Von der Lust, vernetzt zu sein

Seite 5: Aspekte der Vorgeschichte

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Wenn die virtuelle Lust der sexuellen Telepräsenz künftig die wirkliche Liebe der verkörperten Menschen ablösen sollte, dann könnten nur noch die nicht bloß unterentwickelten, sondern auch 'medial' schlecht ausgerüsteten Gesellschaften das Überleben der Menschheit sicherstellen. Nachdem die Callgirls ebenso wie die 'Straßenmädchen' dertechnischen Arbeitslosigkeit ausgesetzt wurde, wird die Kybernetik der künftigen Liebestransporte bald das Männliche und das Weibliche aus einer Menschheit entlassen, die durch die Vorzüge der Sexmaschinen der medialen Masturbation gänzlich disqualifiziert ist.

Paul Virilio

Das Faszinierende an der teletechnisch vermittelten Begegnung mit anderen Menschen besteht vor allem darin, daß man sich mit dem Körper nicht gemeinsam mit anderen Verkörperten in einem wirklichen Raum befindet, sondern daß das Geheimnis der Ferne bestehen bleibt, so nahe der andere einem auch kommen mag.

Aber es gibt auch ältere Geschichten, die vor der Zeit der Computer, der Virtuellen Realität und des Cyberspace geschrieben wurden und die Faszination zum Ausdruck bringen, in eine künstliche Welt einzusteigen. Im Zeitalter des Films war jedoch die Imagination noch weitaus mehr damit beschäftigt, die technischen Wirklichkeit einer erotischen Begegnung im Virtuellen zu lösen, und beschäftigte sich eher mit der Vergeblichkeit einer wirklichen Begegnung.

Noch auf der Basis der Filmtechnik hat Adolfo Bioy Casares diese Faszination in seinem Roman "Morels Erfindung" behandelt, der sich direkt anlehnt an H.G.Wells "Dr. Moreaus Insel", aber auch im Kontext der Erzählungen über die Erschaffung von künstlichen Menschen wie die Pygmalion-Sage, Hoffmanns "Sandmann", Shelleys "Frankenstein", Vernes "Karpatenschloß" oder Villiers "Eva der Zukunft" steht.

Ganz im Schema utopischer Erzählungen sucht ein Flüchtling auf einer ihm empfohlenen Insel Schutz, von der es hieß, daß vor vielen Jahren dort von einigen Menschen Gebäude gebaut wurden, sie aber jetzt verlassen sei. Der Flüchtling jedoch entdeckt bald, daß die Insel gelegentlich weiterhin von einer Gruppe Menschen bewohnt wird. Er verliebt sich in Faustine, eine schöne Frau, bemerkt dann aber, daß sie ihn nicht wahrnimmt und daß das Verhalten der Menschen einer Theateraufführung gleicht, weil immer Szenen stereotyp wiederholt werden. Auch weitere Besonderheiten fallen ihm auf: die Menschen tanzen beispielsweise bei Regen und Sturm, im Aquarium, aus dem der Flüchtling verweste Fische herausgeholt hatte, schwimmen plötzlich wieder dieselben Fische herum, manchmal gibt es zwei Sonnen oder zwei Monde, oft sind die Menschen einfach verschwunden. Schließlich kann der Flüchtling eine Rede von Morel, dem Besitzer der Insel, erlauschen, der die anderen wissen läßt, daß er alles mit einer neuen "photographischen" Technik aufgezeichnet habe, was sie in den letzten sieben Tagen gemacht hatten.

Morel, getrieben von einer offenbar unerwiderten Liebe zu Faustine, will wenigstens im Reich der Bilder ewig mit ihr zusammenleben. Seine Technik zeichnet alle visuellen, auditiven, taktilen und olfaktorischen Informationen auf und dann tritt, "sobald die Sinne versammelt sind", die "Seele" hervor. Dieser multimediale Film allerdings kann nicht animiert werden.

Als ich nach langwieriger Arbeit diese Daten harmonisch zusammenfügte, sah ich mich wiedererschaffenen Personen gegenüber, die zwar verschwanden, wenn ich den Projektionsapparat ausschaltete, die zwar nur jene vergangenen Augenblicke, in denen die Aufnahme gemacht wurde, durchlebten und sie, wenn sie abgelaufen waren, von neuem durchlebten ... und doch waren sie für niemanden von wirklichen Personen zu unterscheiden (sie bewegten sich in einer Welt, die mit unserer Welt zufällig in Berührung getreten war ... ).

Adolfo Bioy-Casares

Der Flüchtling versucht dann, die Maschinerie zu erkunden, die sich tückischerweise auch selber aufzeichnet, so daß bei Betrieb, der abhängig ist von den Gezeiten, Bild und Gegenstand zusammenfallen oder sich überlagern. Eine Tür, die bei der Aufnahme geschlossen war, läßt sich also auch dann nicht öffnen, wenn lediglich die Projektion läuft. Es handelt sich dabei offenbar um eine der Holographie nachempfundene Technik, die es einem beliebigen Zuschauer gestattet, sich gleichzeitig in der wirklichen und in der virtuellen Welt zu bewegen. Nachdem der Flüchtling die Apparatur beherrscht und bemerkt hat, daß Pflanzen oder Tiere nach der Aufnahme sterben, beginnt er, sich selber in die sieben, von Morel aufgezeichneten Tage einzubauen und dies so zu machen, daß jeder uneingeweihte Zuschauer vermuten müßte, daß er und Faustine ineinander verliebt seien und seine Liebe von ihr erwidert werde. Klar ist, daß sie sich niemals im Reich der Schatten begegnen werden, auch nicht in ihrer virtuellen Existenz, die mit dem Tod bezahlt wird. Gewonnen wird die Ewigkeit, doch die Rolle des äußeren Beobachters, auf den alles zugeschnitten ist, verhindert den Eintritt der Lebendigen und die filmische Aufzeichnung ein virtuelles Leben in eigener Dynamik.

Kultiviert aber wurde schon lange, zumal im Christentum, die Erotik der Ferne, die Vermählung mit einem fernen Liebhaber, und eine entsexualisierte, sich vom Zwang der Natur und den Erregungen des Körpers befreiende Erotik, die man auch Vergeistigung nennt und die mit Askese einhergeht. Geduldet wurde Sexualität vom Christentum - in der Ideologie, nicht in der Lebenswirklichkeit selbstverständlich - als zu regelnder Mechanismus der Reproduktion für das gemeine Volk, das keinen Triebverzicht zu leisten imstande ist, denn der irdische Leib war nur ein Gefängnis, ein machtvolles Instrument des Teufels.

Trotzdem konnte sich eine ganz und gar körperlose Existenz als Wunschbild nie durchsetzen, denn das Christentum war gleichzeitig behext vom Glauben an die Wiederauferstehung, an eine andere, irgendwie parallele Welt, in die man eintritt, wenn man diese Welt verläßt. Christus, der menschgewordene Gott und der gottwerdende Mensch, hatte die Metamorphose vorexerziert: die Verwandlung des Gottes in Fleisch und die Transsubstantion des Fleisches in einen Gott, die in den zu Kulten verwandelten Mahlzeiten immer nachgefeiert wurde.

Stets konnten die Götter, zumal bei den Griechen, sich leicht eine andere Gestalt verleihen, mühsam von den Menschen durch Masken oder durch Trance nachgestellt. Doch immer hat die Sterblichen von den Unsterblichen eine Kluft getrennt, die jene höchstens einmal, nach ihrem Tod, übertreten konnten. Sicher, in der quasi-monotheistischen, aber schon durch die Dreifaltigkeit gebrochenen christlichen Vorstellung ist die Kluft tief ausgeprägt, wenn es auch hinreichend Zwitterwesen wie die Heerscharen der Engel gab und manche bevorzugte Menschen nach der Wiederauferstehung nahe an Gott waren.

Ungelöst jedenfalls blieb, was nach dem Tode mit in die andere Welt genommen wird. Wie würde der gekreuzigte Jesus im Himmel aussehen mit seinen Wunden, die ihn entstellen? Und wie die Scharen der verzückten Märtyrer, die seinem bedingungslosen Gang in die andere Welt nachfolgten? Wie werden die Ungeborenen, die früh Gestorbenen, die Kranken, Alten und körperlich Zerschlissenen in den Himmel eintreten? Das hat die Menschen offenbar beschäftigt, denn im Himmel wollte man keine kranken, alten oder entstellten Leiber. Gut, daß Christus, das Vorbild, in der Blüte des Mannesalters, mit ungefähr 30 Jahren, aus dem Leben geschieden ist, kein Jüngling mehr, aber auch kein alter Mensch mit Falten, dickem Bauch und manch anderen Spuren, die das Leben einzeichnet. In einen ebensolchen Leib, so war das Versprechen etwa von Augustinus, werde jeder sich verkörpern, wenn er Christus nachfolgt und in den Himmel einkehrt. Genauso wie von Jesus die Wunden seiner Kreuzigung nicht mehr sichtbar sind, so werden die Getreuen in einem makellosen Leib, gerade im richtigen Alter, wiederauferstehen und ihr ewiges Leben als Klons feiern.

Der Cyberspace eröffnet die Möglichkeit des Paradieses und eines neuen Körpers für jedermann. Mag sein, daß darüber eine neue, historisch unbekannte Wertschätzung des nicht idealen Körpers eintritt, daß die perfekten Körper der Models an Bedeutung verlieren, die uns stets behext haben, von der Kunst oder der Werbung gefeiert und in Form einer Imitatio reproduziert wurden. Der Bruch zeichnet sich in den Bildern der modernen Kunst bereits ab, doch der Zwiespalt zwischen der eigenen Wunschidentität und der gegebenen wird solange bestehen bleiben, bis die Gentechnologie möglicherweise das Switchen zwischen den Körperbildern erlaubt und auch das reale Selbst auf diese Weise nicht mehr körperlich in einem Gefängnis verankert ist. Inzwischen spielt man im Cyberspace mit der Geschlechtsidentität und der erotischen Intimität aus der Ferne und kultiviert gleichzeitig, wie beim Wrestling und Body-Building oder durch kosmetische Operationen, den obsoleten, der Vergänglichkeit, der Krankheit oder Zwängen ausgesetzten Körper, der immer mehr zum Bild wird und sich virtualisiert.

2) Unter Cyborgs (Neologismus aus Cybernetics und Organism) versteht man Menschen, deren natürlicher Körper durch irgendwelche Techniken, beispielsweise neurotechnologische Implantate, erweitert wurde.

3)"Das eigene Avatar kann aussehen, wie man es selber haben will, bis an die Grenzen der eigenen Ausrüstung. Wenn man häßlich ist, kann man seinen Avatar zu einer Schönheit machen ... Man kann im Metaversum wie ein Gorilla oder ein Drachen oder ein giganticher sprechender Penis ausstehen." (Stephenson, 1994, S. 47) Wer sich keine maßgeschneiderten Avatars kaufen kann und nicht weiß, wie man sich solche programmiert, muß diese von der Stange nehmen. Je nach Geld verfügen die Avatars dann auch nur über ein mehr oder weniger begrenztes Reportoire an Gesichtszügen und sind die körperlichen Details unterschiedlich detailliert.

Stephensons Schilderung ist nicht reine Science-Fiction, denn es gibt für die Einrichtung einer virtuellen Welt und für die Repräsentation durch einen Avatar bereits Datenbanken mit vorfabrizierten 3-D-Modellen, die man kaufen kann: "Anbieter von Web chat lines oder virtuellen Welten bestärken die Benutzer darin, aus den von ihnen angebotenen Datenbanken an Bildern, 3D-Gegenständen und Avatars auszuwählen. Ubique's Site weist auf "Ubique Furniture Gallery" hin, in der man sich Bilder unter solchen Kategorien wie "Büroeinrichtung", "Computer und Elektronik" und "menschliche Ikons" auswählen kann. VR-SIG aus England bietet einen Supermarkt für VRML-Gegenständen (Virtual Reality Modelling Language, mit der man im Web 3D-Bilder generieren kann) an, während Aereal eine Virtual World Factory zur Verfügung stellt. Letztere will die Schaffung einer maßgeschneiderten virtuellen Welt besonders einfach machen: 'Schaffen Sie sich Ihre persönliche Welt, ohne selbst programmieren zu müssen! Sie müssen lediglich die leeren Stellen ausfüllen und dann entspringt Ihre Welt!' Schon bald werden wir einen richtigen Markt für detaillierte virtuelle Szenarien, Charaktere mit programmierbaren Verhaltensweisen und sogar ganzen Welten haben (eine Bar mit Gästen, eine Straße in der Stadt, eine berühmte historische Episode etc.), woraus ein Benutzer seine eigene "einzigartige" virtuelle Welt zusammenstellen kann." (Lev Manovich: Virtuelle Welten, in Telepolis (http://www.ix.de/tp)

Literaturangaben

Baker, N. (1992): Vox. Reinbek bei Hamburg

Bioy-Casares, A. (1975): Morels Erfindung. Frankfurt/M.

Brown, P. (1994): Die Keuschheit der Engel. München

Lévy, P. (1996): Entflammte Körper. Kunstforum International, Bd. 132 "Zukunft des Körpers I", S. 82

Maes, P. (1996): Künstliches Leben trifft auf Unterhaltung: Lifelike Autonomous Agents", in Kunstforum International Bd. 133 "Zukunft des Körpers II"

Oki, Keisuke (1996): Synchronizität im Computerzeitalter, in Kunstforum International, Bd. 132 "Zukunft des Körpers I"

Ray, T. (1996): Netlife - das Schaffen eines Dschungels im Internet. In S. Iglhaut, A. Medosch, F. Rötzer (Hrsg.): Stadt am Netz. Ansichten von Telepolis. Mannheim

Sartre, J.-P. (1980). Das Sein und das Nichts. Hamburg, S. 338-397

Stenslie, S. (1996): Vernetzung des Fleisches. Kunstforum International, Bd. 132 "Zukunft des Körpers I"

Steels, L. (1996): Die Zukunft der Intelligenz, in Kunstforum International Bd. 133 "Zukunft des Körpers II"

Virilio, P. (1996): Von der Perversion zur sexuellen Diversion, in Kunstforum International, Bd. 132 "Die Zukunft des Körpers I"