Von der Menschenwürde tiefgefrorener Embryonen
Der Bundestag hat entschieden: Embryonale Stammzellen dürfen nur in Ausnahmefällen importiert werden
Die Würfel sind gefallen. Heute hat der Bundestag beschlossen, dass künftig in strikt fest gelegten Ausnahmefällen embryonale Stammzellen nach Deutschland importiert werden dürfen. Ein entsprechender Gesetzesentwurf wird sicher bald vorgelegt. Wie sich die Parlamentarier entscheiden würden, war bis zum letzten Moment unklar. Für die Abstimmung war der Fraktionszwang aufgehoben, der Einzelne konnte frei nach seinem Gewissen entscheiden. Die Diskussion im Vorfeld war heftig und emotional engagiert. Denn alles kreiste immer wieder um die Frage, wann das Leben beginnt und ob der Schutz der Menschenwürde bereits mit der Verschmelzung nach der Vereinigung von Ei- und Samenzelle einsetzen sollte.
Die aktuelle Kontroverse entstand durch eine Lücke des 1990 verabschiedeten Embryonenschutzgesetzes, das zwar im Inland jede Forschung an embryonalen Stammzellen verbietet, aber den möglichen Import nicht berücksichtigt hat. Die Definition des Embryo in diesem Gesetz ist eindeutig:
"(1) Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag.
(2) In den ersten vierundzwanzig Stunden nach der Kernverschmelzung gilt die befruchtete menschliche Eizelle als entwicklungsfähig, es sei denn, dass schon vor Ablauf dieses Zeitraums festgestellt wird, dass sich diese nicht über das Einzellstadium hinaus zu entwickeln vermag."
Der Begriff Menschenwürde kommt in dem Gesetz nicht vor und tatsächlich ist fraglich, ob es Sinn macht, dieser Potenz menschlichen Lebens eine besondere Würde zuzugestehen. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil zum Schwangerschaftsabbruch bestätigt, dass das ungeborenen Leben grundsätzlich Menschenwürde besitzt (vgl. Urteil des Zweiten Senats vom 28. Mai 1993). Die Richter gingen allerdings in jedem Fall davon aus, dass es sich um eine eingenistete Schwangerschaft und nicht um einen Zellhaufen in der Petrischale handelt. Darüber hinaus stellten sie damals fest, dass bei gewichtigen Gründen der Abbruch straffrei bleibt, folglich ist eine Abwägung von Rechten möglich.
Der Begriff des Lebens ist unstrittig - jede Zelle ist Leben -, entscheidend ist jedoch der Rechtsschutz, der verschiedenen Formen von Leben gewährt wird. Und hier spaltet sich die Gesellschaft in verschiedenste Fraktionen. Viele Wissenschaftler vertreten die Auffassung, dass die Heilsversprechen für Schwerkranke die Verwendung von embryonalen Stammzellen für die Forschung rechtfertigen, wenn diese überzähligen Embryonen bereits durch künstliche Befruchtungsversuche entstanden sind und sowieso auf Eis ihrer Vernichtung harren. Die christlichen Kirchen haben die deutlichste Gegenposition formuliert, ihrer Meinung nach darf in Deutschland keine Zelle eines Embryos für die Forschung verwendet werden, selbst wenn die Stammzellen-Linie im Ausland schon lange angelegt und damit die Vernichtung der Potenz menschlichen Lebens längst vollzogen ist. Entsprechend setzte sich die Wissenschaftsverbände (Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen, Deutsche Forschungsgemeinschaft, Gesellschaft für Genetik) zumindest für den Import von Stammzellen aus überzähligen Embryonen ein. Die Kirchen forderten dagegen die Politik vehement auf, keinerlei Ausnahme der strikten Verbots zuzulassen (vgl. Evangelische Kirche, Katholische Kirche).
Tatsächlich müssen sich die Befürworter eines Imports fragen lassen, ob ihre Position nicht reichlich scheinheilig ist. In Deutschland das Leben des Embryos über alles setzen, sich aber dann Zellen vernichteter Embryos aus Israel oder den USA zu besorgen, kann keine wirkliche Lösung sein. Umso erstaunlicher ist, dass es praktisch keine Opposition gegen das Embryonenschutzgesetz selbst gibt, obwohl es wie jedes andere Gesetz geändert werden könnte. Auch die Ausgestaltung der Grundrechte des Grundgesetzes liegt in der Hand der Parlamentarier, wie sich bei der Ergänzung des Asylrechtes gezeigt hat. Und wenn tatsächlich das menschliches Leben ab der Kernverschmelzung unter die unantastbare Menschenwürde fällt, muss die Pille als Verhütungsmittel ebenso in Frage gestellt werden wie die Spirale, denn beide sorgen für eine Schleimhautveränderung in der Gebärmutter, die eine Einnistung der befruchteten Eizelle verhindert. Von der "Pille danach" ganz zu schweigen.
Sicher ist eine breite Debatte über Zeitpunkt des Beginns und des Endes des Lebens in Zeiten der hoch technisierten Medizin wichtig, erstaunlich ist nur, welche Richtung sie genommen hat und dass viele Aspekte fast überhaupt nicht diskutiert werden: Wie ist es mit dem Schwangerschaftsabbruch - ist die Gesundheit der potenziell werdenden Mütter höherwertig als die von Parkinson-Kranken oder anderen, denen möglicher Weise in absehbarer Zeit dank der Forschung an embryonalen Stammzellen geholfen werden kann? Und warum gibt es keine Debatte über das Recht an der eigenen Zelle und dem eigenen Erbgut? Dieser Aspekt wird, wenn überhaupt immer nur nebenbei erwähnt, dabei erscheint er in Zeiten der Genpatente äußerst wichtig.
Deutsche Politiker sind plötzlich päpstlicher als der Papst und nichts scheint wichtiger als der Schutz der menschlichen Zellhaufen, die früher nach Untersuchungen oft den Abfluss herunter gespült wurden. Beschworen werden die reinsten Horrorszenarien, ständig wird von "Tötung" gesprochen und nur allzu oft bleibt selbst die Differenzierung zwischen der Forschung an vorhandenen, überzähligen Embryonen aus künstlichen Befruchtungen, dem therapeutischen und dem reproduktiven Klonen (das inzwischen in allen Industrieländern verboten ist) auf der Strecke. Sicher sind die Heilsversprechen der Biomedizin noch reine Utopie. Aber ohne Forschung wird es in der Zukunft sicherlich keine Möglichkeit geben, Multiple Sklerose, Alzheimer oder andere schwere Erkrankungen mithilfe embryonaler Stammzellen zu kurieren. Sich auf den Standpunkt zu stellen, Deutschland sei eben eine Insel der reinsten Moral und von den Erkenntnissen der Forschung aus anderen Ländern würden wir ja dann auch irgendwann profitieren, ist Heuchelei. Und andere Länder wie die USA, Großbritannien, Israel oder Frankreich sind offensichtlich zum "Töten" von auf Eis liegenden Embryonen zu Forschungszwecken bereit (vgl. Überblick der Gesetzeslage in anderen Ländern).
Der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) liegen konkret drei Anträge von deutschen Wissenschaftlern vor, die embryonale Stammzellen importieren möchten, um an ihnen zu forschen. Gestellt wurden sie vom Bonner Mediziner Oliver Brüstle, vom Münchner Herzspezialisten Wolfgang-Michael Franz und von dem Hannoveraner Molekularbiologen Ulrich Martin.
Bei einer aktuellen Befragung gab jetzt eine große Mehrheit (68 Prozent) der Deutschen an, dass sie dagegen sind, "Forschung im Interesse des medizinischen Fortschritts auch dann zu betreiben, wenn dafür die Tötung von menschlichen Embryonen in Kauf genommen werden muss". Nur 21 Prozent sprachen sich in der von "Welt am Sonntag" bei Infratest in Auftrag gegebenen Umfrage dafür aus. Dagegen gaben Ende vergangenen Jahres bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Forsa immerhin 53% aller Deutschen an, dass sie sich im Fall einer unheilbaren Erkrankung mit einem aus embryonalen Stammzellen gewonnenen Medikament behandeln lassen würden (vgl. Grünes Licht für Stammzellenimport). Also wollen die Deutschen keine Forschung, aber dann gerne die Medikamente?
Die Politik versuchte, sich möglichst viel Unterstützung für die Entscheidungsfindung zu sichern. Der Kanzler berief einen nationalen Ethikrat ein, der sich letztlich für den Import embryonalen Stammzellen unter strengen Auflagen aussprach (vgl. Der Bann löst sich). Aber die Mehrheit war knapp und die vom Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin kam mehrheitlich zu dem ablehnenden Ergebnis:
"Die Enquete-Kommission spricht sich in Würdigung aller Argumente gegen den Import von menschlichen embryonalen Stammzellen aus. Sie ist der Meinung, dass der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung alle Möglichkeiten ausschöpfen sollten, um den Import von menschlichen embryonalen Stammzellen zu verhindern. Die Enquete-Kommission hält die Verwendung von menschlichen Embryonen zu Forschungszwecken, auch wenn diese im Ausland stattfindet, ethisch für nicht vertretbar und wissenschaftlich für nicht ausreichend begründet. Die notwendige Grundlagenforschung kann mit Stammzellen anderer Herkunft (embryonale Stammzellen von Primaten, Nabelschnurblut-Stammzellen, adulte Stammzellen u.a.) in ausreichendem Maße verfolgt werden, ohne das Tor für die Verzweckung von menschlichen Embryonen zu öffnen.
Es zeichnete sich bereits im Dezember 2001 ab, dass die Debatte kontrovers sein und die Parteigrenzen sprengen würde (vgl. Sterben für die Forschung oder Sterben im ewigen Eis).
Entsprechend gab es am Ende drei Anträge, die dem Bundestag heute vorlagen. In letzter Minute hatte sich eine CDU-Minderheit noch mit der FDP zusammen getan und einen gemeinsamen Antrag formuliert, der den Import grundsätzlich billigen will, und sogar irgendwann die Schaffung eigener Stammzelllinien in Deutschland erwägt:
"1. Der Import von embryonalen Stammzelllinien aus dem Ausland wird gebilligt, sofern die Zelllinien aus überzähligen Embryonen hergestellt wurden und die Embryonenspender der Stammzellgewinnung zugestimmt haben.
2. In einem Stammzellimportgesetz soll die Registrierung der eingeführten Stammzellen sowie die wissenschaftliche und ethische Begleitung der Forschungsprojekte geregelt werden. Ziel ist die Sicherung der ethischen Vertretbarkeit und der wissenschaftlichen Qualität der geplanten Projekte.
3. Die Forschung an embryonalen Stammzellen wird dahingehend begleitet, erforderlichenfalls die rechtlichen Grundlagen für die Etablierung von eigenen Stammzelllinien in Deutschland zu schaffen."
Der Antrag hatte im Vorfeld 100 Unterstützer, in der Abstimmung entfielen im ersten Wahlgang insgesamt 106 Stimmen auf ihn, damit schied er aus.
In der Fraktion Kein Import embryonaler Stammzellen finden sich die meisten Grünen, aber auch Abgeordnete aller anderen Parteien. Sie wollen keinerlei Import zulassen und argumentieren damit, es sei moralisch nicht zu rechtfertigen, den im Ausland erzeugten Embryonen einen anderen Status zuzuordnen als den in Deutschland entstandenen. Sie befürchten letztlich einen Dammbruch, wenn erst mal einige Ausnahmen genehmigt werden. Diesen Antrag der strikten Einfuhrgegner hatten gestern schon 212 der 666 Bundestagsabgeordneten unterzeichnet. Bei der Abstimmung votierten im ersten Wahlgang insgesamt 263 Abgeordnete für ihn, im zweiten Wahlgang dann 265.
Der Antrag, der letztlich die Mehrheit auf sich vereinigte, wurde von einer parteiübergreifende Gruppe formuliert, zu der u.a. Andrea Fischer von den Grünen und Horst Seehofer von der CSU gehören. Sie wollen den Import von embryonalen Stammzellen grundsätzlich verbieten, aber eng definierte Ausnahmen zulassen. Zugelassen werden ein Import, wenn Alternativen wie die Forschung an Tieren oder an adulten Stammzellen für das geplante hochrangige Vorhaben nicht erfolgversprechend sind. Es dürfen nur Zellen aus zum Zeitpunkt der Beschlussfassung bestehenden Stammzelllinien eingeführt werden, d.h. es gibt keinen Import von Stammzellen, die neu gezüchtet werden. Dann auch nur unter der Voraussetzung, wenn die Eltern eine Schwangerschaft herbei führen wollten und mit der Forschung an den überzähligen Embryonen einverstanden sind. Eine Kontrollbehörde wird eingesetzt, die den Import genehmigen muss:
"Die ethische Vertretbarkeit wird durch eine hochrangige und interdisziplinär besetzte Zentrale Ethikkommission geprüft."
Diesen Antrag hatten vorab 150 Parlamentarier unterschrieben, er bekam bei der Abstimmung im ersten Wahlgang 226 Stimmen und im zweiten Wahlgang (der Stichwahl) 340 Stimmen. Bei 10 Enthaltungen und 2 Nein-Stimmen wurde er damit angenommen.