Wie urdemokratisch ist die Urabstimmung der SPD?

Seite 4: Urwahlen als Akklamation für die Parteiführung

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Alle Versuche, den nachhaltigen Niedergang aufzuhalten, scheitern kläglich, weil die Bürger inzwischen auch nichts mehr mit den politischen Parteien zu tun haben wollen. Die Bevölkerung verweigert ihnen die Gefolgschaft. Sie hat erkannt, dass die Nachteile der politischen Betätigung in entwickelten Demokratien den Aufwand nicht wert sind. Es besteht ein krasses Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag. Man kann seine Zeit einfach sinnvoller verbringen, als auf Parteiversammlungen herumzusitzen.

Seit einigen Jahren meinen die Parteiführungen, sie könnten den Niedergang ihrer Parteien noch mit alibistischen Scheinaktionen in direkter Demokratie aufhalten. Das endet in aller Regel in einem Karneval der Lächerlichkeit, weil die Parteiführungen nicht das geringste Interesse daran haben, wirklich demokratische Willensbildung in die politische Welt zu setzen. Was sie brauchen, ist etwas, das möglichst demokratisch aussieht, ansonsten aber den Gang der Dinge möglichst so belässt, wie er schon immer war.

So startete die SPD 2011 im thüringischen Landkreis Gotha einen Feldversuch mit Bürgerbeteiligung. Und der ging so: Alle Kandidaten für politische Ämter sollten durch Wahlen bestimmt werden, an denen sich auch Nichtmitglieder der Partei beteiligen durften. Die Menschen konnten vier Monate lang entscheiden, wer für die SPD als "Bürgerkandidat" bei der Landratswahl im Frühjahr 2012 antreten sollte. Das Ergebnis war niederschmetternd: Der "Sieger" bekam 14 von 18 abgegebenen Stimmen der insgesamt 120.000 Wahlberechtigten. Der "Feldversuch" war also eine einzige Blamage.

Die Parteien können noch so eindrucksvolle Verrenkungen machen: Die Leute gucken noch nicht mal richtig hin. Die Bevölkerung interessiert sich nicht länger dafür, wie die Kandidatinnen und Kandidaten der politischen Parteien aufgestellt werden. Sie trauen den Parteien sowieso nicht mehr. Und die von den Parteiführungen von oben verordnete "Urdemokratie" stellt noch nicht einmal eine ordentliche Karikatur von Demokratie dar. Eher schon eine Verhohnepipelung der Wähler.

Direkte Demokratie bedeutet nämlich überall dort, wo sie funktioniert, dass die Bürger an politischen Sachentscheidungen mitwirken und nicht über irgendwelche Personalien befinden. Einfach gesagt, geht es ja bei Personalentscheidungen im Wesentlichen darum, ob die Wähler den einen oder anderen Kandidaten sympathisch finden, ob sie ihn "mögen". Das ist politisch einigermaßen belanglos, weil bei der Entscheidung auch persönliche Eigenschaften des Kandidaten wie Aussehen, Ausstrahlung, nettes Lächeln, sympathisches Gesicht, Image et cetera eine Rolle spielen. Genau das ist der Grund, weshalb die SPD bei ihren Versuchen in "Urdemokratie" die Bürger immer nur bei Personalentscheidungen befragt.

Lächerlich sind auch die neuerdings vieldiskutierten Versuche, die Parteimitglieder zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung zu mobilisieren.

Man muss nur richtig rechnen

2011 wurden in Baden-Württemberg die SPD-Mitglieder zum Koalitionsvertrag mit den Grünen befragt. Und immer wieder passiert das gleiche: Fast 25.000 Mitglieder gaben erst gar nicht ihre Stimme ab, 14.067 taten es, und von denen waren 12.795 dafür. Damit beteiligten sich an der überwiegend per Brief durchgeführten Befragung gerade mal 37 Prozent der SPD-Mitglieder im Land. 63 Prozent beteiligten sich nicht. Und der damalige SPD-Vorsitzende Niels Schmid vermeldete stolz: "Das sind rund 92 Prozent Zustimmung für den Koalitionsvertrag."

Für die Parteiführungen sind diese Persiflagen auf richtige Wahlen ein nützliches Instrument. Sie lassen sich nach Belieben instrumentalisieren. Es bedarf nur einfacher Rechenkunststücke, und schon kommt das Richtige dabei heraus. Erich Honecker hat auch so ähnlich gerechnet.

Man erkennt mit einem Schlag: Selbst erz- und urdemokratisch erscheinende Wahlen und Abstimmungen sind nichts weiter als plump irreführende Techniken zur Besetzung von Führungspositionen in den Händen der politischen Machtelite. Sie haben eine lediglich akklamatorische Funktion und dienen ausschließlich dazu, längst getroffenen Entscheidungen im Nachhinein auch noch den Segen der Mitglieder zu verleihen und ihnen ein demokratisches Mäntelchen umzuhängen. Aber mit demokratischer Willensbildung haben sie in Wahrheit nicht das Geringste zu tun. In den Händen der innerparteilichen Seilschaften sind selbst demokratische Formen der Willensbildung nichts als Instrumente der Manipulation.

Überdeutlich wurde das bei der bombastisch gefeierten "Urabstimmung" der SPD-Mitglieder über den Vertrag von 2013 zur großen Koalition. Da musste man sich wenigstens nicht mehr die Beteiligungszahlen schönrechnen. Die waren nämlich tatsächlich eindrucksvoll: Die Beteiligung betrug etwa 78 Prozent. 75,96 Prozent der gültigen Stimmen waren für den Koalitionsvertrag.