Von der Lust, vernetzt zu sein

Seite 2: Intimität im virtuellen Raum

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Das Telefon zum Hören, das Fernsehen zum Sehen, die Systeme der Teleaktion zum Berühren und zur sensomotorischen Interaktion - all diese Apparate virtualisieren die Sinne, d.h. sie organisieren die Vergemeinschaftung von virtualisierten Organen.

Pierre Lévy

Die Entfernung vom anderen und die Anonymisierung der Beziehungen erfährt durch technische Mittel eine enorme Erweiterung. Medien haben bislang die Position des externen Beobachters kultiviert, der wie durch ein Fenster einer Szene zusieht, aber deren Bühne, selbst im Theater oder in der Oper, nicht betreten darf. Als externer Beobachter wird er nur indirekt, als einer unter vielen angesprochen, der austauschbar, niemand Bestimmter oder jeder ist. Auch wenn er sich mit einem Vorgang oder einer Person identifiziert, so bleibt er draußen, aber gleichzeitig bei sich, so nahe er auch der Szene kommen mag.

Der Trend, die Illusion und den externen Standpunkt des abgeschatteten Beobachters zu zerstören, ist eine Wunschgeschichte der Medien, die durch immer stärkeren Realismus einerseits und andererseits durch eine immer größere Einbeziehung des Zuschauers Stück für Stück verwirklicht wird, während gleichzeitig im realen Raum neue Formen der Distanzierung und Anonymisierung geschaffen wurden - von der Verdunkelung des Zuschauerraums über Peep-Shows, die die Körper der Schaustellenden und des Beobachters voneinander trennen, einigermaßen lebensechte Sexpuppenfür jeden Geschmack oder synthetischen Personen bzw. interaktiv steuerbaren Viedeobildern von echten Menschen, die man wie die berühmt gewordene virtuelle Valerieverführen und beherrschen kann, bis hin zu künftigen Formen des Cybersex, die eine neue körperliche Intimität durch die Vernetzung des Fleisches und der Empfindungen bei Wahrung der Distanz schaffen. Der Nächste wird durch den Fernen ebenso ersetzt wie die Nächstenliebe durch die Liebe zum Distanzierten in der doppelten Wortbedeutung von räumlicher und psychischer Ferne.

In der bekannten Cybersexszene des Films "Lawnmooner Man" wurde diese Trennung sehr schön dargestellt. Der Mann und die Frau befinden sich hier im selben Raum, aber jeder der beiden kann sich nur innerhalb eines Rahmens bewegen. Die Kamera wechselt beständig von der virtuellen Szene, in der sich die computergenerierten Körper der beiden vereinigen, zur realen, in dem die beiden Körper sich lediglich einsam um sich herum drehen.

Urbanes Leben, also der Aufenthalt in einer der ersten künstlichen Welten, hat vermutlich die Lust an der Anonymität realer, aber kurzfristiger Beziehungen geschaffen. In der Masse tauchen die einzelnen unter, bewegen sich als Masken und können sich der erneuten Begegnung entziehen. Interaktive und vernetzte Medien erweitern nur die in der Urbanität angelegten Strukturen, sich als Fremder unter Fremden zu bewegen. Doch erst das Telefon hat in der Geschichte der Telemedien eine wirklich neue Situation geschaffen, in der sich räumlich entfernte Menschen, allerdings nur über Stimme und Gehör, in einem gemeinsamen, konsensuellen virtuellen Raum begegnen und eine erste Form der Tele-Intimität entsteht.

Dadurch lassen sich geliebte oder begehrte Menschen näherholen, aber auch Kontakte mit völligen Fremden herstellen, denen man manchmal auch nie begegnen will und vor allem nicht muß. Das Telefon war das erste Medium, das eine direkte Interaktion zu einem anderen Menschen ermöglicht hat, der sich nicht im selben Raum aufhält, in dem sich der eigene Körper befindet, was die Möglichkeit in sich birgt, jederzeit den Kontakt zu unterbrechen, ohne Antwort leisten zu müssen - zumindest so lange die eigene Nummer in der vordigitalen Zeit nicht auf dem Display des anderen auftauchte. Das Telefon war die erste Türe in den Cyberspace, die von anderen Medien vorbereitet, aber nicht eingelöst wurde, denn Medien scheinen stets die Funktion zu haben, die Menschen für ihre anstehenden Weiterentwicklungen zu trainieren, also über sich vorauszuweisen, ähnlich wie die Manufaktur dem Fließband vorherging.

Telebeziehungen verlangen andere Verhaltensregeln, vor allem aber eröffnen sie Spielräume, die erlauben, ein neues Verhalten auszuprobieren, sich eine andere Identität zuzulegen und die ansonsten eingehaltenen moralischen Normen zu überschreiten. Das kann in der Form geschehen, daß man andere Personen, die man nicht kennt, über das Telefon belästigt oder mit ihnen flirtet, aber auch durch neue Dienstleistungen wie dem Telefonsex, durch virtuelle Räume, in denen man sich akustisch mit mehreren anderen gleichzeitig befindet, oder durch das Angebot, über die Anwahl einer bestimmten Nummer mit irgend jemandem verbunden zu werden, der Interesse an einem Kontakt besitzt.

Dabei spielt eine große Rolle, daß die Anonymität gewahrt wird, daß sie nicht erkannt werden kann, daß man sich im virtuellen Raum wie während des Karnevals hinter einer Maske verbirgt und man sich nur zu erkennen gibt, wenn man dies will. Insofern sind die Technologien des Cyberspace eine Folge der Flucht aus den Regeln von lokalen Gemeinschaften und somit eine Verstärkung der Individualisierungstendenzen moderner Gesellschaften, deren letzte Bremse die erotische und sexuelle Intimität der physischen Körper ist. Der Zerfall der lokalen Gemeinschaften ging einher mit den Großfamilien, die Individualisierung mit dem der Kleinfamilie und der Verhütungsmöglichkeiten und Reproduktionstechnologien. Jetzt geht es um das Ende der körperlichen Nähe und damit vielleicht auch um das der sexuellen Differenz. Wenn die Reproduktion durch Technologie und ohne körperliche Nähe geleistet werden kann, spielt das Geschlecht des anderen keine Rolle mehr, das beim Cybersex schließlich auch nur noch Fake sein kann.

Und ich würde aufstehen", sagte sie, "und mich umdrehen, so daß ich dich nun ansehe, mit den Schienbeinen gegen den Sessel gestützt, und ich würde meinen Hisenknopf lösen." - "Und ich würde eine Hand ausstrecken", sagte er, "und deinen Reßverschluß nehmen und ihn langsam nach unten schieben, so daß ich gegen deinen Hügel stoße.

Nicholson Baker

Hinsichtlich des Telefons hat Nicholson Bakers Roman "Vox" (Baker, 1992) die erotische Faszination an der Tele-Intimität sehr schön dargestellt. Ein Mann und eine Frau, deren Geschlechtsidentität über das Telefon erkennbar ist, sind durch einen Vermittlungsdienst unter Wahrung ihrer Anonymität zusammengekommen. Sie suchen das erotische Abenteuer nicht nur im wirklichen Leben, sondern nutzen die technischen Möglichkeiten aus. Wie in einem Beichtstuhl tauschen sie mit vielen Details ihre erotischen Phantasien und Erlebnisse aus, kommen sich so vielleicht näher, als wenn sie sich wirklich getroffen hätten, und finden über die detailgetraue Erzählung ihrer Begegnung als einander noch Fremde zu einem gemeinsamen Orgasmus.

Aber weil diese Intimität sich unter den Bedingungen des sich gleichzeitig Fremdbleibens hergestellt hat, würde eine wirkliche körperliche Begegnung, die weniger Spiel erlaubt, ebenso seltsam sein, als wenn sich Menschen, die es gewöhnt waren, körperlich intim zu sein, nur noch im virtuellen Raum begegnen könnten. Zwar teilt der Mann am Schluß der Frau seine Telefonnummer mit und bittet sie, ihn wieder einmal anzurufen oder gar ihn zu treffen, aber es wird doch recht deutlich, daß ihre Tele-Intimität weder so noch so in dieser Intensität wiederholbar sein wird. Der Reiz besteht eben darin, sich nicht zu kennen und mit den eigenen Phantasien spielen zu können, die sich mit dem anderen nicht verschmelzen. Wahrscheinlich ist eben der Umstand, nicht mit seinem Körper im virtuellen Raum abgebildet zu werden, mit ein Grund, warum Videotelephon, Videokonferenztechnik oder Videomöglichkeiten wie CUSeeME im Web sich nur zögernd im privaten Bereich durchsetzen.