"Ausstieg aus der gesamten moralischen Geschichte"

Seite 3: Schuld sind die "neuen Nazis"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Josef Clemens, bis zu seiner Bischofsernennung 2003 neunzehn Jahre lang Privatsekretär des Präfekten Joseph Kardinal Ratzinger, wusste es schon vor Jahren. 2007 klagte er der Wiener Zeitung zufolge, die Kirchen-Ressorts in den Medien würden sich oft nur noch als "Amtskirchen-Kritik-Abteilung" verstehen. Man sei in Europa einem zunehmend feindlichen Umfeld ausgeliefert. Und so erscheint gegenwärtig vor allem im rechten katholischen Spektrum die Kirche als das eigentliche Opfer, das ans Kreuz geschlagen wird von einer frechen Justizministerin mit weltlichem Rechtsempfinden und einer gehässigen Journalistenmeute.

Kardinal Joseph Ratzinger (2005)

Verschwörung und Kampagne, dergleichen sahen Vatikankreise und Papst ja auch nach dem Skandal um Traditionalisten und den Holocaustleugner Williamson am Werk. Die katholische Sozialwissenschaftlerin Marianne Heimbach-Steins, bezeichnet solche Versuche, "den Feuermelder [Medien] zum Brandstifter zu machen", als demagogisch.

Den Gipfel der Verschwörungstheorien hat vorerst der Regensburger Bischof und Papstfreund Dr. Gerhard Müller geliefert. Er sprach von einer "Kirchen-Kampagne" und weckte Assoziationen zur Anti-Kirchen-Propaganda der Nazis unter Goebbels. Dazu gehört schon einiges an Dreistigkeit. Denn einige römisch-katholische Theologen haben im Faschismus ihre Kirche aufgrund der Gehorsamstrukturen wie einen natürlichen Partner des nationalsozialistischen Staates angepriesen. Genau diese Strukturen gehören zum Nährboden der Priestergewalt an Schwächeren und der kirchlichen Vertuschungsmechanismen.

Im Übrigen hat die Kirche auch jenen Klerikern, die aufgrund einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Sexualität unter Erwachsenen im KZ landeten, nicht beigestanden. Man sah sie wohl als gerecht bestraft an. Das katholische Adenauer-Regime setzte den Terror des Paragraphen 175 in Form von Zuchthausstrafen fort.

Schuld ist die "sexuelle Revolution"

Zuvor nun hatte schon der Augsburger Bischof Walter Mixa die böse Moderne als eigentlichen Übeltäter ausgemacht:

Sexueller Missbrauch von Minderjährigen ist leider ein verbreitetes gesellschaftliches Übel […]. Die so genannte sexuelle Revolution, in deren Verlauf von besonders progressiven Moralkritikern auch die Legalisierung von sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Minderjährigen gefordert wurde, ist daran sicher nicht unschuldig. Wir haben in den letzten Jahrzehnten gerade in den Medien eine zunehmende Sexualisierung der Öffentlichkeit erlebt, die auch abnorme sexuelle Neigungen eher fördert als begrenzt.

Walter Mixa

In diesem Votum werden die wahren Sachverhalte förmlich auf den Kopf gestellt. Pädosexuelle Schutzkreise wie in der reformpädagogischen Odenwald-Schule können hier durchaus nicht als Beleg angeführt werden. Denn im Raum der römisch-katholischen Kirche ist die sexualisierte Gewalt fast immer im Kontext einer Unterdrückung und Tabuisierung des Sexuellen angesiedelt, der Bewusstheit und Reifungsprozesse verhindert. Überall, wo in Institutionen mit Machtgefälle oder unvermeidlich intimen Vorgängen – wie z.B. im Gesundheitswesen – ein unverkrampftes, offenes Klima in den Teams herrscht, kann Grenzüberschreitungen vorgebeugt werden.

Der Arzt in Ausbildung, der bei der Sonographie einer attraktiven Frau ungewollt erregt wird, wird auf der Grundlage einer guten Ausbildung nebst Supervision und mit guter kollegialer Einbindung am besten davor bewahrt, eine Patientin zum Objekt zu machen. Angstfreiheit und offener zwischenmenschlicher Austausch sind die Heilmittel. An dieser Stelle, so werden wir noch sehen, trägt die "Ära Ratzinger" große Verantwortung dafür, dass es in den letzten Jahrzehnten keine wirkungsvolle Ursachenbekämpfung im Raum der Kirche gab.

Dort, wo der von rechten Bischöfen viel gescholtene Bund der katholischen Jugend (BDKJ) Jungen und Mädchen mit einer offenen Sexualpädagogik stärkt, gibt es auch weniger potentielle Opfer, die sich nicht zur Wehr setzen können. Kardinal Lehmann hat während des Kölner Papstbesuches 2005 in aller wünschenswerten Offenheit dargelegt, dass die Sexuallehre von oben bei den Jungen in der Kirche schon lange nicht mehr gehört wird und dies doch wohl Anlass gibt, die Inhalte der offiziellen Doktrin auf ihre Verstehbarkeit hin zu befragen. Diese kompetente Stellungnahme verpuffte im Nichts.