"Ausstieg aus der gesamten moralischen Geschichte"

Seite 9: Kultur des Stillschweigens und Wegsehens: Alle sind mitverantwortlich

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Strukturell genügt es nun keineswegs, nur auf den Priesterstand und das System der Kirchenleitung zu schauen. Im katholischen Milieu hat sich aufgrund des alten Kirchenideals der "societas perfecta" insgesamt eine Kultur des Übersehens, Wegsehens und Stillschweigens herausgebildet (der Autor dieses Beitrages bekennt, lange an dieser Kultur teilgenommen zu haben).

Das ewige Selbstschutz- und Selbstlobkollektiv fordert vom Einzelnen Korpsgeist ein (Hermann Häring), und da es um das "Haus voll Glorie" geht, ist gleichsam ein göttlich bindender Gehorsam gefragt. Selbst für Reformkatholiken bedeutet es keine leichte Aufgabe, sich aus dieser unseligen Mentalität zu befreien.

Man mag es vielleicht auch bewundern, wenn ganze Gemeinden eine Partnerschaft oder Vaterschaft ihres Pfarrers stillschweigend mittragen. Doch wenn solcher Rückhalt nicht – wie vorbildhaft in einer Hammelburger Initiative – mit einem kirchenpolitischen Engagement einhergeht, stützt er letztlich genau jene Strukturen, die aufgebrochen werden müssen.

Kirche sollte ein Raum für Eros und Zärtlichkeit sein, doch wer wollte gegenwärtig davon sprechen? Kirche sollte ein Raum sein, in dem Menschen als Weggefährten einander angstfrei die Erkenntnis eigener Schatten, Abgründe und Schönheiten ermöglichen. Doch wie sollte sie zu einer solchen Kultur des Reifens kommen, solange Angst, Heimlichkeit, ein Management der Schadensbegrenzung und – beim Thema Sexualität – platonische Überhöhungsfloskeln den Schauplatz beherrschen? Alle Getauften, so lehrt das letzte Konzil in Einklang mit Martin Luther, sind Priester. Es ist an der Zeit, dass sie jetzt anfangen, ihre Stimme laut vernehmlich zu erheben.

Auf Sand gebaut?

Der Primat des Selbsterhaltes im hierarchischen System der Klerikerkirche hat den Katholizismus von unten im Verlauf der Geschichte immer wieder abgewürgt und am christlichen Zeugnis gehindert (vgl. Katholizismus und Freiheit). Die gegenwärtige Schande hängt eng mit dem Klerikerstand zusammen, macht aber die Kirche insgesamt für die Menschen unglaubwürdig.

Sexualisierte Gewalt und Macht in der Kirche, so schreibt ein australischer Bischof6, sind miteinander verwoben. Ein durchgreifender Strukturwandel, eine Revision unbiblischer Priesterbilder und ein neuer, geerdeter Umgang mit Sexualität – an diesen Hausaufgaben kann sich die römisch-katholische Kirche nicht länger vorbeimogeln. Ansonsten wird sie – zumindest im europäischen bzw. westlichen Kontext – endgültig zur völligen Bedeutungslosigkeit herabsinken. Andere Kontinente werden bei den rasanten Kulturprozessen auf dem Globus ein paar Dekaden später nachfolgen.

Auszuschließen ist es nicht, dass in unseren Tagen ein ganzes Kartenhaus, das vorerst nur zittert, in sich zusammenbricht. Gebe Gott uns Romkatholiken, dass wir dann noch Freunde finden in der christlichen Ökumene und anderswo. Viele Gefährtinnen und Gefährten hat Rom uns ja schon vergrault.

Der Verfasser ist Theologe und Publizist. Im letzten Jahr hat er das Kirchenreformbuch "Die fromme Revolte – Katholiken brechen auf" veröffentlicht.