Ukraine-Krieg: In den nächsten Stunden könnten Angriffe mit US-Waffen auf Russland beginnen
Brisante Entscheidung war in Washington mehrfach diskutiert worden. Russland hatte Atommanöver durchgeführt. Wie wird sich die Lage nun entwickeln?
Das ist eine bedeutende Kursänderung: US-Präsident Joe Biden hat der Ukraine offenbar grünes Licht gegeben, begrenzte Schläge gegen russisches Gebiet mit US-amerikanischen Waffen durchzuführen. Dies könnte ein neues Kapitel im Ukraine-Konflikt einläuten, heißt es in der US-Presse. Auch historisch ist es eine Zäsur: Es ist das erste Mal, dass ein US-Präsident begrenzte militärische Erwiderungen auf Artilleriestellungen, Raketenbasen und Kommandozentren einer nuklear bewaffneten Gegenseite genehmigt hat.
Vertreter des Weißen Hauses betonten jedoch, dass die Genehmigung nur das umfasse, was sie als Selbstverteidigungsakte bezeichnen, damit die Ukraine Charkiw, die zweitgrößte Stadt des Landes, und die umliegenden Gebiete vor Angriffen aus der Nähe der Grenze schützen könne.
Entscheidung Bidens gilt ab sofort
Die Entscheidung Bidens, über die am Donnerstagabend (Ortszeit) zuerst das US-Magazin Politico berichtet hat, sei umgehend in Kraft getreten.
Das Weiße Haus ist bemüht, die Entscheidung herunterzuspielen. Es gehe, heißt es von dort, nur darum, der Ukraine Präventivschläge zu erlauben, wenn Beweise für Vorbereitungen eines Angriffs vorliegen. Denkbar seien auch Gegenangriffe auf russische Attacken in der laufenden Schlacht um Charkiw.
Tiefgreifende Auswirkungen
Doch die Implikationen sind tiefgreifender, als man in den USA einzugestehen bereit ist. Bislang hatte Biden es abgelehnt, die Verwendung amerikanischer Waffen außerhalb der ukrainischen Grenzen zu erlauben, um eine Eskalation zu vermeiden.
Vertreter der US-Regierung räumten gegenüber der New York Times anonym ein, dass, sollte Russland weitere Angriffe von seinem Territorium aus über Charkiw hinaus starten, die Restriktionen des Präsidenten weiter gelockert werden könnten. "Dies ist eine neue Realität", zitiert das Blatt einen hochrangigen Mitarbeiter, der nicht namentlich genannt werden wollte, "und vielleicht eine neue Ära" im Ukraine-Konflikt.
Nun warten alle auf die Reaktion Russlands auf diese Novelle in der Militärpolitik. Russland hatte mehrfach gewarnt, dass es auf eine solche Entscheidung entsprechend reagieren werde. In der vergangenen Woche hatte Russland Übungen seiner taktischen Nuklearstreitkräfte durchgeführt – ein klares Signal an Washington.
Blinken als treibende Kraft
Im Weißen Haus wurden Bidens Überlegungen nur einer sehr engen Gruppe von Beratern bekannt. Die New York Times enthüllte Außenminister Antony Blinkens Rolle. Er habe dem Präsidenten nach einer Reise nach Kiew persönlich zu dem Schritt gedrängt.
Das 27 Monate währende Verbot, US-Waffen direkt gegen Russland einzusetzen, brächte Teile der Ukraine in Gefahr. Die Russen würden das Verbot ausnutzen, um konstante Angriffe von einem sicheren Ort innerhalb der russischen Grenze aus zu starten.
Andere Nato-Staaten hatten ähnliche entscheiden
Einige US-Verbündete, darunter Großbritannien, Frankreich und Deutschland sowie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatten bereits früher die Erlaubnis erteilt bzw. darauf gedrängt, Langstreckenraketensysteme für Angriffe in Russland zu verwenden.
Führende Beamte in den USA betonten, dass nur Großbritannien seine Entscheidung getroffen hatte. Die führenden europäischen Nato-Partner seien informiert worden, dass Biden wohl eine ähnliche Entscheidung treffen werde.
Die Entscheidung folgte Wochen intensiver Gespräche hinter den Kulissen mit den Ukrainern, die nach einem großen Angriff Russlands auf Charkiw um den 10. Mai an wohl an Intensität zugenommen haben.
Geheimtreffen in Washington
Nach einem Treffen US-amerikanischer und ukrainischer Sicherheitsexperten am 13. Mai, bei dem die Ukraine erneut für die Aufhebung der US-Beschränkungen plädierte, entschlossen sich Sullivan, Austin und General Brown, dem Präsidenten die Aufhebung seiner Position zu empfehlen.
Sullivan übermittelte die Empfehlung am 15. Mai an Biden, der zum ersten Mal dazu geneigt war, eine Ausnahme zu machen, die es der Ukraine erlauben würde, zurückzuschlagen.
New York Times rekonstruiert Entscheidungsweg
Die New York Times, die mit Beteiligten gesprochen hat, schilderte den weiteren Ablauf wie folgt: Blinken kehrte aus Kiew zurück und sah Biden sowie Sullivan am Abend des 17. Mai im Oval Office. Bei diesem Treffen sei der US-Präsident davon überzeugt wurde, dass die USA ihre Haltung ändern müssten.
Es war klar, dass Biden zustimmte, aber der Präsident bestand darauf, vor seiner formellen Entscheidung ein Treffen seiner nationalen Sicherheitsexperten einzuberaumen, um die Risiken zu eruieren. Dieses Treffen habe in der vergangenen Woche stattgefunden – kurz bevor die Nachricht von Blinkens Meinungsänderung durchsickerte.
Pentagon wird informiert
Die formellen Anweisungen wurden erst Anfang dieser Woche an das Pentagon übermittelt. Blinken, der von der bevorstehenden Änderung wusste, deutete in Moldawien die Möglichkeit an, dass die USA ihre Position "anpassen und justieren" könnten, da sich die Lage vor Ort verändert hätte.
Es ist unklar, ob Biden nun glaubt, dass das Risiko einer Eskalation – einschließlich einer nuklearen Eskalation – gesunken ist, oder ob die Aussicht, dass die Ukraine mehr Territorium verlieren könnte, seine Sichtweise geändert hat.
So wenige Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrates oder des Pentagon wussten von der Änderung, dass eine Pentagon-Sprecherin, Sabrina Singh, noch am Donnerstagmorgen in einem Briefing für Reporter die alte Politik verteidigte.
Sie wiederholte mehrmals, dass es keine Änderung gebe. "Die Sicherheitshilfe, die wir der Ukraine zur Verfügung stellen, soll innerhalb der Ukraine verwendet werden, und wir ermutigen nicht zu Angriffen oder ermöglichen Angriffe innerhalb Russlands", sagte sie.
Tatsächlich war der Kurswechsel aber schon Tage zuvor geändert worden. Niemand hatte ihr mitgeteilt, dass Austin bereits Befehle erteilt hatte, die Ukraine zu erlauben, mit US-Waffen auf militärische Ziele jenseits der russischen Grenze zu feuern. US-Beamte erwarten nun, dass die ersten Gegenangriffe mit US-Waffen innerhalb von Stunden oder Tagen beginnen werden.
Redaktionelle Anmerkung: Wir haben das Bild in diesem Artikel ausgetauscht. In einer früheren Version war eine alte, ausgemusterte US-Interkontinentalrakete zu sehen. Nun ist der Artikel mit einem aktuellen Waffensystem illustriert, dass die USA in die Ukraine geliefert haben.