Von der Lust, vernetzt zu sein

Seite 3: Erste Schritte zur Cybersextechnologie

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Das Telefon hat den Cyberspace eröffnet, der weitaus mehr verspricht, wenn er in die Computernetze übergeht. Noch ist der Cyberspace weitgehend stumm, spielt sich noch viel im Austausch von Geschriebenem ab, doch die Konturen der vernetzten Virtuellen Realität werden allmählich deutlich. Schon in den nur textbasierten MUDs - virtuellen Räume, in die sich viele Menschen gleichzeitig einloggen können - hat sich das Spiel mit einer verdeckten Identität durchgesetzt. Der Mangel an Frauen war bislang groß, erklärt aber wohl nicht allein, warum Männer gerne Frauen und diese wiederum manchmal Männeridentitäten annehmen. Cross-dressing ist einer der Hits im Cyberspace, was gelegentlich auch zu Konflikten führt, wenn das Spiel in eine ernsthaftere Kommunikation umschlägt und man sich nachher betrogen fühlt, wenn der Partner seine Identität maskiert gehalten hat.

Als Vorteil der computergestützten Kommunikation wurde immer angesehen, daß die Körperidentität, mit der die personale Identität verschmolzen oder in der sie zumindest verankert ist, verborgen bleiben kann, daß also eine hinsichtlich des Geschlechts, der Rasse oder des Aussehens "gleich-gültige" Kommunikation im Cyberspace herrscht, der überdies, darin der urbanen Öffentlichkeit vergleichbar, die Begegnung mit fremden Menschen ermöglicht, die sich, repräsentiert durch irgendeinen Alias, in denselben virtuellen Raum eingeloggt haben. Da es sich dabei oft um Jugendliche oder zumindest junge Menschen handelt, spielen die Kontaktsuche und das Experimentieren mit Verhaltens- und Kommunikationsformen eine große Rolle.

MUDs sind entweder vorgefertigte Spielumwelten oder sie können von ihren Benutzern weiter gebaut werden. Bis vor kurzem nur in Worten realisiert, visualisieren sie sich jetzt mehr und mehr und können die Benutzer in einer grafischen Repräsentation, einem Avatar, auftreten, den sie sich entweder selber stricken oder aus einer Kollektion übernehmen. Zur Zeit werden immer mehr dreidimensionale grafische Welten angeboten, durch die man mit einem Avatar navigieren kann. Auch hier gibt es die Möglichkeiten, sich seine eigene Räume oder "Welten" mit vorgefertigten Bauteilen einzurichten und sie ins Netz zu stellen. Gleichwohl beschränkt sich das Leben in solchen Cyberspace-Welten noch weitgehend auf schriftliche Kommunikation. Und selbst wenn diese visualisiert sind, dann fehlt für die Tele-Intimität noch eine wichtige Komponente: die Taktilität.

Auch wenn man das nicht dramatisieren sollte, gibt es natürlich im Web die klassische Pornographie. Neu hingegen ist eine Art Cyberspace-Peepshow über Video, das allerdings eine ziemlich schlechte Auflösung hat und wegen der großen Übertragungszeiten nur als Einzelbilder übertragen wird. Mann kann, ähnlich wie beim Telefonsex, sich einloggen und dann ein Mädchen in einem Raum sehen, das sich auszieht und - vielleicht - auf die eigenen Wünsche reagiert: selbstverständlich gegen reichlich hohe Gebühren, denn in Wirklichkeit umgesetzte Vorstellungswelten sind Welten, die dem Markt, dem Organ der Aufmerksamkeit, gehorchen.

Aber die technische Entwicklung schreitet voran. Virtuelle Realität ist nichts anderes als der Versuch, den Körper in die künstliche Welt zu integrieren - zunächst als Bild, aber dann auch als empfindenden und reagierenden Körper. Virtuelle Realität aber erlaubt nicht nur, seinen Körper in die künstliche Welt mitzunehmen, sondern auch in einen simulierten Körper hinein zu schlüpfen, also sich zu maskieren. Körperliche Nähe wird bald keine Frage der räumlichen Nähe mehr sein, sondern der Schnittstelle mit dem Cyberspace, die Berührung erlaubt und die gleichzeitig die Grenze zwischen Körper und Maschine, zwischen wirklicher Erfahrung und Erfahrung der Wirklichkeit, zwischen Realität und Simulation verschwimmen läßt.

Stahl Stenslie und Kirk Woolford, zwei Künstler an der Medienhochschule Köln, haben 1994 eines der ersten Systeme für den Cybersex entwickelt. Es ging technisch darum, wie zwei Körper, die sich an verschiedenen Orten befinden, einander berühren können, und intentional darum, aus der Bindung an einen bestimmten Körper entfliehen und sich in den Augen des anderen einen neuen Körper geben zu können, dessen Erscheinung man selbst auswählt. Der Cyberspace eröffnet den Spielraum für eine multiple Persönlichkeit, die sich je nach Stimmung oder Kontext einen anderen Körper gibt und damit auch eine andere Kommunikations- und Interaktionsstruktur wählt.

Der Körper der Zukunft ist der schizoide Körper, der launische und flüssige Ausdruck von multiplen Ichs. Wenn man in den elektronischen Körper des Cyberspace schlüpft, dann zieht man eine Bekleidung von Möglichkeiten an und kann sich in alternative Persönlichkeiten verwandeln.

Stahl Stenslie

Für den Austausch von Stimulationen (Berührungen) müssen die sich im Cyberspace Begegnenden einen Anzug aus Latex oder Gummi anziehen, an dem mechanische und elektrische Stimulatoren angebracht sind, die die erogenen Zonen durch Vibratoren, Wärme oder Stromstöße erregen. Weil die "Berührung" aber noch recht grob und aufdringlich ist, stellten die beiden Künstler das System in einen sadomasochistischen Kontext, in dem auch durch Schmerzen die Präsenz des anderen erfahrbar wird. Jeder der Angeschlossenen kann sich, wiederum als Folge der technischen Beschränkung, aus einer Datenbank von Prototypen einen künstlichen Körper zusammenstellen, in dem er für den anderen erscheint. Berührungen können allerdings nicht durch die Bewegung des eigenen Körpers vermittelt werden, sondern lediglich durch einen Mausklick auf das Körperbild des anderen oder durch Übersendung von Berührungsprogrammen. Eingesperrt in den Anzug, ist man den "Berührungen" des anderen preisgegeben.

Ein interessanter Aspekt, den man im Prozeß der teletaktilen Kommunikation beobachten kann, ist das intime, aber anonyme Verhältnis der Teilnehmer. Ich bin auf das engste mit dem Körper des anderen vernetzt, wir sind an denselben Stromkreislauf angeschlossen, aber es gibt über die unmittelbare Verbindung hinaus keine weitere Verpflichtung. ... Realistisches Aussehen und realistische Identität werden triviale Sachverhalte. Jeder Teilnehmer wird unter der Maske einer gewählten Repräsentation ein gewisser Freiraum gewährt. Es gibt, wie jemand sagte, keine Nötigung, am nächsten Morgen zusammen zu frühstücken - im guten wie im schlechten Sinne.

Stahl Stenslie

Eine Weiterentwicklung dieses Systems stattete den Anzug mit Stimulatoren und Sensoren aus, so daß der eine Partner durch die (autoerotische) Berührung seines Körpers Stimulationen an den anderen und umgekehrt senden kann. Immer spielt die Möglichkeit, verbal miteinander in Kontakt treten zu können, eine große Rolle dabei, wie intensiv die Immersion in den Cyberspace gelingt. Doch ein wirklich körperlicher Dialog ist mit solchen primitiven Techniken nicht möglich.

Die weitere technische Entwicklung wird darin bestehen, die Teletaktilität im Sinne eines Körperdialogs zu verfeinern oder einen autoerotischen Feedback zu schaffen, der den angeschlossenen Körper direkt mit dem Computer vernetzt, wobei dieser die durch Sensoren aufgezeichneten Daten analysiert und audiovisuelle Simulationen und taktile Stimulationen zurücksendet: die Ablösung also vom menschlichen Gegenüber, der möglicherweise nur solange wichtig ist, solange der Computer nicht smart genug sein wird, durch differenzierte und sich den Aufzeichnungen anschmiegende Reize zu reagieren. Sollte dies aber jemals möglich werden, so steht der Zerebralisierung der Sexualität nichts mehr im Wege und würde der Computer zu einer Sexmaschine, die die Geschlechtsbeziehungen ersetzt.

Schon der primitive Cybersex läßt die Geschlechterdifferenz ebenso hinter sich wie die "Gefahr" der Reproduktion oder der Übertragung von Krankheiten. Möglicherweise wird es bald, den primitiven Mechanismus der Sexualität voraussetzend, ununterscheidbar sein, ob man mit einem anderen Menschen, einem virtuellen Agenten oder einem Computer flirtet oder zum Orgasmus kommt, während sich gleichzeitig im Cyberspace ein künstliches Leben entwickelt, das sich durch Rekombination und Selektion wie in Tom Rays "Tierra" reproduziert und in eine evolutionäre Drift eintritt.