Wie urdemokratisch ist die Urabstimmung der SPD?

Seite 5: Worüber eigentlich stimmten die Genossen ab?

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Über ein programmatisches Riesenpaket von 134 eng bedruckten DIN-A4-Seiten. Vielen Themen wie der Pkw-Maut hätten sie einzeln niemals zugestimmt. Doch über die einzelnen Themen durften sie ja gar nicht entscheiden. Im Vorfeld gab es nur eine von der Parteispitze geführte PR-Diskussion, in der die Pro-Position verteidigt wurde. Eine demokratische Diskussion fand gar nicht statt, nur eine gelenkte Diskussion; denn es war ja nichts als ein Akt der gelenkten Demokratie.

Wer gegen den Koalitionsvertrag oder einzelne seiner Positionen Bedenken äußern wollte, bekam kein Forum. Die Parteiführung allein führte die Diskussion. So ähnlich wurden "Diskussionen" mit den Genossen auch zu Zeiten des großen Führers Josef Stalin geführt. Nur mussten diejenigen, die auf der "falschen" Seite an der Diskussion teilnahmen, nicht gleich mit der Deportation nach Sibirien rechnen. Aber ansonsten hatte das Parteivolk nur die Wahl: Entweder seid ihr für das gesamte Paket oder dagegen. Etwas anderes gab es nicht.

Das war ein Vorgang wie der einer normalen Bundestagswahl und eben deshalb kein Element von direkter Demokratie, noch nicht einmal ein Spurenelement: Man wählt pauschal eine Partei - egal, was die hinterher entscheidet und ob man damit einverstanden ist - oder man lässt es sein. Friss' oder stirb'!

Nach demselben Muster wird auch der Mitgliederentscheid des Jahres 2018 ablaufen. Nur ist es diesmal ein Paket von sogar gleich 177 Druckseiten und noch mehr Einzelthemen, dem die SPD-Parteimitglieder pauschal zustimmen dürfen. Und natürlich sind darunter auch wieder sehr viele, denen sie nie und nimmer einzeln zustimmen würden. Aber das ist ja auch nicht der Sinn der Veranstaltung.

Die Genossen sollen den Entscheidungen der Parteiführung über Bausch und Bogen akklamieren. Sie sollen nicht wirklich eine Entscheidung treffen. Die Entscheidung, die sie in Wahrheit treffen sollen, geht nur darüber, wie unglaublich weise zuvor die Parteiführung verhandelt hat und über die grässlichen Folgen ihrer Entscheidung gegen die Koalition. Dann nämlich gäbe es Neuwahlen, und wie die ausgehen, mag sich kein Genosse wirklich ausmalen.

Wie viel anders läuft lebendige direkte Demokratie ab, wo die Wähler entscheiden, ob sie ein einzelnes konkretes Gesetz oder eine einzelne Verfassungsänderung akzeptieren oder eben auch nicht akzeptieren oder eine einzelne Gesetzesinitiative annehmen oder ablehnen? Nur eine konkrete, im Detail genau spezifizierte Entscheidung kann Gegenstand der direkten Demokratie sein. Nicht eine pauschale Ermächtigung.

Auch hier gewährt die SPD-Parteiführung ihren Mitgliedern großmütig das Recht, über die Entscheidung abzustimmen, die man in der Parteiführung längst getroffen hatte. Und da die Parteiführung sich dafür entschieden hatte, eine Koalition einzugehen, dank derer die SPD an der Bundesregierung beteiligt wurde, ist auch nicht damit zu rechnen, dass die SPD-Genossen sich dagegen aussprechen werden. Und die Parteiführung bekommt die Akklamation, die sie braucht, um sich anschließend lauthals rühmen zu können, sie habe wieder einmal "mehr Demokratie wagen" praktiziert. Tatsächlich hat sie nur ein lächerliches Schmierentheater inszeniert.

Es kommt sogar noch schlimmer; denn im Vorfeld der Abstimmung klopft die Parteiführung ihre Mitglieder mit dem Argument weich: Wenn ihr nicht der Führung zustimmt, dann ruiniert ihr die Partei und macht sie politikunfähig. Dann drohen Neuwahlen, und die SPD könnte noch weniger Stimmen bekommen als in der Bundestagswahl von 2017 und wäre auf Jahre hinaus von der Regierung ausgeschlossen, wenn nicht gar dem Untergang anheimgefallen. Auch das sollte man sich mit großer Achtsamkeit durch den Kopf gehen lassen: Da drohen angebliche Demokraten ihrem Parteivolk mit demokratischen Wahlen.

Die Abstimmung ist eine reine Alibiveranstaltung. Die Parteiführung hat im Vorfeld längst die Stimmung unter den Mitgliedern ausgelotet und weiß ziemlich genau, wie das Kasperletheater ausgehen wird. Sie stellt ihre Parteigenossen erpresserisch vor die Alternative: Entweder folgt ihr uns oder der Untergang kommt. Lebendige, gelebte Demokratie geht nun einmal von unten nach oben und nicht in umgekehrt. Von oben nach unten geht nur eine billige Scharade, die dem blöden Parteivolk in Form einer Demokratie-Pantomime vorgegaukelt wird.

Niemand hat das mit größerer Klarheit zum Ausdruck gebracht als der damalige Chef der Eurogruppe und heutige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, als er in einem seltenen Moment der Offenheit das blasierte Politikverständnis der Parlamentarier in repräsentativen Demokratien erläuterte: "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt." Die breite Bevölkerung oder gar der demokratische Souverän kommt in dem Kalkül noch nicht einmal am Rande vor.