Aufrufe zum Aufstand wegen "Souveränitätsverlust" durch Finanzpolitik

Seite 9: Schlussbemerkungen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Tatsache, dass die Finanzpolitik in Deutschland und Europa im Kernbereich der bürgerlichen Gesellschaft Gedanken an "Widerstand" aufkommen lässt, ist, wie schon betont, sehr beunruhigend. Sie ist ein unmissverständliches Signal, dass in der Bundesrepublik Deutschland ein Erosionsprozess begonnen hat, der zu einer gefährlichen Fortsetzung des schon begonnenen Vertrauensverlusts führen könnte.

Bereits vor zwanzig Jahren konnte man schon aus den Kreisen der Bundesbank eine Stimme hören, wonach das Vertrauen der Finanzmärkte in die Politik heute (damals) für die Regierungen mindestens ebenso wichtig sei wie das Vertrauen der Wähler.19

Der heutige Vertrauensverlust der Wähler hat allerdings jetzt solch einen Umfang und eine derartige Qualität erlangt, dass dramatische Entwicklungen nicht mehr auszuschließen sind. Grundlegende Gewährleistungen der Demokratie (Wahlrecht) scheint man nicht mehr als überzeugend zu empfinden. Das sollte angesichts der seit längerem ständig und drastisch abnehmenden Wahlbeteiligung nicht allzu sehr verwundern. Es könnte sich früher oder später sogar die Frage stellen, ob die etwaige Ausübung des Widerstandsrechts nicht nur ein Zwischenstadium markiert, das dem letzten Schritt vorangeht:

Revolution

Es bleibt abzuwarten, ob sich dann maßgebliche Teile der akademischen und bürgerlichen jetzt noch widerstandsbereiten Elite auf den Barrikaden einfinden.

Bei diesem Gedanken mag man sich dann schon wieder beruhigen: Die deutsche Geschichte legt nahe, dass die Wartezeit insoweit recht lange werden dürfte. Und die Polizei in Deutschland kann sich ebenfalls entspannt zurücklehnen: Die Schar der vielleicht dereinst aufmarschierenden Widerstandskämpfer wird sie mühelos einkesseln können.

Damit wäre natürlich kein einziges der erwähnten Probleme gelöst - weder grundsätzlich noch im Detail. Das ist natürlich nicht den Polizeikräften zuzuschreiben, sondern der politischen Führung. Deren jeweilige Gestalten hat der deutsche -wählende und nichtwählende- Souverän immer verdient. Darin liegt der unaufhebbare "Sex Appeal" einer Demokratie. Immerhin gibt es auch Diskussionsbeiträge, die unter einer anderen Überschrift firmieren:

Evolution statt Revolution

Sie wollen sich von der vom französischen Wirtschaftsminister Macron im Sommer 2015 vorgestellten dramatischen Perspektive einer "Neugründung Europas" entfernen, räumen aber zunächst ein, dass eine Währungsunion stabiler und effizienter ist, wenn man sie als "Krone" auf einer politischen Union und insbesondere auf einer gemeinsamen Finanzpolitik aufsetzen kann. Gleichzeitig gibt es keinen Zweifel daran, dass ein einheitlicher europäischer Binnenmarkt der Ergänzung durch eine möglichst umfassende einheitliche Währung bedarf und der Flankenschutz durch das bestehende Vertragswerk rund um den Wachstums- und Stabilitätspakt Teil einer zweitbesten, aber praktikablen Lösung ist.

Es ist in der Tat nicht zu bestreiten, dass es zu Beginn der EWU Fehlentwicklungen gab: In einzelnen südlichen Mitgliedsstaaten hat das niedrigere Zinsniveau zu exzessiver privater und öffentlicher Verschuldung geführt. Auf die Warnsignale massiver Leistungs- und Budgetdefizite hat weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene rechtzeitig und angemessen reagiert.

Mittlerweile wurden aber in Europa eine ganz Reihe Instrumente entwickelt, die präventiv und im Hinblick auf Krisenintervention Fortschritte darstellen. Daraus ergibt sich nach dem Urteil manch eines Beobachters eine intakte Zukunftsperspektive für die EWU. Der Vorschlag massiver struktureller Änderungen des europäischen institutionellen Rahmens nach dem Motto "Wiedergeburt oder Tod" gilt hingegen als "extrem gefährlich". Gegenwärtig ist empirisch nicht belegbar, dass die Bürger Europas zu einer "Neugründung" bereit wären.

Die Wahrscheinlichkeit grundlegender Vertragsänderungen ist äußerst gering. Eine Debatte hierüber ist nicht nur politisch und psychologisch gefährlich, sondern auch sachlich nicht gerechtfertigt, habe sich die EWU doch bisher in vielfältiger Weise bewährt:

  • Ohne die EWU hätte sich die 2007 einsetzende Wirtschaftskrise für Europa wesentlich dramatischer ausgewirkt.
  • Auch Staaten außerhalb der EWU konnten als "Trittbrettfahrer" profitieren.
  • Nur die EZB, keine nationale Notenbank, konnte bei nicht funktionierenden Geld- und Kapitalmärkten und hoher Volatilität so rasch und massiv mit zusätzlicher Liquidität reagieren, da sie mögliche Liquiditätsabflüsse wesentlich weniger befürchten muss.
  • Die EZB konnte als im Weltmaßstab große Notenbank am Netzwerk der führenden Notenbanken mitwirken, mit dem potenziell "tödliche" Liquiditätsengpässe in bestimmten Währungen verhindert werden können.
  • Mit dem Rettungsschirm des ESM und der Schaffung einer einheitlichen Bankkaufsicht für den Euro-Raum und den Vorgängerinstrumenten waren Fortschritte bei der solidarischen Krisenbewältigung möglich.
  • Das "Juncker-Investitionsprogramm EFSI" bietet erfolgversprechende Aussichten.

Man darf sich keine Illusionen machen: Die hier vorgestellten Divergenzen betreffen mehr oder weniger technokratische Positionen. Auch und gerade für den Zusammenhalt Europas wird es entscheidend darauf ankommen, ob man sich über Sinn und Zweck des Unternehmens EU rechtzeitig im Rahmen eines "europäischen Narrativs" also einer emotionalen und emotionalisierenden "großen Erzählung" über seine Zusammengehörigkeit verständigen kann.20

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass dies leider oft erst nach Katastrophen oder nach einem Zusammenschluss gegen gemeinsame Feinde möglich wurde. Umso mehr erscheint die Hoffnung angebracht, dass sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl eher aus einem evolutionären und demokratischen Konzept des schrittweisen Fortschritts ergibt und die Auffassungen tatsächlicher und vermeintlicher Experten und Technoraten nicht mit "Schicksalsentscheidungen" verwechselt werden.21

Sollte sich der Souverän (und nicht nur einige missvergnügte Professoren) dennoch entschließen, auf die Barrikaden (oder vielleicht auch mal wieder zu den Wahlurnen) zu gehen, wird hoffentlich in dieser (und in anderen) Hinsicht(en) eine Klarheit entstehen, die Politik und Polizei anzuerkennen hätten.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.