"Ausstieg aus der gesamten moralischen Geschichte"
Seite 8: Die rätselhafte Vergötzung des Priesterzölibats
- "Ausstieg aus der gesamten moralischen Geschichte"
- "Die anderen sind noch viel schlimmer"
- Schuld sind die "neuen Nazis"
- Schuld ist das letzte Konzil
- Die persönliche Verantwortung des Papstes
- Wo bleibt die theologische Betrachtung?
- Die ins Auge stechende Homophobie
- Die rätselhafte Vergötzung des Priesterzölibats
- Kultur des Stillschweigens und Wegsehens: Alle sind mitverantwortlich
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Besonders rätselhaft mutet in diesem Zusammenhang die Vergötzung des Priesterzölibats an, der in diesen Tagen sogar – was man sonst nur von der Schweizer Bischofskonferenz kennt – vom Hamburger Weihbischof und vom Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zur Diskussion gestellt wird. Der Zölibat, so betonen Theologen wie Hans Küng und Wunnibald Müller, erklärt allein nicht die sexualisierte Priestergewalt, aber er gehört mit zu ihren strukturellen Rahmenbedingungen. Dass z.B. ein zölibatärer und zugleich mit Projektionen aufgeladener Beruf auf Pädosexuelle – bewusst oder unbewusst – besondere Anziehungskraft ausübt, liegt nahe.
Theologisch ist die Angelegenheit für jeden, der halbwegs lesen und seine Gehirnzellen benutzen kann, keine schwere Frage. Jesus und Paulus betonen Ehelosigkeit als freies Charisma und kennen keine spezielle Verbindung mit Ämtern. Der erste Papst und die im Neuen Testament genannten Bischöfe sind verheiratet. So bleibt es dann bezogen auf viele Bischöfe und die allermeisten Priester im ganzen ersten Jahrtausend, bis die lateinische Kirche für ihren Bereich im Kontext von sehr weltlichen Überlegungen allen Priestern den Zölibat auferlegte (in der Kirchengeschichte hat diese gesetzliche Zwangsregelung dem zuvor freien Charisma der Ehelosigkeit sichtlich mehr Schaden als Nutzen bereitet).
Den einfachsten Beweis dafür, dass es auch für den lateinischen Ritus keine zwingenden theologischen Einwände gegen eine Revision gibt, erbringen die mit Rom unierten Ostkirchen. Sie kennen die Priesterheirat. Auch verheirateten Konvertiten gewährt der Papst den Zugang zum Priestertum.
Was in der ersten Hälfte des letzten Jahrtausends schon in satirischen Schriften gemunkelt wurde, drängt sich noch immer als Deutung auf: An der Zwangszölibatsdoktrin haften vor allem solche Kirchenleiter, die selbst aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Persönlichkeitsprofils an einer Eheschließung oder festen Partnerschaft nie Interesse gezeigt haben. Dies entspricht unter den gegenwärtigen geschichtlichen Bedingungen nur der egozentrierten Interessenpolitik einer kleinen Minderheit in der Kirche. Schon morgen könnten unzählige verwaiste Gemeinden wieder die sonntägliche Eucharistie feiern, wenn nur die ausgeschiedenen verheirateten Priester wieder ihr Amt ausüben dürften.
Und hier nun hat der Papst soeben wieder seine rigorose Verweigerung kundgetan. Er hält die obligate Ehelosigkeit der Priester für ein prophetisches Zeichen und für ein Geschenk Gottes, das er nicht dem modischen Zeitgeist opfern will.5 Nun, beschenkt wird die Kirche ja derzeit in dieser Hinsicht wirklich nicht, und echte Geschenke – schon gar die göttlichen – kann man durch Paragraphen auch nie erzwingen. Der Hintergrund ist klar. Die Ratzinger-Mannschaft verfolgt das Konzept einer kleiner werdenden Minderheitenkirche, die einen europäischen Katholizismus früherer Epochen konserviert. Dieses elitäre und von trauernden Verlustängsten angetriebene Programm versteht man als "Nichtanpassung an herrschende Verhältnisse".
Auf der Würzburger Synode (1971-1975) gab es ein Votum für die Weihe bewährter Familienväter zu Priestern, und diesen Weg hat auch der Theologe Joseph Ratzinger vor seiner konservativen Kehre für möglich erklärt. Der Glaubenssinn aller Getauften, der in der römisch-katholischen Lehre zumindest theoretisch eine zentrale Rolle spielt (leider jedoch nie erfragt wird), steht mit großer Mehrheit gegen den obligaten Priesterzölibat. Doch es bleibt dabei. Das Papstsystem entscheidet, was dem Gottesvolk gut tut.
Die verpasste Chance: Drewermanns Psychogramm des Klerikerideals
Es liegt eine große Tragik darin, dass mit Eugen Drewermanns Studie "Kleriker – Psychogramm eines Ideals" für die römisch-katholische Kirche schon 1989 Diagnose und therapeutische Perspektiven zu allen derzeit ans Licht kommenden Vorgängen vorlagen. Die Lektüre dieses Werks kann man nach zwei Jahrzehnten nur mit noch größerer Dringlichkeit empfehlen. Doch Theologen im Umfeld der mit Joseph Ratzinger verbundenen Integrierten Gemeinde hatten gegen Drewermann schon 1987 einen Häresieverdacht auf den Weg gebracht.
Joseph Ratzinger, der selbst – verglichen etwa mit Rahner – in der Theologie des 20. Jahrhunderts nicht nennenswert oft zitiert wird und an keiner Stelle eine substantielle Auseinandersetzung mit Drewermanns Werk erkennen lässt, bewertete die Theologie des Paderborner Priesters lapidar als bloße Modewelle. In Paderborn ließ er als oberster Glaubenswächter Verhöre durchführen. Der Ortsbischof sorgte dann 1991/92 auch für den Entzug der Lehrerlaubnis, Predigtverbot und Suspension vom Priesteramt. Er wusste, was man in Rom von ihm erwartete, und wurde später sogar Kardinal. So funktioniert das "in sich selbst gekrümmte", autistische System, das sich nicht helfen lassen will und durch kleine Reförmchen nicht zu heilen ist.
Kirche kann niemals Selbstzweck sein. Wer sie als Instrument der eigenen Überhöhung oder Angstsicherung betrachtet, macht sie zum Götzen. Die Kirche ist einzig und allein dazu da, um Gottes Herrlichkeit in der Welt aufscheinen zu lassen. Gottes Herrlichkeit aber, so hat es Irenäus von Lyon (ca. 135–202) auf den Punkt gebracht, scheint im lebendigen Menschen auf – und nicht etwa durch die triumphale Macht einer Organisation. Kirche Jesu, das kann nur eine Gemeinschaft sein, die mitfühlt und in der man Mitfühlen auf leibhaftige Weise lernt.