Aufstand des EU-Parlaments gegen Atomkraft und Gas?

Seite 2: Ein absurder Energieplan, den die EU-Kommission durchs Parlament drücken möchte

Das Ganze ist natürlich durch den Ukraine-Krieg noch absurder geworden.

  1. Russland sollte einen guten Teil dieses Gases liefern, das man nun aber händeringend substituieren will. Dabei setzt man u.a. aber ausgerechnet auf das besonders dreckige Fracking-Gas aus den USA. Das gilt nach Angaben von Experten als noch klimaschädlicher als Kohle, da auch sehr viel sehr klimaschädliches Methan freigesetzt wird. Zudem muss zur Verflüssigung noch 20 Prozent des Schiefergases verbrannt werden, dass zudem aufwendig und klimaschädlich per Schiff geliefert werden muss. Klimafreundlich und nachhaltig sieht anders aus.
  2. Hinzu kommt, dass die EU-Kommission als Hauptargument für die Aufnahme von Gas und Atomkraft in die Taxonomie auch die "Versorgungssicherheit" anführt. Das Argument wurde aber "quasi zerschossen", da Russland nicht nur Gas, sondern auch den Brennstoff für Atomkraftwerke liefert. Nach Angaben von Euratom kommen rund 40 Prozent des in der EU verbrauchten Urans aus Russland und dem mit ihm befreundeten Kasachstan. Zudem sind viele Reaktoren russischer Bauart und dementsprechend auf Ersatzteile sowie Fachpersonal aus Russland angewiesen.

Die nötige Mehrheit zur Ablehnung der Kommissionspläne im Parlamentsplenum im Juli ist aber trotz all der Einwände nicht sicher, mit der die Parlamentarier die umstrittenen Pläne der Kommission noch kippen können. Außerdem hat die Kommission auch noch zu einem Trick gegriffen, um die Möglichkeiten der Ablehnung schwieriger zu machen. Die Pläne werden als sogenannter "delegierter Rechtsakt" vorangetrieben, der eigentlich nur dafür vorgesehen ist, geltendes Recht auszugestalten. So wurden die Hürden für eine Ablehnung der Pläne besonders hochgetrieben.

Normale EU-Gesetze müssen vom Ministerrat und vom Parlament bestätigt werden. Um das Inkrafttreten zu verhindern, bräuchte es einer "qualifizierten Mehrheit". Dafür müssen gleich zwei Kriterien erfüllt sein. Erstens müssen 55 Prozent der Mitgliedstaaten zustimmen, also 15 von 27 Ländern. Zweitens müssen die zustimmenden Länder 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der Union vertreten. Ein anderer Weg ist, dass die Gegner des Kommissionsplans im Europaparlament eine absolute Mehrheit von 353 Abgeordneten zusammenbringen, um den Rechtsakt zu kippen, sonst treten die neuen Taxonomieregeln Anfang 2023 automatisch in Kraft.

Österreich, wo die Ablehnungsfront besonders stark ist, hat aber schon Klage am Europäischen Gerichtshof (EuGH) angekündigt, falls die Taxonomie mit "nachhaltiger" Atomkraft doch noch das Parlament passiert. In Wien geht man davon aus, dass die Kommission ihre Kompetenzen überschritten hat. Die Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) hatte mit der Verschickung des Rechtsakts an die Mitgliedsländer der EU-Kommission vorgeworfen, "in einer Nacht- und Nebelaktion" zu versuchen, "Atomkraft und Gas grün zu waschen".

Auch Gewessler hält die Abstimmungsergebnisse vom Dienstag für "sehr erfreulich", denn "Nuklearenergie und Gas haben in der Taxonomie nichts verloren." Auch sie hofft nun darauf, dass das Plenum das Inkrafttreten verhindert. Wenn nicht, wird man in Wien klagen, zusammen mit Luxemburg und möglichen anderen EU-Mitgliedsstaaten. Auch dort geht man davon aus, dass über die Taxonomie Gelder blockiert würden, die man dringend zur Bekämpfung des Klimawandels und für den Ausbau erneuerbarer Energien brauche.

Beide Regierungen haben vereinbart, sofort zu reagieren, wenn der Rechtsakt in Kraft tritt. Viele Nichtregierungsorganisationen in Deutschland fordern von der neuen Bundesregierung, ebenfalls dagegen zu klagen. Das lehnt die Ampel-Koalition aber bisher ab. Dabei spielen das Verhältnis zu Frankreich und eigene politische Erwägungen eine Rolle.

Telepolis hatte schon im vergangenen Dezember berichtet, dass der gerade im Amt bestätigte französische Präsident Emmanuel Macron sich in Brüssel sehr erfolgreich für die Aufnahme der Atomkraft in die Taxonomie eingesetzt hatte. Denn Frankreich hält bekanntlich an seinen expansiven Atomplänen fest. Obwohl es dem Land bisher nicht einmal gelungen ist, auch nur einen neuen Meiler der sogenannten dritten Generation (EPR) in Flamanville ans Netz zu bringen, will man angeblich zum Klimaschutz etliche weitere EPR-Reaktoren bauen.

Dabei gehen Experten längst sogar davon aus, dass der EPR sogar über Konstruktionsfehler verfügt. Macron redet daher auch schon von der vierten Generation, von der es nicht einmal Prototypen gibt. Dahinter stecken eingestandenermaßen auch militärische Interessen. Strom wird derweil aber zusehends knapper im Atomstromland, da der EPR in Flamanville, anders als geplant, eben seit zehn Jahren keinen Strom liefert. Die Kosten für den Meiler haben sich von geplanten drei Milliarden Euro auf fast 20 Milliarden vervielfacht. Rechnet man dazu, was es den Kraftwerksbetreiber EDF gekostet hat, seit Jahren diesen Strom zum Teil sehr teuer zuzukaufen, versteht man, warum über die Taxonomie viel Geld in dieses Fass ohne Boden geleitet werden soll.

Dazu macht die altersschwache Atomkraftwerksflotte in Frankreich gerade schlapp, weshalb mit einer "Katastrophe bei der Stromversorgung" gerechnet wird. Nur noch die Hälfte der Meiler liefern Strom, etliche auch nur noch deshalb, weil sie noch nicht auf Risse untersucht worden sind. Der französische EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton hatte im Januar den riesigen Kapitalbedarf der angeblich so billigen Atomenergie beziffert:

Allein für die bestehenden Kernkraftwerke werden bis 2030 Investitionen in Höhe von 50 Milliarden Euro erforderlich sein. Und für die neue Generation werden 500 Milliarden benötigt.

Um dieses Geld aufzubringen, sei es "entscheidend", so Breton, dass die Atomkraft als nachhaltige Energieform eingestuft wird. Das erleichtert dann wohl auch die direkten Subventionen des hochverschuldeten Kraftwerksbetreibers EDF. Den Fast-Staatsbetrieb muss der Staat mit immer neuen Steuermilliarden retten und längst wird mit einer Nationalisierung der 16 Prozent der Aktien gerechnet, die sich noch in privater Hand befinden.

Macron hatte einst noch mit der Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) diesen Taxonomie-Deal eingefädelt. Merkel, die für den Atomausstieg in Deutschland steht, akzeptierte die Atompläne Frankreichs und damit gefährliche Atommeiler auch direkt an der Grenze. Macron musste dafür im Gegenzug der Forderung zustimmen, Gas als sogenannte Brückentechnologie einzustufen, da die Merkel-Regierung die Energiewende hin zu Erneuerbaren ausbremste und stattdessen auf Gas als Energieträger setze. Der abgekartete Handel zwischen Merkel und Macron wurde schließlich zum Jahreswechsel erwartungsgemäß in den Rechtsakt gegossen.