Wie der staatliche Kampf gegen Desinformation ausufert

Themen des Tages: Wer dem "ideologischen Ökosystem" Putins zugeordnet wird, warum, und wer davon profitiert. Wer der dritte Tote auf der Krim-Brücke ist. Und was der nahende Winter politisch bedeutet.

Liebe Leserinnen und Leser,

1. Der staatliche Kampf gegen Desinformation wird zunehmend zu einem Business und bedroht durch seine Willkür eine freie Berichterstattung.

2. Welche politischen und moralischen Fragen die Explosion auf der Krim-Brücke aufwirft.

3. Heute bei Telepolis: die Wahl in Brasilien, der Gaspreisdeckel und die Düngemittelkrise.

Doch der Reihe nach.

Kampf gegen Desinformation: Der Staat als Watchdog

Im Schatten der russischen Invasion in der Ukraine und des Konfliktes zwischen Moskau und der Nato nehmen staatliche Akteure auf beiden Seiten zunehmend Einfluss auf die Berichterstattung. Und nicht nur das: Auch die Meinungskorridore werden von staatlicher Seite im eigenen Sinne geformt.

Viel ist in diesem Zusammenhang – und das zurecht – von der immer schlechteren Lage der Pressefreiheit in Russland und von russischer Propaganda die Rede. Weit weniger Aufmerksamkeit widmen deutsche Medien der Lage im eigenen Land und in der EU. Dabei laufen nach Telepolis-Recherchen gerade in Brüssel Maßnahmen zur Beeinflussung von Medien heißt. Der russische Krieg gegen die Ukraine wirkt dabei als Katalysator.

Der Watchblog Nachdenkseiten hatte Ende September von einem interministeriellen Papier über Programme der Bundesregierung berichtet. Unter dem Titel "Laufende Aktivitäten der Ressorts und Behörden gegen Desinformation im Zusammenhang mit RUS Krieg gegen UKR" würden auf zehn Seiten "minutiös die entsprechenden Aktivitäten der Bundesministerien und untergeordneten Behörden" gelistet. Diese staatlichen Maßnahmen ordnen auch Medienberichterstattung mitunter als Teil einer "hybriden Bedrohung" ein.

In Folge werden, wie die Nachdenkseiten schreiben, zahlreiche Maßnahmen aufgeschlüsselt. Diese reichen von der konzertierten Verbreitung bestimmter "Faktenchecks", etwa von Correctiv und der ARD, durch Regierungsstellen bis hin zur gezielten Zusammenarbeit mit führenden Medien wie dem Nachrichtenmagazin Spiegel oder der Berliner Tageszeitung Tagesspiegel.

In Brüssel ist für solche Strategien ein relativ junges Gremium des EU-Parlaments mit dem etwas sperrigen Titel "Sonderausschuss zu Einflussnahme aus dem Ausland auf alle demokratischen Prozesse in der Europäischen Union, einschließlich Desinformation" mitverantwortlich. Dort waren nach Telepolis-Recherchen vor rund zwei Wochen Michael Sheldon, Autor des Online-Portals Bellingcat, und Ross Burley, Mitbegründer des britischen Centre for Information Resilience, zu Gast.

Beide Organisationen widmen sich dem Thema Desinformation, zumindest Bellingcat hat Gelder von der US-Regierung erhalten und selbst schon Desinformation verbreitet – allerdings im Sinne westlicher, staatlicher Akteure. Gleiches gilt übrigens auf nationaler Ebene für staatliche Faktenchecks.

Bei der Sitzung des Brüsseler Sonderausschusses war man sich jedenfalls weitgehend einig: "Die aktuellen Maßnahmen gegen die Verbreitung desinformativer Inhalte zentraler Plattformen und Messengerdienste reichten ebenso wenig aus, wie die bereitgestellten Mittel für die Aufdeckung und Bekämpfung solcher Inhalte". Will heißen: Bellingcat und das Centre for Information Resilience warben vor allem – für sich selbst.

Die Sitzung des Desinformationsausschusses war darüber hinaus aus zwei Gründen aufschlussreich. Zum einen gestand der Bellingcat-Vertreter einem Telepolis vorliegenden Gesprächsprotokoll zufolge ein, "dass es in den meisten Fällen äußerst schwierig (sei), den tatsächlichen Urheber desinformativer Inhalte und Kampagnen zu identifizieren". Allerdings entstammten die Inhalte "zugunsten russischer Narrative demselben gedanklichen Ökosystem".

Zum anderen wird das Thema Desinformation zunehmend als Teil der politischen Auseinandersetzungen in den eigenen Ländern wahrgenommen. Der Europäische Auswärtige Dienst riet daher, das Problem müsse "in seinem vollen Umfang erkannt werden". Auch müsse "politisch und regulatorisch" vorgegangen werden. Als Zwischenbilanz in vier Punkten kann also festgehalten werden:

  1. Es ist mit Blick auf den Ukraine-Krieg nicht immer klar, wer für Desinformation verantwortlich ist, sie wird aber pauschal einem "russischen Narrativ" und "gedanklichen Ökosystem" untergeordnet.
  2. Es entstehen zunehmend "Faktencheck"-Seiten und Organisationen, die – von staatlicher Seite finanziert – in Berichterstattung und Informationsflüsse eingreifen (und dabei selbst mitunter Desinformation betreiben).
  3. EU und Mitgliedsstaaten streben über solche Strukturen und womöglich andere Wege selbst "politische und regulatorische" Eingriffe in Berichterstattung und Informationsflüsse an.
  4. Diese Eingriffe könnten bei Auseinandersetzungen zwischen politischen Akteuren auf EU-weiter und nationaler Ebene als legitim erachtet werden und damit den Prozess der politischen Meinungsbildung formen.

Keine guten Zeiten für die freie und unabhängige Presse also. Und die offene Gesellschaft.

Anschlag auf Krim-Brücke: Feiern wir hier gerade wirklich einen Selbstmordanschlag?

Der Anschlag auf die Krim-Brücke wirft, wie vieles im aktuellen Kriegsgeschehen, Fragen auf. Das betrifft nicht nur die Hintergründe dieses Angriffs auf eine zivile Infrastruktur, sondern auch die mediale Darstellung. Wie Telepolis-Autor Roland Bathon berichtete, detonierte die Bombe an Bord eines Lkws, der die so sogenannte Kertsch-Brücke von russischer Seite aus befahren hatte. Die Aufnahmen einer Überwachungskamera, die inzwischen im Netz kursieren, zeigen offenbar, wie im Moment der Detonation ein Pkw neben dem Transporter fuhr.

Nach aktuellen Angaben der russischen Behörden wurden zwei Tote geborgen: ein Mann und eine Frau, die im Pkw saßen. Insgesamt ist von drei Toten die Rede. Ist der dritte Tote also der Lkw-Fahrer? Diese Frage wird nicht nur in ARD-Berichten ausgeblendet. Auch anderorts liest man die verbrämende Formulierung, es habe sich um eine "Lkw-Bombe" gehandelt.

Man könnte nach aktueller Faktenlage auch von einem "mutmaßlichen Selbstmordanschlag" schreiben. Es wäre wohl die erste Attacke dieser Art, die im Westen gefeiert wird.

Der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine, Oleksij Danilow, postete einen Videozusammenschnitt der brennenden Brücke und von Marilyn Monroe mit ihrem berühmten Song "Happy Birthday, Mr. President". Eine Anspielung auf Putins 70. Geburtstag am Freitag. Auch im Netz wurde der Anschlag gefeiert, etwa hier mit knappem Kommentar: "Nice."

Putin hat indes die Ukraine für die Explosion auf der Krim-Brücke verantwortlich gemacht. "Es gibt keinen Zweifel. Dies ist ein terroristischer Akt, der darauf abzielt, eine wichtige zivile Infrastruktur zu zerstören", sagt er in einem Video, das über den Messengerdienst Telegram verbreitet wurde.

Nach Ansicht des Kremls wurde der Angriff vom ukrainischen Geheimdienst angeordnet, geplant und ausgeführt. Zunächst war unklar gewesen, ob es sich nicht auch um einen Unfall gehandelt haben könnte.

Die ironische Reaktion aus der Ukraine spricht jedoch dagegen. Zwar haben ukrainische Stellen bislang keine Verantwortung für die Explosion übernommen. Doch auch bei Angriffen auf der Halbinsel Krim hatte Kiew derart reagiert, um später durch die eigene Verantwortung einzuräumen.

Nahender Winter sorgt für wachsende Nervosität in Europa

Heute geht es bei Telepolis um die wachsende Nervosität in Europa angesichts der sinkenden Temperaturen. Vor allem in Tschechien nehmend die Proteste zu, aber auch zwischen den EU-Mitgliedsstaaten kommt es zu wachsenden Spannungen, wie unser Autor Bernd Müller berichtet:

Die Heizsaison hat begonnen und in manchen Ländern der Europäischen Union nimmt die Nervosität zu. In Prag gingen am Samstag mehrere Tausend Menschen auf die Straße, und sie forderten staatliche Hilfen gegen Inflation und hohe Energiepreise.

Organisiert wurden die Proteste in der tschechischen Hauptstadt von den Gewerkschaften. "Wir sind nicht gekommen, weil wir nichts zu tun haben, sondern weil wir Angst um unsere Zukunft haben", sagte der Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbandes CMKOS, Josef Stredula, laut Deutscher Presse-Agentur.

Auswege aus der Düngemittelkrise

Die Gas- und Erdölkrise führt, wie Telepolis-Autorin Susanne Aigner schreibt, zunehmend auch zu einer Düngemittelknappheit. Erdgas werde schließlich sowohl als Rohstoff als auch als Energiequelle im Produktionsprozess gebraucht: Das Gas liefere Wasserstoff, eine wichtige Zutat für die Gewinnung von Ammoniak:

Allein die Herstellung von Ammoniak soll rund zwei Prozent der weltweiten Energie verbrauchen. Aufgrund steigender Herstellungskosten stellen nun immer mehr große Düngemittelunternehmen ihre Produktion aus Kostengründen ein.

Der Ausweg wie in der Energiewende ist auch hier – die Agrarwende.

Was die Stichwahl in Brasilien bedeutet

Als "sehr bedeutsam für die Welt" bezeichnet der US-Globalisierungskritiker Noam Chomsky die Stichwahl in Brasilien. Das liege vor allem am Schicksal des Amazonas.

Der größte Teil des Amazonasgebiets liegt in Brasilien. Von den beiden Kandidaten ist einer, der derzeitige Präsident Bolsonaro, grundsätzlich für die Zerstörung des Amazonasgebiets. In den Jahren seiner Amtszeit hat er den illegalen Holzeinschlag, den Bergbau, das Agrobusiness und die Besteuerung der indigenen Reservate stark beschleunigt.

Noam Chomsky

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