"Ausstieg aus der gesamten moralischen Geschichte"
Seite 4: Schuld ist das letzte Konzil
- "Ausstieg aus der gesamten moralischen Geschichte"
- "Die anderen sind noch viel schlimmer"
- Schuld sind die "neuen Nazis"
- Schuld ist das letzte Konzil
- Die persönliche Verantwortung des Papstes
- Wo bleibt die theologische Betrachtung?
- Die ins Auge stechende Homophobie
- Die rätselhafte Vergötzung des Priesterzölibats
- Kultur des Stillschweigens und Wegsehens: Alle sind mitverantwortlich
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Die innerkirchliche Variante des zuletzt beschriebenen Votums lautet: Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965), das seit der Ära Ratzinger ohnehin an allem und jedem die Schuld trägt, hat der Schande Tür und Tor geöffnet. Wer genau liest, findet dergleichen z.B. im jüngsten Hirtenschreiben des Papstes an die Katholiken Irlands:
Das Programm der Erneuerung, dass das Zweite Vatikanische Konzil vorgelegt hat, wurde häufig falsch gelesen; im Licht des tiefen sozialen Wandels war es schwer, die richtigen Weisen der Umsetzung zu finden. Es gab im Besonderen die wohlmeinende aber fehlgeleitete Tendenz, Strafen für kanonisch irreguläre Umstände zu vermeiden. In diesem Gesamtkontext müssen wir das verstörende Problem des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu verstehen versuchen, das nicht wenig zur Schwächung des Glaubens und dem Verlust des Respekts vor der Kirche und ihre Lehren beigetragen hat.
Auch in diesen schier unglaublichen Ausführungen werden die wahren Sachverhalte wieder ins genaue Gegenteil verdreht. Die lange Kette der vatikanischen Geheimhaltungspolitik bezogen auf die sexualisierte Klerikergewalt an Schutzbefohlenen führt geradewegs hin zu einem der größten Konzilsfeinde in der Kurie, dem Kardinal Ottaviani. Es zeichnete gerade den ultramontanen, vorkonziliaren Katholizismus aus, dass er über ein flächendeckendes autoritäres Erziehungswesen Kontrolle über den Nachwuchs in katholischen Gesellschaften ausübte.
Auf dieser Grundlage gab es im katholischen Irland einen regelrechten Apparat der Gewaltausübung, der sich systematisch gerade gegen die Ärmsten und Wehrlosesten richtete. Zwischen 1904 bis 2000 sollen – unter Berücksichtigung sadistischer Züchtigungen – über 300.000 Kinder Opfer dieses Systems geworden sein. Der alles andere als liberale irische Katholizismus sorgte auch dafür, dass bei der Vergewaltigung von Mädchen z.B. nicht die Täter, sondern die Opfer hinter Schloss und Riegel (eines "Erziehungsheims") kamen. Bei alldem eine Rezeption des II. Vatikanums anzuführen, ist absurd und geradezu boshaft.
Soviel ist gewiss: Ohne das letzte Konzil gäbe es auch bei uns die kritischen Stimmen im Zentralkomitee der Katholiken, in der Kirche von unten oder in der Bewegung Wir sind Kirche nicht, die seit langem bezogen auf die Sexualkriminalität von Priestern unabhängige Untersuchung, Aufklärung und Ursachenbekämpfung fordern.
Noch aus einem anderen Grund ist der entlastende Verweis auf das böse Reformkonzil perfide. Involviert sind nämlich gerade die reaktionärsten Kreise der Kirche. Nachdem das Gespann Woitlya/Ratzinger in Lateinamerika durch den Kampf gegen die Kirche der Armen und die Befreiungstheologie (Ratzingers Angst vor der Kirche der Armen) den Boden für ein explosives Wachstum der Neuevangelikalen bereitet hatte, sollten die Legionäre Christi das Terrain zurückerobern. Diese Ordensmiliz, die man in Lateinamerika ob ihres immensen Reichtums "Millionäre Christi" nennt und der man gewiss keine besondere Liebe zum II. Vatikanum nachsagen kann, wurde unter Johannes Paul II. auf jegliche erdenkliche Weise gefördert und setzt unter Benedikt XVI. ihre Eroberungen in der römischen Zentrale erfolgreich fort.2
Der Mexikaner Marcial Maciel, Gründer dieser Vorhut des neuen rückwärts gewandten Katholizismus, war ein gewissenloser bisexueller Priester, der sich ausgiebig als Kinderschänder betätigt hat. Auch an dieser Stelle kommt die Pädosexualität keineswegs aus der konzilstreuen Ecke.
Schließlich fragt man sich mit Blick auf den rechtskatholischen Maria-Goretti-Komplex, mit welchen Vorlieben oder Reifegraden der als Obsession betriebene Kult um "unschuldige Kinderheilige" und reine Kommunionkindchen einhergeht.
Große Milde unter zweierlei Maßstäben
In Folge der mittelalterlichen Zwei-Stände-Lehre, die aus weltlichem Machtbegehren entstanden ist und vom letzten Konzil in Frage gestellt wurde, herrscht in der Kirche noch immer eine ausgesprochene Zweiklassenmoral für Kleriker und so genannte Laien. Da Außenstehende dieses Phänomen aufgrund seiner Ungeheuerlichkeit kaum glauben können, sei es hier zumindest illustriert.
Katholiken, die nach einer von ihnen durchaus nicht immer gewollten Scheidung wieder heiraten, sind von den Sakramenten ausgeschlossen (wer dies richtig findet, kann auf der Karriereleiter bis hin zum Privatsekretär des derzeitigen Papstes aufsteigen). Ein Priester aber braucht – wie in sehr, sehr vielen der bekannt werdenden Fälle – nach sexualisierter Gewalttat gegen Kinder nur zu bereuen und darf dann – nach der Versetzung in ein neues Umfeld – wieder alle Sakramente spenden und genießen. Man kann wohl kaum in Abrede stellen, dass hier große Milde und Hartherzigkeit unter zweierlei Maßstäben walten.
Ein "Laie", der ohne Doppelleben eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft eingeht und sein glückliches Sexualleben beharrlich nicht als Sünde bekennt, ist faktisch von der Kommunion ausgeschlossen. Ein Priester, der in gleichgeschlechtliche "Unkeuschheiten" verfällt, diese aber beichtet und im Einklang mit dem obersten Lehramt als Sünden bezeichnet, unterliegt diesbezüglich keinerlei Einschränkungen.
Schließlich gibt es aber auch bei der Bestrafung von Priestern höchst unterschiedliche Maßstäbe, je nachdem, wie nah die Grundfesten des römischen Klerikersystems tangiert werden. Ein römisch-katholischer Priester, der auf dem kommenden Kirchentag in München einen Protestanten bewusst zur Kommunion zulassen würde, verlöre sofort sein Amt. Nicht so beim pädosexuellen Kleriker. Der suspendierte Priester Gotthold Hasenhüttl hat deshalb den Eindruck bekommen, "dass es weniger schlimm ist, den Holocaust zu leugnen oder Kinder zu missbrauchen, als den evangelischen Christen die Kommunion zu reichen. Dafür wird man suspendiert."3