Aufrufe zum Aufstand wegen "Souveränitätsverlust" durch Finanzpolitik

Seite 8: Ein Drogenproblem besonderer Art

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Europa hat keinen Widerstand verdient. Auch die angesprochenen Defizite sind durch "Mitmachen" zu beseitigen. Aufrufe zum Widerstand können wie Zunder auf die immer größer werdenden Misthaufen nationalstaatlicher Eigensucht wirken. Dann brennt es.

Kerber und seine gelehrten Kollegen werden daran natürlich nicht schuld gewesen sein. Sie habe ja nur - wie die Rating-Agenturen vor der Finanzkrise - ihre Meinung gesagt. Und das darf man ja noch in einem demokratischen System, dem man allerdings doch ein bisschen Widerstand entgegensetzen will. Kerber und alle anderen potentiellen Widerstandskämpfer sollten sich vielleicht vor dem Beginn ihres Einsatzes aber noch einmal anschauen, was der immer wieder zitierte Carl Schmitt über den "ewigen Zusammenhang von Schutz und Gehorsam"16 gedacht und geschrieben hat.

Jenseits derartiger hochmögender verfassungsrechtlicher und politisierender Überlegungen hat die Welt sich unterdessen vielleicht in Wahrheit "nur" ein Drogenproblem besonderer Art eingehandelt. Dabei geht es weder um Alkohol noch um Kokain. Die Droge heißt: Geld. Weltweit spritzen Zentralbanken immer mehr von dieser Droge in den Wirtschaftskreislauf. Die "Erlösung" in Gestalt von Wachstum und Inflation bleibt jedoch bis jetzt aus. Die übliche Reaktion: "More of the same."

Das Ganze wird allmählich absurd. Als in der ersten Septemberhälfte 2015 positive Nachrichten aus Washington an die Börsen drangen (Verringerung der Arbeitslosenquote), brachen gleichwohl erst einmal die Kurse an der Wall Street zusammen, dann in Europa, befürchteten die Börsianer doch, dass die Notenbank angesichts einer erstarkenden Wirtschaft den Zins ein wenig anhebt. Soweit hat uns die vor mehr als sieben Jahren ausgebrochene Finanzkrise also gebracht: Billiges Geld wird nicht mehr danach bewertet, ob es die Wirtschaft antreibt, sondern als "Ziel an sich".

Genau davon scheinen die Finanzmärkte inzwischen besessen zu sein. Aus einer Übergangshilfe ist eine Gewohnheit geworden. Der EZB-Präsident überlegte zu diesem Zeitpunkt auch schon laut, ob er den Hahn noch weiter öffnen sollte. Seinerzeit lagen die Zinsen bei fast null und es bestand - wie schon erwähnt - die Absicht, noch ein Jahr lang monatlich für 50 oder 60 Milliarden Euro Anleihen zu kaufen, mit anderen Worten: Geld zu drucken. Diesem Vorgehen sind nach seinen Angaben zwar keine Grenzen gesetzt.

Selbst in London wird aber inzwischen bezweifelt, ob all diese Billionen helfen werden. Die Firmen scheinen immer noch nicht genügend zu Investitionen motiviert zu sein. In den USA setzten Anleger sogar wieder auf die minderwertigen Hypotheken, die überhaupt erst die Finanzkrise auslösten. Fast schon genial ist dabei die veränderte Bezeichnung. Jetzt geht es nicht mehr um "subprime" (zweitklassig), sondern um "non-prime" (nicht erstklassig).

Wer jetzt erstaunt tut, hat etwas nicht verstanden. Die Investoren müssen quasi zu anderen Papieren greifen, wenn und weil sich die sicheren Anleihen nicht rentieren. So verwischen sich die Unterschiede zwischen guten und schlechten Hypotheken und zwischen kleinen und großen Risiken. In der Folge entstehen Blasen, nach deren Platzen einfach neues Geld gefordert wird.

Billiges Geld löst bei Staaten zumeist nur einen Reflex aus: Erhöhung der Schuldenaufnahme. Anhaltende niedrige Zinsen lassen die immer höher werdende Verschuldung jedoch kaum spüren. Sollten die Zentralbanker den Zinssatz erhöhen wollen, werden sie auf entschiedenen Widerstand treffen: Der Kreislauf des billigen Geldes wird immer stärker.

Ein Kommentator behauptet zudem, dass "Draghis Droge" die Reformen verhindert, die sie überhaupt erst ermöglichen sollte. An der anhaltenden Geldschwemme ändert sich indessen nichts. Die Welt muss offensichtlich "auf Entzug" gesetzt werden. Europa wird vielleicht doch noch irgendwann verstehen, dass der Kontinent mit der von der EZB verabreichten Gelddroge nur sediert wird. Statt unbegrenzten Zufluss zu versprechen, sollte Draghi in der Tat besser versuchen, zumindest den Mitgliedstaaten der Euro-Zone Grenzen zu setzen.17

Andernfalls müsste doch jemand der EZB Grenzen setzen, notfalls auch der deutsche Souverän, wenn die europäischen Völker dazu nicht in der Lage oder willens sein sollten. Es ist offen, ob die politische Führung Deutschlands über die hierzu erforderlichen charakterlichen und intellektuellen Qualitäten sowie die notwendige Entschlusskraft verfügt

Wie auch immer: Die Bundesbürger bleiben dabei in den geltenden verfassungsrechtlichen Rahmen eingespannt, der an diesem Punkt (Art. 20 Absatz 4 GG) übrigens Ausdruck einer langen und wechselhaften historischen Tradition ist: Das Widerstandsrecht gegen den pflichtvergessenen Herrscher war seit der Antike anerkannt und bis zum Absolutismus vielfach auch verbrieft.

In der Unabhängigkeitserklärung der USA und in Art. 2 der Französischen Déclaration von 1789 noch verankert, erlangte es im deutschen Konstitutionalismus lange Zeit kaum mehr Bedeutung. Die Herrschenden sollten an die Verfassungen gebunden werden, die man anderweitig schützen wollte. Selbst im demokratischen Verfassungsstaat sah man für dieses Recht keinen Raum. Nach den Erfahrungen mit dem System des Nationalsozialismus wurde in einigen Landesverfassungen aber nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht zum Widerstand eingeführt.

Der Parlamentarische Rat hatte sich bei der Erarbeitung des Grundgesetzes aber wegen der praktischen Schwierigkeiten zunächst gegen die Aufnahme eines Widerstandsrechts entschieden. Das hatte das Bundesverfassungsgericht einige Zeit später bei seinem "KPD-Urteil" aber nicht davon abgehalten, "ein Widerstandsrecht gegen ein evidentes Unrechtsregime ...in der grundgesetzlichen Ordnung anzuerkennen." Dennoch blieb die Überzeugung vorherrschend, dass das Widerstandsrecht einer Positivierung wesensmäßig weder bedürftig noch zugänglich sei.

Erst im Rahmen der späteren "Notstandsverfassung" wurde aufgrund eines politischen Tauschgeschäfts in Art. 20 Absatz 4 GG ein praktisch kaum relevantes Widerstandsrecht verankert. Die Bestimmung wird als ein Stück "symbolischer Verfassungsgesetzgebung" angesehen, mit der das Grundgesetz die Möglichkeit des Versagens seiner Vorkehrungen einräumt und die Mitglieder des souveränen Volkes auf sich selbst verweist.

Ungeachtet häufiger sprachlicher Verquickungen ist das Widerstandsrecht von den wichtigeren Formen des "zivilen Ungehorsams" zu trennen, die nicht mit Art. 20 Absatz 4 GG zu rechtfertigen sind. Es bleibt dabei: Nur Deutsche als Mitglieder des souveränen Staatsvolkes sind zum Widerstand berechtigt, wenn dessen verfassunggebende Entscheidung bedroht wird. Staatsorgane als solche können sich jedoch nicht auf das Widerstandsrecht stützen. Zur Widerstandssituation gehören vier Elemente.

  1. Die "Verfassungsmäßige Ordnung" in ihrer wesensmäßigen Gesamtexistenz (Art. 20 Absätze 1 -3 GG) als Schutzobjekt.
  2. Beseitigung dieser Ordnung, die (schon und erst) mit dem zumindest faktischen Ausfall eines der Kernelemente der Verfassungsordnung anzunehmen ist, wobei ein "Unternehmen" (Versuch) genügt.
  3. Unternehmender kann "jeder" sein, also alle natürlichen und von ihm (ihnen) etwa eingesetzte juristische Personen im In- und Ausland, unabhängig davon, ob sie unter Missbrauch ihnen übertragener oder angemaßter Organschaft und der damit verknüpften Staatsgewalt agieren oder nicht.
  4. Subsidiaritätsklausel (Unmöglichkeit anderer Abhilfe).

Unter Abhilfe ist die wirksame Vereitelung des Unternehmens durch Staatsorgane zu verstehen, die im Rahmen ihrer Befugnisse handeln. Damit wollte man einem Ausufern des Widerstandsrechts entgegengetreten. Die Möglichkeit zur Abhilfe hängt nicht von der Existenz ausreichender Rechtsbehelfe ab, sondern von der Fähigkeit und vom Willen der zur Abhilfe berufenen Staatsorgane. Das Risiko der Fehleinschätzung im Hinblick auf die (Un-)Möglichkeit anderweitiger Abhilfe geht zu Lasten des irrig Widerstand Leistenden.

Das Recht zum Widerstand hat grundsätzlich die Wirkung, andernfalls verbotenes Verhalten zu rechtfertigen. Es muss allerdings mit der Absicht ausgeübt werden, die Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung zu behindern. Der Widerstand darf sich aber nur gegen die Person richten, die die Verfassung zu beseitigen sucht, nicht gegen ihre Bemühungen schlechthin.

Art. 20 Absatz 4 GG enthält keine Grundlage für Übergriffe in Rechte Dritter. Die Freigabe aller (!) Rechte Unbeteiligter für den allenfalls durch Verhältnismäßigkeitserwägungen gehemmten Widerstandseingriffs jedes (!) Deutschen widerspricht der großen Behutsamkeit, mit der das GG die Grundrechtsbindung der Staatsgewalt zum Zwecke der Verteidigung der Verfassungsordnung und des Bestandes des Staates generell und selbst im Verteidigungsfall lockert. Danach mag die Effektivität des Widerstandsrechts problematisch sein. Doch gibt das GG selbst in der extremen Situation des Art. 20 Absatz 4 GG nicht die Grundrechte preis, deren Schutz doch seine "ratio essendi" ist.

Wegen seines Verfassungsrangs kann das vorbehaltlos garantierte Widerstandsrecht gesetzlich mangels begrenzender Verfassungsbestimmungen weder unmittelbar verkürzt noch behördlichen Einschränkungen unterworfen werden. Entsprechende Staatsakte können als Verletzung eines grundrechtsgleichen Rechts mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden, ohne dass der Widerstandsfall eingetreten sein müsste. Auch wegen Widerstandshandlungen verhängte Sanktionen, z. B. Strafurteile, wären als Verstöße gegen Art. 20 Absatz 4 GG unzulässig und notfalls mit der Verfassungsbeschwerde zu bekämpfen, was freilich bei Erfolg des Widerstands vielfach nicht nötig sein dürfte, andernfalls kaum Erfolg verspräche.18

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.