer bekannten unabhängigen australischen Journalistin, stammt die folgende nachdenkenswerte Einschätzung der Situation, in der sich die Welt jetzt befindet, auf die ich zum Schluss noch hinweisen möchte 14:

Für jüngere Menschen ist es schwer zu verstehen, dass das gleiche nukleare Armageddon-Szenario, über das sich ihre Eltern und Großeltern früher Sorgen gemacht haben, immer noch existiert.

Wenn jedoch eine kritische Masse der Bevölkerung wirklich verstehen würde, dass ihr Leben aus keinem anderen Grund als der Bereitschaft des US-Imperiums, alles zu riskieren, um ihre Hegemonie, d. h. ihre weltweite Vorherrschaft auf dem Planeten, zu sichern, durch einen Atomkrieg bedroht ist, würde es für die Machthaber sofort schwieriger werden, mit ihr so umzugehen, wie sie es wollen.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de

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