Von Wählern und Verantwortung: Wie Populismus und Demagogie die Demokratie untergraben

Streetart-Portrait von Geert Wilders. Bild: thierry ehrmann, CC BY 2.0

Halb Europa rückt 2024 nach rechts – und folgt damit Argentinien sowie anderen Staaten. Die USA wanken. Herausforderungen für ein mündiges Wahlvolk. Ein Essay.

Der (un-)aufhaltsame Aufstieg der AfD, vorwiegend in den östlichen Bundesländern, setzt sich fort. Ähnlich wie die rechtsnationalen Koalitionsparteien Italiens und deren französische Schwesterpartei Rassemblement National bespielt sie den rechten Rand des europäischen Verfassungsbogens.

Die Niederlande haben ihren Rechtsruck im vergangenen Herbst vollzogen, in wenigen Wochen könnte dort eine xenophobe rechtspopulistische Koalitionsregierung angelobt werden.

In einem solchen europäischen Umfeld wäre ein Wahlsieg der österreichischen FPÖ im kommenden Herbst kein Wunder, sondern läge im Trend. Ein rechtsnationaler Trend, der weit über Europa hinausreicht und neben den USA längst auch Indien und Bangladesch, Israel und Argentinien erfasst hat.

Als wäre es eine zu vernachlässigende Nebensache, stellen rechtsnationale Populisten zahlreicher Staaten laufend die Spielregeln liberaler Demokratien infrage.

In Argentinien etwa, wo derzeit über 40 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze leben, destabilisiert die neue rechtslibertäre Regierung das politische System von innen: Sie höhlt das Streikrecht per Dekret aus und unternimmt massive Angriffe auf wichtige arbeitsrechtliche Errungenschaften.

Nur ein Gerichtsbeschluss konnte diese fürs Erste stoppen. Dass der amtierende Präsident Argentiniens zuvor, während des Präsidentschaftswahlkampfes, ausgerechnet Papst Franziskus eine starke politische Affinität zu linken Regimen Lateinamerikas unterstellte, ist zwar absurd, rückt ihn jedoch in die Nähe der seltenen politischen Spezies der "demagogischen Populisten".

Wählerinnen und Wähler ohne Mitverantwortung?

Sobald die sattsam bekannten Ergebnisse eines Rechtsrucks, von Intoleranz und Nationalismus über Ausgrenzungspolitik bis zur Verfolgung Oppositioneller sichtbar und spürbar werden, wird es wieder niemand gewesen sein wollen, der die gesellschaftlichen Spaltpilze wählte. Nicht einmal als Protestwähler.

Keine Wählerin und kein Wähler werden die Entscheidung mitgetragen haben wollen, dass toxischer Verbalradikalismus und Hassreden den Weg vom Wort zur Tat beschritten; dass aggressive Ausgrenzung zu Gewalt und diese zur Gegengewalt führte.

Die wenigsten Wählerinnen und Wähler werden den Ruf nach Law & Order, nach einem illiberalen, demokratiefeindlichen Klima offiziell mitgetragen haben wollen. Und doch haben sie als Teile des wahlberechtigten Volkes mitentschieden, sich für Entwicklungen, die folgten, mitverantwortlich zu machen.

Rechter Massenjubel nach Wahl 1933: das langsame Umdenken

Auch nach der Wahl 1933 ging der rechte Massenjubel in Deutschland und Österreich erst richtig los. Das Umdenken der Mehrheit an Zeitzeugen erfolgte nur schleppend, zum Teil erst Jahre oder erst Jahrzehnte später.

Zu einem Teil erfolgte das Umdenken im Sinne geistiger Restitution bis heute nicht. Auf diesen verschmutzten und unaufgearbeiteten Restbeständen bauen deutsche und österreichische Rechtspopulisten unserer Tage auf.

Mit teils lügendurchsetzter Rhetorik praktizieren sie Ausschließung und werfen damit den ersten Stein. Geschickt haben sie ihr deutschnationales Vokabular der Vergangenheit in zeitgeistig-xenophobe und Anti-Establishment-Sprache transformiert.

Der unmündige Souverän?

Die Bedeutung gesellschaftlicher Vorkehrungsmaßnahmen gegen derartige populistische Tendenzen kann angesichts vergangener Beispiele und gegenwärtiger Fehlentwicklungen nicht hoch genug angesetzt werden.

Denn das Volk ist zwar der Souverän, doch wie Arthur Schopenhauer einst bemerkte, "ein ewig unmündiger Souverain". Gerade deshalb müsse es geschützt werden, damit es nicht zum Spielball gefährlicher Demagogen werde.

Eine auch heute noch gültige Warnung, denn das Wahlvolk der 21. Jahrhunderts soll nicht nur berechenbar, sondern auch steuerbar gemacht werden und sich auch noch wohl dabei fühlen. Perfide Zielsetzungen dieser Art könnten künftig Bestandteile von Algorithmen und soziopolitischen KI-Steuerungen werden.

Populisten und Demagogen

Als singuläre Passform für alle Diskursräume halten Populisten für jedwede Frage Antworten bereit. Sie agieren stets auf der indezent-plärrenden Verkäuferseite des politischen Sprachmarktes, selbst dann, wenn ihre Botschaften grundlegend unwahr sind.

Der rhetorische Fokus auf die Wirkung beim Wahlvolk zermalmt jegliches politisches Sachargument. Differenzierte Diskurse werden zu einer Sprachmasse amalgamiert. Je nach Bedarf und Tagesaktualität übertreffen Populisten einander in politischer Biegsamkeit bis hin zur Charakterlosigkeit.

Ein zentraler Aspekt, durch den sich Populismus und Demagogie unterscheiden, ist, dass Demagogen in der Politik über hohe systemische und damit demokratiegefährdende Mobilisierungsmacht verfügen.

Eine kritische Analyse der "drei Ps"

Ein untrügliches Zeichen für Demagogie ist in der Praxis auch, wenn die "drei Ps", Person, Partei und politisches Programm miteinander verschmelzen, um sich als Überidentifikation und Überpersonalisierung in einer Leitfigur zu materialisieren.

Die politische Geschichte der Welt – und insbesondere jene Europas – ist voll von negativ-charismatischen Leitfiguren und demagogischen Führern. Deren Visionen, zumeist in superlativische Rhetorik und ins Monumentale gesteigerte, komplexitätsreduzierende Sprache verpackt, führten noch nie zu kulturell positiven, die Gesellschaft voranbringenden Ergebnissen.

Extremisten und Despoten

Die viel diskutierte Frage, ob Populismus eine Vorstufe des Extremismus sei oder den soziopolitischen Weg zum Extremismus bahne, lässt sich für Europa unter bestimmten Bedingungen bejahen.

Diese sind eine weiter fortschreitende Erosion des Wohlfahrtsstaates, steigende Perspektivlosigkeit auf dem europäischen Arbeitsmarkt – verstärkt durch die mit hoher Geschwindigkeit durch Künstliche Intelligenz – sowie sich verschärfende Umverteilungskonflikte. In dieser Lage können gedankliche und in weiterer Folge faschisierende sprachliche Brücken zum Extremismus geschlagen werden.

Der Übergang von Populismus zu Extremismus ist kein struktureller Sprung von einer Dimension zu einer anderen, sondern eine graduelle Transformation, die sich unter bestimmten Voraussetzungen auch selbsttätig in Gang setzt. Maßgeblich ist dabei primär das Erreichen einer kritischen Masse.

Wahlvolk in der Komfortzone

Aus allen diesen Gründen sind Wählerinnen und Wähler aufgrund ihrer Stimmrechte nicht frei von Mitverantwortung. Abgaben von Stimmen sind politische Aufträge, sie ähneln dem Abgeben von Kleidungsstücken an der Garderobe keineswegs.

Nicht zuletzt aufgrund rezenter Erfahrungen mit US-amerikanischen und russischen Präsidenten sowie einigen autokratischen europäischen Spitzenpolitikern wäre strategisch davon abzuraten, Populisten zunächst leichtfertig an die Hebel der Macht zu lassen, um diese erst danach zu "entlarven".

Der Gedanke läge zwar nahe, den Typus des Populisten oder Demagogen in seine eigene, selbstreferenzielle Falle zu locken und ihn die Aura seiner sich selbst attestierten Volksnähe eigenhändig zerstören zu lassen.

USA als Lehrstück für Gefahren von Populismus und Demagogie

Die Gefahr ist jedoch zu groß, dass dieser Mechanismus nicht funktioniert, wie die USA, einem politischen Lehrstück gleich, derzeit vor Augen führen: Millionen an volljährigen, wahlberechtigten US-amerikanischen Bürgerinnen und Bürgern identifizieren sich tatsächlich mit dem Vorgänger und potenziellen Nachfolger des gegenwärtigen Präsidenten, der nicht einmal vor "God made Trump" zurückschreckt.

Dieser Teil des Wahlvolkes kann sich weder von Mitverantwortung freisprechen, noch die politischen Konsequenzen negieren. Auf gewisse Weise erinnert die populistisch-demagogische US-Groteske des beginnenden Wahljahres, insbesondere aufgrund ihrer weithin sichtbaren Verdrängungsmechanismen, an den – in anderem Kontext geäußerten – markig-treffenden Satz von Erich Kästner: "Und daß der Hitler ein Nazi war – das habe ich nicht gewußt!"

Nach der Deeskalation von Gewalt – kein Krieg dauert ewig – ist die verbale Deeskalation samt Rückkehr zur Sachpolitik der notwendige nächste Schritt. Er zeichnet den einzigen langfristig gangbaren Weg vor, auf dem sich der Homo politicus vom Populisten unterscheidet.

Das Bemühen um sprachliche Mäßigung und Sachpolitik kann letzten Endes dazu führen, das Forum und die Bühne für Populisten so klein wie möglich zu halten. Danach haben Wählerinnen und Wähler wieder die Wahl. Sie sind keine Opfer der Politik, denn sie geben die Linie vor und gestalten stets als verantwortlicher Souverän.

Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Er ist Autor von "Minimale Moral. Streitschrift zu Politik, Gesellschaft und Sprache" (2023, 2. Aufl.), "Lüge, Hass, Krieg. Traktat zur Diskursgeschichte eines Paktes" (2022), "Verbalradikalismus. Kritische Geistesgeschichte eines soziopolitisch-sprachphilosophischen Phänomens" (2021, 2. Aufl.) sowie "Uneigentlichkeit. Philosophische Besichtigungen zwischen Metapher, Zeugenschaft und Wahrsprechen" (2020)

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