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Westsahara: "Neokoloniale Wende in der deutschen Außenpolitik"

Bild (August 2021): Michael Brandtner/CC BY 4.0

Welche Werte leiten die deutsche Außenpolitik? Ministerin Baerbock nähert sich weiter der Position Marokkos zum völkerrechtswidrig besetzten Gebiet an. Deutschland setzt auf den "enorm wichtigen Partner" für eine dubiose Wasserstoffstrategie.

Der von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock eingeleitete Politik-Schwenk gegenüber dem autokratischen Königreich Marokko geht weiter. Das zeigen die Antworten der Bundesregierung, übermittelt vom Auswärtigen Amt (AA), auf eine Anfrage der Linken-Abgeordnete Sevim Dagdelen, die Telepolis vorliegen. Sie trägt den Titel: "Die Bundesregierung und die völkerrechtswidrige Besetzung der Westsahara durch Marokko."

Es war schon auffällig, dass das Auswärtige Amt kurz nach dem Baerbocks Amtsantritt im Januar plötzlich die Basisinformationen auf ihren Webseiten zu Marokko verändert hatte. Insbesondere wurde die Position zu Marokkos Konflikt mit der Westsahara "aktualisiert".

Das von der grünen Baerbock neu geführte Ministerium schwenkte nun ausgerechnet auf die Linie des ehemaligen US-Präsidenten Trump [1] in Richtung Anerkennung der Souveränität Marokkos über die Westsahara ein.

Die Position der Regierung Merkel

Die Merkel-Regierung hatte dagegen noch auf Basis der UN-Resolutionen auf eine "gerechte, praktikable, dauerhafte und für alle Seiten akzeptable Lösung des Konflikts" unter "Achtung des Humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte" gepocht. Berlin hatte sich damit den Zorn aus Rabat zugezogen.

Marokko hatte zwischenzeitlich damit gedroht, "jeden Kontakt mit der deutschen Botschaft in Rabat und allen Stiftungen, die dem deutschen Staat unterstehen," auszusetzen (siehe Westsahara: Marokko im Streit mit Deutschland [2]).

Ampel hofiert den "Autonomieplan"

Von Baerbock und der Ampel-Regierung wurde nun der einseitig von Marokko 2007 vorgeschlagene "Autonomieplan" hofiert. "Der von Marokko 2007 vorgeschlagene Autonomieplan kann einen wichtigen Beitrag leisten, um einer Lösung näherzukommen", hatte das AA auf Anfrage von Telepolis ausdrücklich die neue Haltung bestätigt [3].

Dass dies den Resolutionen der Vereinten Nationen (UN) zur Entkolonisierung der Westsahara widerspricht, will man im Baerbock-Ministerium anscheinend nicht erkennen. Dort greift man sich aus der letzten Westsahara Resolution (2602) des UN-Sicherheitsrats einfach ein paar passende Worte heraus – so wird in den Vorbemerkungen der Autonomie-Vorschlag als "ernsthafte und glaubwürdige" Bemühung Marokkos bezeichnet, um den Prozess in Richtung einer Lösung voranzubringen [4].

Daran klammert sich das AA seither wie an einen Nagel, um weiter so zu tun, als suche man nach "einer politischen Lösung im Rahmen der Vereinten Nationen", was immer wieder als Phrase in den AA-Antworten auftaucht. Die Realität hat mit dem Wiederaufflammen des Kriegs zwischen Marokko und der Westsahara-Befreiungsfront Polisario vor zwei Jahren längst das Gegenteil bewiesen [5].

Eine Lösung war seit 1991 nie so weit entfernt wie heute. Der von der Bundesregierung hofierte Autonomieplan hat nur Gewalt befördert und der Konflikt droht sich regional auszuweiten, da Marokko Algerien als "wahre Konfliktpartei" bezeichnet [6].

Sevim Dagdelen, Obfrau der Linksfraktion im Auswärtigen Ausschuss, weist in ihrer Anfrage auf die einseitige Bezugnahme auf Marokkos Plan durch Baerbock in der gemeinsamen deutsch-marokkanischen Erklärung hin. Sie fragte deshalb, warum Baerbock allein im Autonomie-Plan eine "gute Grundlage" sieht, "um zu einer Einigung beider Seiten zu kommen [7].

Den Vorschlag der Polisario, ebenfalls aus dem Jahr 2007, der vom UN-Sicherheitsrat "zur Kenntnis" genommen wurde, ignoriert man dagegen in Berlin, wie die Antworten auf die Dagdelen-Anfrage zeigen. Angeblich strebe die Bundesregierung weiter einen "praktikablen, dauerhaften und für alle Seiten akzeptablen Lösung des Konflikts" an.

Statt den Polisario-Plan auch nur zu erwähnen, wird erneut nur auf den marokkanischen "Autonomie-Plan" verwiesen. Der wird als "wichtigen Beitrag" herausgestrichen, "um zu einer politischen Lösung im Rahmen der Vereinten Nationen zu kommen."

Und das Selbstbestimmungsrecht?

Dass der Polisario-Plan weiter konsequent ignoriert wird, macht deutlich, dass man im Baerbock-Ministerium und der Bundesregierung nichts von Plänen hält, die Entkolonisierung der "letzten Kolonie Afrikas", wie die Westsahara gerne genannt wird, auf Basis des Selbstbestimmungsrechts und demokratisch zu lösen.

Dabei hat auch Marokko den UN-Sozialpakt 1979 ratifiziert. Dort heißt es gleich im 1. Artikel [8] eindeutig:

Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.

Statt darauf zu drängen, wie es die Merkel-Regierung tat, hintertreibt man das Selbstbestimmungsrecht, das man in der Ukraine mit Waffenlieferungen zu verteidigen vorgibt und stützt mit Marokko einen autoritären Aggressor.

Die Polisario hatte 2007 dagegen auf das einst vereinbarte Referendum gepocht [9] und aufgeführt:

Die Lösung des Konflikts besteht in der Durchführung eines Referendums über Selbstbestimmungsrecht.

In einer "freien und fairen" Abstimmung müsse die Bevölkerung die Möglichkeit haben, "über ihre Zukunft zu entscheiden". Das Referendum war die Grundlage für das Waffenstillstandsabkommen im Jahr 1991 mit Marokko.

Daraufhin wurde die UN-Mission zur Beobachtung eines Referendums über die Unabhängigkeit (Minurso) eingesetzt. Doch der war es in 30 Jahren nicht gelungen, die Abstimmung gegen den Widerstand Marokkos durchzusetzen.

Die Polisario verweist auf etliche UN-Resolutionen zum Friedensplan und zur Selbstbestimmung, "die vom Sicherheitsrat gebilligt wurden". Die Bemühungen zur Durchführung des Referendums scheiterten, "da das Königreich Marokko seine internationalen Verpflichtungen nicht einhielt", resümiert die Befreiungsfront.

Die ausweichende Haltung der Bundesregierung

Insgesamt kann in allen Antworten auf die Fragen eine ausweichende Haltung festgestellt werden. Dagdelen hatte unter anderem gefragt:

"Hat die Bundesregierung Kenntnisse, dass die völkerrechtswidrige Besetzung der Westsahara nur durch Androhung bzw. Anwendung von Gewalt aufrechterhalten wird?"

Darauf wird lapidar geantwortet:

"Die Bundesregierung hat keine Kenntnisse im Sinne der Fragestellung."

Dabei ist allseits bekannt, dass massive Gewalt des marokkanischen Militärs sogar in der entmilitarisierten Zone letztlich mit vielen weiteren Provokationen zum Ende des Waffenstillstandsabkommens geführt hatte.

Mit Drohnen werden auch Unbeteiligte von Marokko ermordet [10]. Mit brutalster Gewalt hatten zum Beispiel marokkanische Sicherheitskräfte ein Protest-Zeltlager der Saharauis geräumt [11].

Im Juni führte dann das extrem brutale Vorgehen marokkanischer Sicherheitskräfte an der Grenze zur spanischen Exklave Melilla zu mindestens 40 Toten vor laufenden Kameras [12].

Man kann sich angesichts der brutalen Bilder an der Grenze [13] ausmalen, was in den besetzten Gebieten passiert, zu denen Journalisten keinen Zugang erhalten. Sogar Parlamentariern aus ganz Europa wird immer wieder der Zugang von Marokko zu den besetzten Gebieten verwehrt.

Es würde aber ein Blick auf die Webseiten von Menschenrechtsorganisation reichen, um "Kenntnisse" über massive Gewaltanwendung in der Westsahara zu erhalten, so etwa bei Amnesty International [14].

Bei Human Rights Watch (HRW) ist zu lesen, dass Marokko "weiterhin hart gegen Journalisten, Aktivisten, Kommentatoren in sozialen Medien" vorgehe [15]:

"In der Westsahara verfolgen die marokkanischen Behörden weiterhin Aktivisten, die sich für die Selbstbestimmung der Saharauis einsetzen."

Verwiesen wird auch darauf, dass 19 Aktivisten aus dem brutal geräumten Protest-Zeltlager [16] "in unfairen Verfahren" zu lebenslänglichen Strafen oder zu Haftstrafen zwischen 20 und 30 Jahren verurteilt wurden. Das geschah angeblich auf Basis von "Folter" und "gefälschten Geständnissen" [17].

Keine Kenntnisse über brutale Gewalt, weil man sie nicht haben will?

Die Bundesregierung hat nur deshalb keine Kenntnisse über die brutale Gewalt der Besatzungsmacht Marokko, weil es sie nicht haben will. In der Westsahara werden die Doppelstandards und das "Geschwätz" über die angeblich "wertgeleitete Außenpolitik" [18] von Baerbock auf den Punkt gebracht.

So machte auch Noam Chomsky, der bekannte emeritierte US-Professor und einer bekanntesten linken Intellektuellen aus den USA, in Bezug auf den Ukraine-Krieg auf das heuchlerische Vorgehen des Westens in anderen Regionen aufmerksam. Der Westen verurteile zwar "berechtigterweise Putins Annexionen" [19], heiße aber die "illegale Annexion der syrischen Golanhöhen und Groß-Jerusalems sowie Marokkos illegale Annexion der Westsahara" gut.

Gegenüber Telepolis erklärt deshalb auch die Obfrau der Linken Dagdelen:

Während man die Menschenrechte im Mund führt, sind es offenbar allein zynische Machtinteressen auf deren Altar man die Menschen in der Westsahara und das Schicksal der Flüchtlinge in Tindouf opfert, indem man sich nun einseitig auf die Seite des marokkanischen Königshauses stellt und so die bisherigen Positionen der Bundesregierung aufgibt.

Sevim Dagdelen

Was im Hintergrund der deutschen Außenpolitik auch in der Westsahara steht, sind keine angeblichen westliche Werte oder Menschenrechte.

Sowohl in den Antworten auf die Linken-Anfrage als auch in den Ausführungen von Baerbock nach ihrem Marokko Besuch wird deutlich, dass tatsächlich andere Punkte wichtig sind.

Unterschied zu Marokkos Position: "Nur in Nuancen" - Energiepolitik sticht alles

So kündigte die Außenministerin nach dem Rabat-Besuch eine intensivere Zusammenarbeit in Fragen der Energieversorgung und Sicherheitspolitik an.

Marokko sei ein "enorm wichtiger Partner" für Deutschland, sagte Baerbock. Zur Westsahara-Frage erklärte sie, dass es nur "in Nuancen Unterschiede" [20] zwischen Deutschland und Marokko gebe.

Dass es bei der Annäherung nicht nur um die illegale Ausbeutung reicher Fischgründe [21] und den reichen Phosphatvorkommen auch in der Westsahara geht, macht Baerbock deutlich.

Sie bestätigte die Einschätzung, über die Telepolis bereits berichtet hatte, dass "völkerrechtliche Prinzipien billig für grünen Wasserstoff verkauft werden" sollen [22]. Bei der Herstellung und dem Export von grünem Wasserstoff für die Energiewende wollen Rabat und Berlin nun stärker kooperieren.

Insgesamt kommt Dagdelen angesichts der Vorgänge zu der folgenden Einschätzung: Der Ampel geht es einzig darum, Energie über Marokko beziehen zu können, weil man sich mit dem Wirtschaftskrieg gegen Russland selbst in eine prekäre Lage gebracht hat und keiner in der Bundesregierung offensichtlich weiß, woher Deutschland in den nächsten Jahren genügend preiswerte Energie beziehen kann.

Das "Wasserstoff-Märchen"

Allerdings lässt auch sie dabei außer Acht, dass der Öffentlichkeit gern ein Wasserstoff-Märchen erzählt wird. Denn bestenfalls kann über Wasserstoff nur langfristig ein kleiner Teil der Energieversorgung unter enormem Kapitalaufwand abgedeckt werden. Es ist ein Märchen [23], dass Wasserstoff ein Ersatz für Erdgas sein könnte.

Längst ist klar, dass die Gas-Infrastruktur nicht für Wasserstoff-Transporte nutzbar ist. Sie müsste komplett neu aufgebaut werden. Die Technik ist dafür weder ausgereift oder erprobt [24].

Recht offen erklärt die Bundesregierung auf die letzte Frage von Dagdelen, dass man sich dafür einsetze, "Erzeugungspotential für grünen Wasserstoff" zu erschließen.

Aufgrund der Nähe Marokkos zu Europa, seiner fortschrittlichen Energiepolitik und der großen Potentiale in diesem Bereich strebt die Bundesregierung eine langfristige und verlässliche Zusammenarbeit an.

So verwundert es nicht, wenn Dagdelen erklärt:

Man muss leider von einer neokolonialen Wende in der deutschen Außenpolitik sprechen. Das Selbstbestimmungsrecht des sahaurischen Volkes wird mit Füßen getreten.

Die Linken-Abgeordnete resümiert deshalb:

Mit ihrem Kuschelkurs und einer privilegierten Politik gegenüber König Mohammed VI. verstetigt die Ampel-Regierung die illegale Besatzung Marokkos auf Kosten der Saharauis. Die Wende gegen völkerrechtliche Prinzipien kommt bei der Grünen-Außenministerin Baerbock nicht überraschend, die sich ja gerne auf das internationale Recht beruft, wenn es ihr nützt, aber jetzt die Bevölkerung in der Westsahara in den Abgrund stürzt.

Es ist skandalös, wie die Bundesregierung das Selbstbestimmungsrecht des sahraurischen Volkes mit Füßen tritt, indem sie sich nun einseitig auf die Seite des marokkanischen Königshauses stellt.

Sevim Dagdelen

Debattiert wird über das Thema ausgiebig am 2. und 3. Dezember in Berlin. Dort findet die 46. Europäische Konferenz zur Unterstützung und Solidarität mit dem saharauischen Volk (Eucoco [25]) statt. Es ist das wichtigste jährliche Treffen der Europäischen Solidaritätsbewegung mit den Saharauis, das seit 45 Jahren ununterbrochen in wechselnden Städten stattfindet.

Die Eucoco ist eine Plattform für Reflexion, Analyse und Koordinierung konkreter Maßnahmen, die dazu beitragen sollen, das Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit voranzubringen.


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https://www.heise.de/-7357844

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Trump-heizt-Kolonialkonflikt-um-Westsahara-an-4987831.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Westsahara-Marokko-im-Streit-mit-Deutschland-5073617.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Baerbock-Aussenministerium-knickt-vor-Marokko-Erpressung-ein-6328312.html
[4] https://minurso.unmissions.org/sites/default/files/res_26022021_minurso_e.pdf
[5] https://www.heise.de/tp/features/Westsahara-Marokko-provoziert-Polisario-beendet-Waffenstillstand-4961173.html
[6] https://www.heise.de/tp/features/Ausweitung-der-russischen-Kampfzone-in-die-Sahara-6669640.html
[7] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/reise-marokko/2548272
[8] https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1993/725_725_725/de#art_1
[9] https://www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7B65BFCF9B-6D27-4E9C-8CD3-CF6E4FF96FF9%7D/MINURSO%20S2007%20210.pdf
[10] https://www.heise.de/tp/features/Algerien-stoppt-Gaslieferungen-Richtung-Spanien-6259606.html
[11] https://www.heise.de/tp/features/Ausnahmezustand-in-der-besetzten-Westsahara-3387549.html
[12] https://www.heise.de/tp/features/Spaniens-Regierung-wegen-Melilla-Massaker-unter-Druck-7336807.html
[13] https://www.heise.de/tp/features/Massaker-von-Melilla-Viele-Tote-an-spanischer-EU-Aussengrenze-7154221.html
[14] https://www.amnesty.org/en/documents/mde29/5488/2022/en/
[15] https://www.hrw.org/middle-east/north-africa/morocco/western-sahara
[16] https://www.heise.de/tp/news/Empoerung-in-der-Westsahara-2005198.html
[17] https://www.hrw.org/news/2022/11/08/western-sahara-long-term-prisoners-await-justice
[18] https://www.heise.de/tp/features/Aussenministerin-Baerbock-Abkehr-von-Julian-Assange-6455112.html
[19] https://www.heise.de/tp/features/Chomsky-zu-Irak-Krieg-Warum-die-USA-mit-Voelkerrechtsbruechen-davonkommen-7315178.html?seite=all
[20] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/baerbock-marokko-westsahara-100.html
[21] https://www.heise.de/tp/features/Marokko-und-EU-wegen-Kolonialismus-in-der-Westsahara-abgestraft-6206014.html
[22] https://www.heise.de/tp/features/Voelkerrechtliche-Prinzipien-werden-billig-fuer-gruenen-Wasserstoff-verkauft-7128221.html
[23] https://www.heise.de/tp/features/Warum-Wasserstoff-als-Erdgas-Ersatz-ein-Maerchen-ist-7283078.html
[24] https://www.heise.de/tp/features/Niederlage-fuer-Scholz-Aus-fuer-Pyrenaeen-Pipeline-7316707.html
[25] https://eucocoberlin.fpolisario.eu/de/46-eucoco/