Wie urdemokratisch ist die Urabstimmung der SPD?

Seite 3: Lebenszeit vertrödelt mit Zettel kleben und Fähnchen schwenken

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Viele Jahre Zettelchen verteilen, Plakate kleben, den Schriftführer oder Kassenwart geben, Sitzungsprotokolle schreiben, Informationsstände aufbauen und betreuen, Fähnchen schwenken, Luftballons aufblasen und Kugelschreiber verschenken, Schirme am Informationsstand aufspannen oder Mitgliedsbeiträge kassieren sind eine geistlose, gleichwohl aber prägende und vor allem so gut wie unvermeidliche Vorbereitung für die politische Arbeit.

Die Jahre des Herumsitzens im Ortsverein sind vergeudete Lebensjahre. Ein künftiger Politiker lernt dabei nichts, was ihm später nützlich sein könnte - außer vielleicht, wie man einen politischen Gegner im Ortsverein abschießt.

Derart festgeschriebene Karrieren schrecken Leute ab, die sich für politische Zusammenhänge interessieren und sich auch gern politisch engagieren, aber beispielsweise nicht in der Kommunalpolitik. Und wer sich ernsthaft für politische Themen interessiert, möchte dennoch nicht gleich in die Hahnenkämpfe örtlicher Parteigremien hineingezogen werden und sich auch nicht unbedingt durch die in allen Parteien vorherrschende Kameraderie und die parteipolitischen Machtkalküle vereinnahmen lassen.

Da wird viel ein- und noch mehr wieder ausgetreten. Die Fluktuation ist in allen politischen Parteien extrem hoch. Viele der neuen Mitglieder treten entsetzt wieder aus, nachdem sie erst einmal erlebt haben, wie primitiv es in Ortsvereinen zugeht. Offensichtlich erschreckt dieser Einblick viele so sehr, dass sie noch schneller die Flucht ergreifen, als sie die Mitgliedschaft erworben haben.

Der Exodus aus den Parteien hält jedenfalls ungebrochen an. Und da sich an den Bedingungen, die ihn herbeigeführt haben, nichts ändert, wird er sich noch viele Jahre fortsetzen. Die Mitgliederzahlen der Parteien tendieren auf jeden Fall mit hoher Geschwindigkeit gegen Null.

Mitte der 1970er Jahre hatte allein die SPD noch 1,022 Millionen Mitglieder. CDU und CSU kamen zusammen auf noch einmal so viele. Seitdem geht es mit den Volksparteien rapide bergab. Die Mitgliederzahl der SPD schrumpfte seither rasant und dümpelte Ende 2017 bei 440.000. Es geht weiter bergab. Daran ändern auch vorübergehende Zuwächse wie die der SPD als Folge der NoGroKo-Kampagne der Jungsozialisten nichts.

Das Heer der stillen Karteileichen

Wenn man bedenkt, dass selbst von den wenigen Mitgliedern eine nicht verlässlich bezifferbare Zahl reine Karteileichen sind, erlaubt das nur die Feststellung: Das politische Establishment der SPD hat den Status einer Mitgliederpartei und damit den besonderen Nimbus der einstigen Arbeiterpartei über Jahrzehnte hinweg gnadenlos versemmelt.

Anders als die bürgerlichen Parteien, in denen sich eher das gehobene Bürgertum locker zusammenschloss, war die alte SPD eine straff organisierte Arbeiterpartei, deren Mitglieder die Partei zum größten Teil auch finanzierten. Heute ist sie nur eine von mehreren bürgerlichen Allerweltsparteien.

Wie dramatisch die innere Auszehrung ist, zeigt die Situation der SPD: Selbst nach dem 2. Weltkrieg und den Jahren des Dritten Reichs, in denen sie ja verboten war, hatte die Partei 1949 noch 750.000 Mitglieder. Die Zahl wuchs bis 1976 sogar auf über eine Million und sank von da an ungebremst. Allein in den 20 Jahren von 1995 bis 2015 verlor die SPD rund 372.000 Mitglieder. Und ein Ende ist nicht in Sicht.

Zählt man das zusammen, so ergibt sich: Alle Parteien bringen es zusammen auf gerade mal rund um eine Million Mitglieder. Bei einer Bevölkerung von etwa 80 Millionen ist das ziemlich mickrig - erst recht, wenn man bedenkt, dass längst nicht alle Personen, die formal als Mitglieder geführt werden, auch tatsächlich in ihrer Partei aktiv sind. Im Gegenteil: Die überwiegende Mehrzahl ist passiv und nimmt am Parteileben selten, unregelmäßig oder überhaupt nicht teil.

Nach verschiedenen Untersuchungen beteiligen sich rund 40 Prozent aller Parteimitglieder niemals an irgendwelchen Parteiaktivitäten. Doch selbst unter den aktiven Mitgliedern wendet etwa die Hälfte weniger als fünf Stunden im Monat für die Parteiarbeit auf.

Die Organisationswirklichkeit der Parteien teilt sich dabei in zwei voneinander klar abgrenzbare Sphären: Eine Gruppe von Mitgliedern beteiligt sich in erster Linie im Rahmen ämterorientierter Aktivität, bringt sich in den Gremien ein und kandidiert für öffentliche Mandate und parteiinterne Ämter. Andere Mitglieder werden hingegen überwiegend durch gesellige Veranstaltungsformen angesprochen und sind nicht bereit, darüber hinaus Verantwortung zu übernehmen.

Auch die meisten "Aktiven" unter den SPD-Parteimitgliedern engagieren sich nicht politisch. Die Partei ist für die meisten eher so eine Art geselliger Verein. Sie besuchen Weihnachtsfeiern, Frühlingsfeste, Grillabende oder Jubiläumsveranstaltungen. Die Masse der Mitglieder (87 bzw. 77 Prozent) hat in den letzten fünf Jahren Versammlungen bzw. Feste und gesellige Veranstaltungen besucht. Beide Formen sind die wichtigsten Kanäle des Mitgliederengagements.

Auch die zusätzliche Geldspende ist für Mitglieder eine attraktive Beteiligungsform: Zwei Drittel (69 Prozent) haben ihre Partei in diesem Zeitraum über die gezahlten Mitgliedsbeiträge hinaus finanziell unterstützt.

Alle anderen Formen der Mitarbeit folgen mit deutlichem Abstand. Einen mittleren Zuspruch genießen Aktivitäten, bei denen die Mitglieder ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, wie das Kleben von Plakaten und die Verteilung von Flugblättern (56 Prozent) oder aber die Organisation der Parteiarbeit (55 Prozent).

Die Beteiligungsformen mit dem engsten Bezug zu politischen Entscheidungsprozessen schneiden wie in früheren Studien am schlechtesten ab: Für ein Amt in der Partei kandidierten in einem Zeitraum von fünf Jahren lediglich 42 Prozent, und nur noch jedes dritte Parteimitglied (33 Prozent) strebte in dieser Zeit ein öffentliches Amt an.

Fasst man die Ergebnisse einer Vielzahl von Untersuchungen zusammen, so lässt sich sagen, dass die Abgeordneten im Bundestag und in den Landtagen gerade mal so um die 300.000 bis maximal 500.000 Aktivisten der politischen Parteien repräsentieren. Auf jeden Fall also eine verschwindend kleine Minderheit. Sonderlich repräsentativ ist das nicht und unter allen Umständen meilenweit von jedem demokratischen Ideal entfernt.

Die Demokratietheorie versteht die politischen Parteien gern als das Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen der Politik und der Bevölkerung. In den Ortsvereinen nimmt der Staat sozusagen den Kontakt zu den Menschen "draußen im Lande" auf und rekrutiert seinen politischen Nachwuchs. Wenn das so sein sollte, hängt der Staat bestenfalls an einem dünnen Faden, der jederzeit in Gefahr ist zu zerreißen, zumal er immer dünner wird.

Das Monopol der Parteien bei der Rekrutierung der Politiker aus der Mitte ihrer Mitglieder wirft Fragen danach auf, wie die Kandidaten parteiintern überhaupt ausgewählt werden. Da die meisten Parteimitglieder inaktiv sind, entscheidet tatsächlich in jeder Partei eine kleine Gruppe von Funktionären und Aktivisten über alle Kandidaturen - wie auch jetzt im Jahr 2018 über den jüngsten Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU.

Die Basis derjenigen, die de facto über die Mitglieder des Parlaments und alle anderen Amtsträger bestimmen, ist winzig. Es sind fast ohne Ausnahme Funktionäre, die entweder selbst Mitglied der politischen Kaste sind, danach streben, ihr künftig anzugehören oder aber Leute, die ihre aktive Zeit bereits hinter sich haben und in Parteisitzungen herumlungern, weil sie sich nicht allein betrinken mögen.

In ihren Parteien üben die Angehörigen der politischen Kaste starken Einfluss aus. Man kann sagen, dass die quantitativ kleine, aber sehr mächtige politische Kaste sich (parteispezifisch differenziert) gewissermaßen selbst reproduziert, und dass die "Macht der Parteien" im Wesentlichen von einer dünnen Schicht von Funktionären ausgeübt wird. Die 300.000 bis maximal 500.000 aktiven Parteimitglieder aller politischen Parteien "repräsentieren" das Millionenvolk der Bürger. Das läuft auf allerhöchstens ein Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung hinaus.

Es sind nur diese wenigen Leute, die Einfluss auf die Nominierung von Kandidaten für politische Wahlämter nehmen können. Und das Argument ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass dies eher eine Negativauslese ist.